Von der demokratischen zur technokratischen Unionsverwaltung?

von PHILIPP LINDERMUTH

Philipp_LindermuthSeit der Ankündigung der Kommission im Weißbuch Europäisches Regieren im Jahr 2001, für einen besseren Vollzug des Unionsrechts vermehrt unabhängige Verwaltungseinrichtungen einzusetzen, überträgt der Unionsgesetzgeber den Vollzug neuer Verwaltungsbereiche in der Regel nicht mehr der Kommission oder ihren Ausschüssen, sondern jenen unabhängigen Verwaltungsträgern mit rechtlich festgelegter eigener Rechtspersönlichkeit und selbständigen Administrativaufgaben, für die sich in der Literatur der Sammelbegriff der Regulierungsagenturen herausgebildet hat und die die Union mittlerweile als dezentrale Agenturen bezeichnet. Nach der Zählweise der Kommission bestehen derzeit 32 dezentrale Agenturen, die ungefähr 7000 Bedienstete beschäftigen und 2011 737 Mio Euro aus dem EU-Haushalt erhielten.

Neben der quantitativen Zunahme dezentraler Agenturen ist auch ein qualitativer Wandel ihrer Aufgaben zu beobachten. Wurden sie in der Vergangenheit hauptsächlich für die Kommission beratend tätig, kommen ihnen zunehmend selbständige Verwaltungsbefugnisse zu. Neben der Vorbereitung und inhaltlichen Determinierung von Unionsrechtsakten, bei der die Entscheidungsautonomie der Unionsorgane zu einem bloßen Genehmigungsvorbehalt reduziert wird, “1treffen sie für den Rechtsunterworfenen verbindliche Entscheidungen“2 „oder setzen abstrakte technische Standards.“3 „Einen vorläufigen Höhepunkt dieser Entwicklung stellen die Befugnisse der Europäischen Finanzmarktaufsichtsbehörden dar, die ein Finanzinstitut zu Maßnahmen, bis hin zur Einstellung jeglicher Tätigkeit, verpflichten können.“4

Den weitreichenden Befugnissen dezentraler Agenturen steht ein Mangel an demokratischer Kontrolle gegenüber. Weder ist eine Fachaufsicht durch die Kommission noch die parlamentarische Verantwortlichkeit der Agenturorgane vorgesehen. An die vereinzelt in den Gründungsverordnungen vorgesehenen Anhörungsrechte des Europäischen Parlaments und korrespondierende Unterrichtungs- und Rechenschaftspflichten der Agenturorgane knüpfen keine Konsequenzen.

Das Erfordernis der demokratischen Legitimation außenwirksamer Agenturbefugnisse

Der Gerichtshof der Union lehnt ein outputorientiertes Demokratiemodell, das den Sachverstand der Entscheidungsträger als eigenständigen Legitimationsmechanismus anerkennt, ab: „Eine fachliche Legitimation reicht aber nicht aus, um die Ausübung von Hoheitsgewalt zu rechtfertigen.“ Daher kann die fachliche Expertise allein keine demokratische Legitimation vermitteln. Vielmehr erfordert das supranationale Modell dualer demokratischer Legitimation, dass jegliches außenwirksame Handeln der Unionsorgane an die Legitimationssubjekte der Mitgliedstaaten und der Unionsbürger rückgebunden wird. Dabei wird die Legitimation über den Rat als Vertretung der Mitgliedstaaten und das Europäische Parlament als Vertretung der Unionsbürger vermittelt.

Wie der EuGH in seinem Urteil zu den nationalen Datenschutzbeauftragten klargestellt hat, setzt das europäische Demokratieprinzip keine hierarchische Kontrolle der Verwaltung im Rahmen von Weisungs- und Aufsichtsrechten voraus. Allerdings muss die Rückbindung an die Legitimationssubjekte dann auf andere Weise gewährleistet werden. Zentrale Legitimationsmechanismen bilden die Sekundärrechtsbindung, die das Organhandeln an den Willen des Unionsgesetzgebers bindet, sowie die gerichtliche Überprüfbarkeit, die die Konformität mit dem Unionsrecht ex post gewährleistet.“5 “ Neben dieser sachlich-inhaltlichen Bindung dienen Bestellungsrechte der Organwalter durch die unmittelbar legitimierten Organe der personell-organisatorischen Legitimation, während dem Haushaltsrecht eine faktische Steuerungswirkung auf inhaltlicher Ebene zukommen kann. Diese Legitimationsmechanismen müssen in einer Gesamtschau einen hinreichend effektiven Zurechnungszusammenhang zwischen der Ausübung von Hoheitsgewalt und den legitimierenden Repräsentativorganen sicherstellen.

Die demokratische Legitimation außenwirksamer Agenturbefugnisse

Sofern individuell-konkrete Entscheidungsbefugnisse der gerichtlich voll überprüfbaren Sekundärrechtsbindung unterliegen, ist der demokratische Legitimationszusammenhang zum Unionsgesetzgeber in ausreichender Weise gewahrt. Fraglich ist in diesem Zusammenhang, wie Ermessensspielräume dezentraler Agenturen zu beurteilen sind. In der Rechtssache Meroni und der Folgerechtsprechung qualifizierte der Gerichtshof die Übertragung von Entscheidungsbefugnissen durch die Kommission an vertragsfremde, privatrechtliche Einrichtungen unter Ausübung von „freiem Ermessen“ als unzulässig. Im Hinblick auf die demokratische Legitimität ist dies konsequent, da die sachlich-inhaltliche Rechtsbindung und gerichtliche Kontrolldichte im Umfang des Ermessensspielraums zurückgenommen sind. Demnach dürfen individuell-konkrete Entscheidungsbefugnisse an vertragsfremde Einrichtungen nur übertragen werden, wenn die rechtlichen Grundlagen objektive Tatbestandsmerkmale vorsehen, die die Entscheidung auf die rechtliche Beurteilung ihres Vorliegens beschränken.

Diese Judikaturlinie ist aber nicht uneingeschränkt auf die Entscheidungsbefugnisse dezentraler Agenturen zu übertragen. Die Aufgabenprivatisierung durch die Kommission an eine privatrechtliche Einrichtung, wie sie der Rs. Meroni zu Grunde liegt, stellt hinsichtlich des legitimatorischen Zurechnungszusammenhangs eine andere Konstellation dar als die gesetzliche Aufgabendelegation innerhalb der unionalen Eigenverwaltung.

Die Gründungsverordnungen der dezentralen Agenturen legen die wesentlichen Kompetenzen sowie die Organisationsstruktur der dezentralen Agenturen fest, während die materiellen sekundärrechtlichen Grundlagen ihr außenwirksames Verwaltungshandeln determinieren. Beurteilungsspielräume kommen ihnen nur hinsichtlich der sachverständigen Beurteilung in ihrem Tätigkeitsbereich zu. In derartigen Konstellationen, in denen die Entscheidung der Agentur „das Ergebnis komplexer Beurteilungen auf […] wissenschaftlichen Gebieten […] ist“, erweitert der Gerichtshof auch seinen Prüfumfang und prüft die Annahmen der Agentur vollumfänglich auf ihre sachliche Richtigkeit, Vollständigkeit und Plausibilität. Somit ist das Ermessen der Agentur auf die wissenschaftliche und technische Beurteilung beschränkt, ansonsten besteht eine sachlich inhaltliche Bindung unter der nachprüfbaren Kontrolle des Gerichtshofs. Insofern sind Fälle der gesetzlichen Übertragung wissenschaftlicher Beurteilungsspielräume auf dezentrale Agenturen auch nicht mit dem „freien Ermessen“ der Meroni-Rechtsprechung vergleichbar. Unzulässig wäre dahingegen die Übertragung politischer Ermessensentscheidungen, die im Ausgleich widerstreitender Interessen bestehen, da diese den Legislativorganen vorbehalten sind und sich der Prüfumfang des Gerichtshofs auf offensichtliche Fehler beschränkt.

Die Anbindung an die demokratisch legitimierten Primärrechtsorgane wird darüber hinaus auch auf andere Weise hergestellt. So hat die Besetzung der Leitungsorgane dezentraler Agenturen durch die Kommission und die Mitgliedstaaten personell-organisatorische Legitimationswirkung und der Entlastung des Haushalts durch das Parlament kommt eine Steuerungswirkung auf sachlich-inhaltlicher Ebene zu.

Nicht zuletzt fördern auch strukturelle Gründe die demokratische Legitimation des Agenturhandelns. Dezentrale Agenturen stellen einerseits selbst Netzwerkstrukturen dar, in denen Vertreter der Unionsorgane und der Mitgliedstaaten die Organe der Agentur bilden. Besonders deutlich tritt dies in der Binnenorganisation der Agenturen jüngeren Datums hervor. Bei der Energieagentur ACER und den Finanzmarktaufsichtsbehörden EBA, ESMA und EIOPA werden die Mitglieder eines der beiden strategischen Leitungsorgane, des Verwaltungsrats, von Unionsorganen ernannt, während sich die Mitglieder des anderen, des Regulierungsrats bzw. des Rats der Aufseher, aus den Führungskräften der jeweiligen nationalen Regulierungsbehörden zusammensetzen. Andererseits werden dezentrale Agenturen häufig in kooperative Regelungsstrukturen eingebunden, in denen entweder der Agentur Mitwirkungs- und Kontrollrechte in nationalen Administrativverfahren zukommen oder umgekehrt nationale Fachbehörden an Administrativerfahren auf Unionsebene mitwirken, in denen dezentralen Agenturen die rechtliche oder faktische Entscheidungshoheit zukommt. Dezentrale Agenturen sind somit Teil kooperativer Regelungsstrukturen, in denen die Partizipation der Mitgliedstaaten und der Primärrechtsorgane legitimitätsstiftend wirken und das Legitimationsniveau der Agenturentscheidung heben.

Grenzen der Kompetenzübertragung auf dezentrale Agenturen

Dahingegen ist die Übertragung von Rechtsetzungsbefugnissen an dezentrale Agenturen unzulässig. Diese bedürfen der unmittelbaren Legitimation durch primärrechtliche Verankerung und sind den gesetzgebenden Organen nach den primärrechtlich vorgesehenen Verfahren vorbehalten. Selbiges gilt für die Übertragung generell-abstrakter Durchführungsbestimmungen zu Sekundärrechtsakten. Der EuGH qualifizierte die sekundärrechtliche Delegation generell-abstrakter Durchführungsbestimmungen an die Kommission gem ex-Art. 202 3. Spiegelstrich EGV als Ausnahmebestimmung zu den Legislativkompetenzen des Parlaments und des Rats, der abschließender Charakter zukomme, und schloss andere Formen nicht primärrechtlich verankerter Rechtsetzungsbefugnisse aus. Auf Grund der feineren Differenzierung exekutiver Rechtsetzungsbefugnisse in den Art. 290 und 291 AEUV muss der andere Rechtsetzungsbefugnisse ausschließende Ausnahmecharakter umso mehr nach der aktuellen Rechtslage gelten.

Fazit

Die Menge und Komplexität von Verwaltungsgegenständen erfordert auch auf Unionsebene die fachliche Spezialisierung und Unabhängigkeit gegenüber politischer Einflussnahme. Die wesentlichen Inhalte des Vollzugsprogramms dezentraler Agenturen finden sich aber in den normativen Vorgaben und sind der gerichtlichen Überprüfbarkeit zugänglich. Die inhaltliche Bindung und gerichtliche Kontrolldichte sind nur im Umfang der sachverständigen Beurteilung zurückgenommen. Somit schafft der unionale Ansatz der Ausgliederung den Spagat zwischen notwendiger Technisierung und hinreichender demokratischer Legitimation.

  1. “ z. B. die Vorbereitung verbindlicher Entscheidungen der Kommission durch Gutachten der Europäischen Arzneimittel-Agentur (Ema): Art 5 ff VO 726/2004/EG zur Festlegung von Gemeinschaftsverfahren für die Genehmigung und Überwachung von Human- und Tierarzneimitteln.“ []
  2. „z. B. die Eintragung einer Gemeinschaftsmarke in das Markenregister durch das Harmonisierungsamt für den Binnenmarkt (Ohim): Art 9, 39 VO 207/2009/EG über die Gemeinschaftsmarke.“ []
  3. „z. B. die Erlassung von Zulassungsspezifikationen und zulässige Nachweisverfahren durch die Flugsicherheitsagentur, die den Stand der Technik abbilden: Art 19 Abs 2 Easa-VO.“ []
  4. “ Vgl die Beschlüsse der Europäischen Bankenaufsichtsbehörde (Eba), Art 17 Abs 6 VO 1093/2010/EU zur Errichtung einer Europäischen Aufsichtsbehörde (Europäische Bankenaufsichtsbehörde), zur Änderung des Beschlusses Nr. 716/2009/EG und zur Aufhebung des Beschlusses 2009/78/EG der Kommission.“ []
  5. “ Vgl. zu diesem institutionellen Gesetzesvorbehalt implizit EuGH, Rs C-518/07.“ []
Demokratie, Demokratiemodell, EU, Europa, Kooperation, Koordination, Legitimation, österreichische Assistententagung, Philipp Lindermuth, Regulierunsagentur, Technokratie, Verwaltung, Verwaltungsecht
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