Professur für Öffentliches Recht und ADR, Hochschule Fulda
von RAPHAELA HABERLER
Am gestrigen Sonntag schloss sich der Vorhang der 10. Herbsttagung des Netzwerks Migrationsrechts. In turbulenten Zeiten hatten die Teilnehmer*innen naturgemäß einen außerordentlichen Bedarf an intensiven Diskussionen über die Dynamiken, die sich in den europäischen Einwanderungsgesellschaften augenblicklich entfalten. Wie angekündigt wird der JuWiss-Blog in dieser Woche in Form von Interviews und dem einen oder anderen inhaltlichen Beitrag über einige der Konferenzthemen berichten. Den Auftakt zu dieser Reihe gibt Prof. Dr. Anna Lübbe, die in Hohenheim zur aktuellen Reform des Dublin-Systems referierte und sich im Vorfeld den Fragen von Raphaela Haberler stellte.
Seit 2015 haben in Europa besonders viele Menschen einen Antrag auf internationalen Schutz vor Verfolgung gestellt. Die Frage der Zuordnung von Flüchtlingsverantwortung innerhalb der Europäischen Union erlangte dadurch ausgesprochene Aktualität. Welche Kriterien können bei dieser Entscheidung eine Rolle spielen?
Die Frage der Zuordnung von Flüchtlingsverantwortung hat nicht nur innerhalb der EU große Aktualität. Die EU versucht seit jeher, und jüngst verstärkt mit dem EU-Türkei-Deal und anvisierten weiteren „Migrationspartnerschaften“, Flüchtlingsverantwortung nach außerhalb Europas abzuwälzen. Bis global mehr verteilungsgerechte Kooperativität zustande kommt, wird der Allokationskonflikt weiterhin kompetitiv und auf dem Rücken der Flüchtlinge ausgetragen. Für Kooperationen in Sachen Asylallokation lassen sich in der Tat einige Prinzipien identifizieren, die im Recht auch bereits vielfach angelegt sind, und an denen Allokationsabsprachen sich orientieren sollten, wenn sie denn human, solidarisch und effizient sein wollen.
Das Mindeststandardprinzip besagt, dass niemand einem Staat zugeordnet werden darf, in dem für ihn unzumutbare Zustände herrschen. Das Erreichbarkeitsprinzip dient der Vermeidung des refugee in orbit und besagt, dass niemand einem Staat zugeordnet werden darf, der für ihn nicht erreichbar ist. Das Verbindungsprinzip besagt, dass Schutzsuchende mit Sonderverbindungen zu bestimmten Staaten, z.B. familiärer Art, vorrangig dorthin zugeordnet werden sollten. Das Effizienzprinzip besagt, dass die Zuordnungsfrage möglichst rasch und unaufwendig geklärt werden sollte. Das Lastenteilungsprinzip schließlich besagt, dass die Zuordnung von Schutzsuchenden zu Staaten verteilungsgerecht sein sollte. Bis auf das Lastenteilungsprinzip dienen diese Prinzipien auch der Bewältigung fluchtassoziierter humanitärer Problemlagen, die bei freier Asylwahl weitgehend durch die Betroffenen selbst reguliert werden. Flüchtlinge versuchen, möglichst rasch neu anzukommen (Effizienzprinzip), tendieren dazu, unzumutbare Orte zu vermeiden (Mindeststandardprinzip) und solche Orte anzusteuern, denen sie sich besonders verbunden fühlen (Verbindungsprinzip). Können sie einen bestimmten Ort nicht erreichen, suchen sie ihren Schutz notfalls woanders (Erreichbarkeitsprinzip). Je mehr die Zuordnung von Schutzsuchenden zu Staaten mit Zwang verbunden ist, desto aufwendiger wird die Bewältigung dieser Problemlagen, bzw. desto inhumaner das Allokationssystem, wenn es die Prinzipien ignoriert.
In der EU wurde zur Regelung der Zuordnung das ‚Dublin-System‘ etabliert. In welchem Verhältnis stehen die genannten Prinzipien dabei zueinander und welche Auswirkungen hat dies?
Das Dublin-System hat sich bisher statt an den genannten Prinzipien hauptsächlich am Ersteintrittsprinzip orientiert, und ich behaupte, dass es daran gescheitert ist. Das Ersteintrittsprinzip hat als Zuordnungsprinzip in der Zwangsmigration keinerlei Plausibilität und Rechtfertigung. Es dient dem Abwälzungsinteresse der fluchtquellferner gelegenen Staaten. Eine angemessene Lastenteilung kommt dadurch nicht zustande, und es kollidiert auch mit den anderen genannten Prinzipien. Das Erreichbarkeitsprinzip ist das einzige, das im Dublin-System (bisher, ausweislich der Reformabsichten würde sich das ändern) gut implementiert ist. Dem Mindeststandardprinzip hat der EGMR mit seiner M.S.S.-Entscheidung zu mehr Beachtung in der europäischen Asylallokation verholfen. Das Verbindungsprinzip ist durch die eng gefassten familiären Kriterien recht eng berücksichtigt und sollte aus Gründen der Humanität und der Effizienz gestärkt werden. Effizient realisieren lassen hat sich die Zuordnung im Dublin-System bekanntlich nicht. Sie wurde sowohl von den Ersteintrittsstaaten als auch von den Schutzsuchenden boykottiert, fiel von Anfang an, und verstärkt unter der Krise, dem Vollzugsdefizit anheim und hat sich im Übrigen zum bürokratischen Wasserkopf des Asylverfahrens entwickelt.
Welche Argumente würden für eine stärkere Berücksichtigung der Zuordnungsinteressen von Antragsteller*innen sprechen?
Humanität und Effizienz. Je mehr ein Zuordnungssystem die Zuordnungsinteressen der Betroffenen ignoriert, desto inhumaner wird es und desto mehr wird es mit Irregularitäten – Weiterwanderungen, behördliche und gerichtliche Mehrfachbefassungen, Gang in die Illegalität – zu kämpfen haben. Je mehr man in der Zuordnungsfrage auf eine verfahrensgerechte Weise mit den Schutzsuchenden kooperiert und sich darum bemüht, ihre Zuordnungsinteressen wenigstens so weit wie möglich zu berücksichtigen, desto mehr kooperieren auch die Schutzsuchenden und könnten Potentiale, die sie mitbringen, identifiziert und entfaltet werden. Eine stärkere Berücksichtigung der Zuordnungsinteressen der Antragsteller*innen ist auch integrationspolitisch sinnvoller.
Aktuell wird an einer Neufassung der Dublin-Verordnung gearbeitet. Wie ist der vorliegende Entwurf für Dublin IV mit Blick auf das Verbindungsprinzip zu bewerten?
Auf den ersten Blick könnte man meinen, dass der Entwurf das Verbindungsprinzip stärkt, weil er den zuordnungsrelevanten Familienbegriff erweitert. Außerdem enthält Dublin IV das, was ich in der Reformdiskussion als „stetigen Verbindungsverteiler“ gefordert habe: Wenn Staaten nach Maßgabe des neuen Relocation-Mechanismus überlastet sind, wird ihre Verantwortlichkeit qua Ersteintrittskriterium ausgesetzt, hinsichtlich der Verbindungskriterien – Familie und Abhängigkeit – bleiben sie weiterhin im Verteiler. Das alles ist – einmal abgesehen von der bürokratischen Komplexität des ganzen Konzepts – an und für sich zu begrüßen, aber auch hier gilt wieder: Es geht nicht nur um die Zuordnung innerhalb Europas. Man muss den Dublin IV-Entwurf im Zusammenhang mit den „Migrationspartnerschaften“ und dem Entwurf für eine Asylverfahrensverordnung sehen. Die neue europäische Asylstrategie ist, dass irregulär ankommende Schutzsuchende künftig nach Möglichkeit an außereuropäische „sichere“ Transitstaaten, mit denen Migrationspartnerschaften etabliert worden sind, zurückgereicht werden und die Flüchtlingsverantwortung dort übernommen wird. Ließe sich das nicht nur mit der Türkei, sondern auch auf anderen Fluchtrouten realisieren, könnten, so die Idee, Flüchtlinge hauptsächlich regulär und in kontrollierbarem Umfang in Europa aufgenommen werden, über Kontingentaufnahmen.
Diese Rückverweisungsstrategie ist vor allem im Hinblick auf die Zustände in den außereuropäischen Zielstaaten kritisiert worden (Mindeststandardprinzip), sie drängt aber auch das Verbindungsprinzip zurück: Die Dublin-Kriterien kämen kaum noch zur Anwendung, denn zuvor müssten die Mitgliedstaaten – bisher durften sie das – nach Maßgabe der geplanten Asylverfahrensverordnung irregulär angekommene Antragsteller*innen in die Mobilitätspartnerstaaten zurückschicken. Und bei dieser Allokationsentscheidung zwischen Europa und dem Rest der Welt soll keinerlei Rücksicht darauf genommen werden, ob und welche familiären Verbindungen die Betroffenen zu Europa haben. Die bisher einer solchen Praxis entgegenstehende Verbindungsklausel in Art. 38 der Asylverfahrensrichtlinie (wonach Wegverweisungen an „sichere Drittstaaten“ eine Verbindung zwischen Schutzsuchendem und Zielstaat voraussetzen, die es vernünftig erscheinen lässt, dass er seinen Schutz dort bekommt und nicht hier) ist im Entwurf der Asylverfahrensverordnung so geändert worden, dass künftig der bloße Transit als eine Sonderverbindung gilt, welche die vorrangige Zuordnung zum Transitstaat rechtfertigt – eine offenkundige Fehlkonkretisierung dessen, was „vernünftig erscheint“, erst recht, wenn die Betroffenen Familie in Europa haben.
Wie ließe sich eine nachhaltige Zuordnung von Flüchtlingsverantwortung erreichen?
Eine ideale Lösung für das Allokationsproblem gibt es derzeit, unter der Bedingung sehr ungleich attraktiver Asylstaaten, leider nicht. Alle Vorschläge – freie Asylwahl, „Dublin light“, Quotenvarianten, europäische Freizügigkeit für Anerkannte, Elemente stärkerer Zentralisierung – haben Vor- und Nachteile. Die lastenteiligeren sind als Zwangszuordnungssysteme weniger human und bürokratischer, die humaneren und effizienteren sind weniger lastenteilig und jedenfalls derzeit politisch nicht durchsetzbar. Globale Ansätze zu mehr Kooperativität in Sachen Verantwortungsallokation sind leider gerade erst, im September auf dem UN-Gipfel in New York, wieder auf die lange Bank geschoben worden. Das Ziel muss aber bleiben, die enormen Ressourcen, die derzeit in den kompetitiven Umgang mit Zwangsmigration fehlinvestiert sind – in Abgrenzungspraktiken und Lager, in denen Flüchtlinge langfristig perspektivlos gehalten werden -, umzuleiten in ein System, das die Genfer Konvention proaktiver ins Werk setzt. Verbindlicher Ausbau des Resettlement, qualitative Lastenteilungskonzepte, Matching-Systeme, ein zentral aktivierbarer, verlässlicher Überlastungsschutzmechanismus, Anreize statt Zwang und Sanktionen… das können Schritte in die richtige Richtung sein.