Die weltweite Corona-Krise hat viele Staaten dazu bewegt, sanitäre Maßnahmen zu treffen, um die Bevölkerung zu schützen. In Frankreich hat sich die sanitäre Lage ab Mitte März schnell verschlechtert, sodass entsprechende Maßnahmen eingeführt wurden. Doch bedeutet dies, dass man hierbei auf wesentliche Elemente, die im Kern der Demokratie verankert sind, verzichten soll? Darf unsere Demokratie in der Not soweit hinterfragt werden, dass angesichts verfassungswidriger Gesetze die beiden Augen zugedrückt werden?
In diesem Beitrag wird anhand dreier Etappen ein Rückgang des Rechtstaats und somit auch der Demokratie in Frankreich skizziert.
Die chaotische Kommunalwahl vom 15.03.2020 und die unklare Ausgangssperre vom 16.03.2020 bilden die zwei ersten Etappen und werden in Teil 1 des Beitrags analysiert. Die verfassungswidrige Entscheidung des französischen Verfassungsrats ist die dritte Etappe und wird im Teil 2 des Beitrags erläutert.
Obwohl die Maßnahmen, die in Frankreich getroffen sind, wie jede Maßnahme in jedem Staat, schwer ohne Elemente der inneren Politik zu trennen sind, überschreiten diese politischen Elemente wie z.B. die Sozialkrise (Gelbwesten, Rentenreform, usw.) diesen juristischen Beitrag und werden deswegen hier nicht analysiert.
Die erste Etappe: die chaotische Kommunalwahl
Am 12.03.2020 hat Präsident Macron angekündigt, dass die Gesundheitskrise gravierend sei und informiert, dass Schulen ab Montag (16. März 2020) in ganz Frankreich für eine unbegrenzte Zeit geschlossen würden; zugleich empfahl er allen Bürgern, zu Hause zu bleiben, wobei er präzisierte, dass nichts gegen die Abhaltung der Kommunalwahl am 15.03.2020 spreche. Da es in Frankreich keine Briefwahl und auch keine Computerwahl per Internet gibt, wurden die Bürger veranlasst, zum Wahllokal zu gehen und nicht zu Hause zu bleiben. Diese widersprüchliche Kommunikation hat zur chaotischen Durchführung der Kommunalwahl beigetragen und die Corona-Krise sehr wahrscheinlich verschlimmert.
Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, welche Bedeutung die Wahlergebnisse haben können, weil auf Grund der Corona-Krise der Wahlkampf einiger Kandidaten noch vor dem ersten Wahlgang unterbrochen wurde und die Stimmenthaltung so hoch war wie noch nie, weil die Bürger schlicht Angst hatten, wählen zu gehen.
Das Problem spitzt sich auf demokratischer Ebene im Zusammenhang mit dem Wahlgesetz zu, denn Art. L. 56 des französischen Wahlgesetzbuchs sieht vor, dass der zweite Wahlgang am nächsten Sonntag nach dem ersten Wahlgang stattfinden soll, wenn im ersten Wahlgang keine Liste die absolute Mehrheit erreicht. Dies bedeutet, dass der zweite Wahlgang am 22.03.2020 hätte stattfinden sollen. Doch hierzu ist es nicht gekommen.
Selbstverständlich geht es nicht darum, die gravierende sanitäre Krise zu ignorieren und zu behaupten, dass der zweite Wahlgang am 22.03.2020 hätte stattfinden müssen. Das erste Problem liegt vielmehr bereits darin, dass die Kommunalwahlen nicht von vornherein verlegt wurden. Das zweite Problem ist, dass man zwischen dem ersten und dem zweiten Wahlgang das Wahlgesetz umgangen hat, sodass von einer Integrität und einer „Aufrichtigkeit“ der Kommunalwahlen, die zum Kern eines jeden Rechtstaats gehören, nicht mehr die Rede sein kann.
Diese Kritik gerät um so schärfer, als die Methode der Verlegung des zweiten Wahlgangs problematisch ist. Die Chronologie der Ereignisse macht dies noch deutlicher. So hat es nach dem ersten Wahlgang noch mehrere Stunden gedauert, bis die Regierung mit der Durchsetzungsverordnung Nr. 2020-267 vom 17.03.2020 entschied, dass der zweite Wahlgang nicht – wie eigentlich vorgesehen – am 22.03.2020 stattfinden würde. Was genau sich auch in der Zwischenzeit politisch abspielte, und ob eventuell auch die Wahlergebnisse des ersten Wahlgangs die Entscheidung der Regierung, das Wahlverfahren zu modifizieren, beeinflusst haben, geht über das Thema dieses Beitrags hinaus. Was jedoch klar festgestellt werden kann, ist dass die Durchsetzungsverordnung Nr. 2020-267 gegen Art. L. 227 des Wahlgesetzbuchs verstößt, wonach der Wahltermin mindestens drei Monate vor dem ersten Wahlgang festgelegt werden soll.
Ferner wird im Rahmen des sanitären Ausnahmezustandsgesetz Nr. 2020-290 vom 23.03.2020 diesmal per Gesetz der zweite Wahlgang verlegt, was auch wieder nichts an der chaotischen Lage ändert. Auf einer Seite werden die Ergebnisse des ersten Wahlgangs vom 15.03.2020 für Listen, die schon eine absolute Mehrheit erreicht haben, als endgültig anerkannt, während auf der anderen Seite der Status der Ergebnisse vom 15.03.2020 für Listen, die keine absolute Mehrheit erreicht haben, unsicher bleibt. Sollte der zweite Wahlgang spätestens im Juni 2020 stattfinden, könnte der zweite Wahlgang an die Ergebnisse des ersten Wahlgangs anknüpfen. Andernfalls wären die zwei Wahlgänge neu zu organisieren. Da die zwei Wahlgänge nicht unabhängig voneinander sind, bleibt die erstgenannte Lösung problematisch. Denn nur Listen, die mindestens 10% der abgegebenen Stimmen im ersten Wahlgang erreicht haben, dürfen zum zweiten Wahlgang zugelassen werden. Egal welche Entscheidung nun getroffen wird, kann schwerlich behaupten werden, dass der Wahlkampf vor dem ersten Wahlgang im März und noch mehr seit dem 16.03.2020 von der Corona-Krise unbeeinflusst geblieben wäre.
Die zweite Etappe: die unklare Ausgangssperre vom 16.03.2020
Gemäß Art. L. 3131-1 des französischen Gesundheitsgesetzes liegt die Kompetenz im Kampf gegen das Corona-Virus beim Gesundheitsministerium. Hiernach können alle präventiven Maßnahmen – auch solche, die zur Einschränkung der Bewegungsfreiheit führen – getroffen werden.
Das Problem liegt nicht darin, dass vom Gesundheitsgesetz Gebrauch gemacht wurde, sondern darin, dass mangels eindeutiger Definitionen Unsicherheit herrscht, welche Bewegungen noch erlaubt sind. Zwar hat die Regierung am 16.03.2020 fünf Ausnahmefälle bestimmt, in denen man sich mit einem ehrenwörtlichen Attest bewegen darf. Die in ganz Frankreich einheitliche Ausganssperre hat jedoch aufgrund der unzureichenden Definition dieser Ausnahmen nicht nur zur Missverständnissen, sondern auch zu willkürlichen Situationen und Sanktionierung mit Bußgeldern geführt. Ferner kann kritisiert werden, dass die Polizisten dienstlich gezwungen wurden, ohne Mundschutz zu arbeiten und z.B. vor einem Supermarkt zu kontrollieren, was die Leute einkaufen und ob es sich hierbei um Grundnahrungsmitteln handelt, obwohl solche Grundnahrungsmitteln ebenfalls nicht definiert worden sind.
Sowohl die chaotische Kommunalwahl als auch die unklare Ausgangsperre haben zum Rückgang der Demokratie beigetragen. Diese Lage hat sich jedoch noch weiter mit dem Inkrafttreten des verfassungswidrigen Gesetzes vom 30.03.2020 zugespitzt (siehe Teil 2 des Beitrags).
Zitiervorschlag: Geoffrey Juchs, Bericht eines beängstigenden Rückgangs der Demokratie in Frankreich – Von der chaotischen Kommunalwahl am 15.03.2020 bis zum Inkrafttreten des verfassungswidrigen Gesetzes vom 30.03.2020 (Teil 1), JuWissBlog Nr. 62/2020 v. 23.04.2020, https://www.juwiss.de/60-2020/.
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[…] man sich in dem ersten Teil des Beitrags mit der Kommunalwahl und der unklaren Ausgangssperre auseinandergesetzt hat, wird das Inkrafttreten […]