Von HANNES RATHKE
Im Januar legte David Cameron das britische Selbstverständnis der künftigen Mitgliedschaft Großbritanniens in der Europäischen Union dar. Seiner Rede schlug prompt eine Welle des Kopfschüttelns entgegen. Doch die Aussagen des britischen Premierministers lassen sich kaum als typisch britische Euroskepsis abtun. Vielmehr setzen sie sich mit dem Zustand des europäischen Integrationsprojektes auseinander und zeigen – ebenso wie die vielfältigen Vorschläge für eine Zukunft der Europäischen Union – einen Weg für seine künftige Entwicklung auf. Dies freilich fernab eines integrationspolitischen „Mainstreams“. Man muss die skizzierten Ideen nicht teilen. Und sie sind gefährlich. Cameron etabliert vor der Drohkulisse einer britischen Volksabstimmung eine Strategie des „change it or leave it“. Ruft Cameron damit Geister, die er nicht mehr loswerden kann?
Britain´s comfort zone
Cameron skizziert in seiner Rede ungewohnt freimütig und deutlich den Zweck der britischen Mitgliedschaft in der EU – ein radikal binnenmarktfunktionales Verständnis des europäischen Integrationsprojektes: “Our participation in the single market, and our ability to help set its rules is the principle reason for our membership of the EU”. Auf dieser raison d´être der britischen EU-Mitgliedschaft aufbauend formuliert er fünf Prinzipien einer britischen “EU-Comfort Zone“, die einer „neuen Europäischen Union“ zugrunde liegen sollen: (1) Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Rechtsordnung durch Ausbau des Binnenmarktes und Effektivierung des europäischen Entscheidungsrahmens; (2) Flexibilität, um die Eigenheiten der Mitgliedstaaten zu bewahren und nicht in einer nach Harmonisierung strebenden „immer engeren Union” aufgehen zu lassen; (3) Rückführung von Kompetenzen der EU auf die Mitgliedstaaten; (4) Verstärkung der demokratischen Verantwortung durch die nationalen Parlamente und (5) Fairness, dass Projekte der Eurozone zur vertieften Integration nicht den gemeinsamen Binnenmarkt beeinträchtigen.
Die Cameron-Strategie macht Ernst mit einer Absage an ein europäisches “we the people”, eine Art von United States of Europe. Selbst der derzeitige Stand der Integration scheint nicht unantastbar. Dabei irritiert Camerons Aussage, es sei notwendig, dass die britische Bevölkerung endlich ihren Willen über das europäische Integrationsprojekt zum Ausdruck bringen kann: “People feel that the EU is heading in a direction that they never signed up to. […] Put simply, many ask “Why can´t we just have what we voted to join – a common market? […] They see Treaty after Treaty changing the balance between Member States and the EU. And note they were never given a say”. Eine integrationspolitisch bemerkenswerte Aussage! Bedeutet das im Umkehrschluss, dass das Handeln der britischen Vertreter bei den bisherigen Vertragsänderungen gar nicht vom britischen Volk legitimiert war – entsprechend den Argumenten der Streiter für Volksabstimmungen über grundlegende Entwicklungen in der Europäischen Union?
Plébiscite de tous les jours?
Das Primärrecht stellt Instrumente zur Verwirklichung von Camerons Strategie des “change it or leave it” zur Verfügung. Die vertragliche Grundordnung der „Vertragsunion souveräner Staaten“ kann durch Ausdehnung oder Verringerung der der Union übertragenen Zuständigkeiten im Wege ordentlicher Vertragsänderungen im Konsens aller Mitgliedstaaten neu justiert werden (Art. 48 Abs. 2–5 EUV). Daneben stellt Art. 50 EUV nunmehr unzweideutig fest, dass es jedem Mitgliedstaat frei steht, aus der Vertragsunion auszuscheiden. Aus deutscher Sicht wäre gerade dies die ultima ratio, würde sich die Wirtschafts- und Währungsunion in einer gegen unantastbare Kerngehalte der integrationsfesten Verfassungsidentität verstoßenden Weise fortentwickeln.
Die Notwendigkeit eines “Change” scheint weniger auf einer solchen Fortentwicklung als vielmehr auf der gefühlten Rechtswirklichkeit der britischen Bevölkerung zu beruhen. Dies wirft die Frage nach den Grenzen staatlicher Integrationsfähigkeit allgemein bei völkerrechtlichen Verträgen und insbesondere im Kontext der EU auf. Camerons Aussagen lassen auf ein Integrationsverständnis schließen, wonach die tatsächliche Weiterentwicklung der Union nicht mehr von der britischen Zustimmung, wie sie in den bisherigen Integrationsschritten und dem primärrechtlichen Rahmen zum Ausdruck kommt, abgedeckt ist. Cameron bewertet diese Frage also anders als das Bundesverfassungsgericht, das bislang stets davon ausgegangen ist, dass die Entwicklungen der Union noch von den deutschen Integrationsermächtigungen abgedeckt seien.
Sicherlich, ein Fundament der europäischen Integration ist das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung. Ohne dieses Prinzip und die – durch Vertragsänderungen bedingte – Statik des Primärrechts wäre aus Sicht des Grundgesetzes eine Übertragung staatlicher Hoheitsrechte auf einen Staatenverbund verfassungsrechtlich unverantwortbar. Auch die deutsche Teilhabe an der europäischen Integration bleibt stets gebunden und begrenzt durch Grad und Umfang der staatlichen Integrationsermächtigung.
Angesichts 27 unterschiedlicher Verfassungsordnungen gibt es keinen gemeineuropäischen Rahmen für die Grenzen der staatlichen Integration im europäischen Staatenverbund. Doch erscheint die in Camerons Rede anklingende Notwendigkeit einer aktualisierten demokratischen Legitimation, gar einer Zustimmung de tous les jours für Handlungen der EU innerhalb ihrer vertraglichen Ermächtigungen, denen ja auch Großbritannien zugestimmt hat, widersprüchlich. Ist nicht auch der britischen Zustimmung zu den Unionsverträgen eingeschrieben, dass mit der eigenständigen Willensbildung der Unionsorgane gerechnet werden muss und dass eine Integrationsermächtigung immer nur ein Programm umreißen kann, in dessen Grenzen eine politische Entwicklung stattfindet? Diese kann aber nicht in jedem Punkt vorherbestimmt sein. Für die Bundesrepublik hat das BVerfG das in der Lissabon-Entscheidung ein solches Integrationsverständnis deutlich gemacht [BVerfGE 123, 267 (351)].
Mind the Gap
Unterstellt, Camerons Ansinnen beruht nicht nur auf innenpolitischen Motiven, sondern (auch) auf rechtlichen Notwendigkeiten: Auch bei einem strikt binnenmarktfunktionalen Verständnis des europäischen Integrationsprojektes sind die europäischen Grundfreiheiten und Grundrechte der Unionsbürgerinnen und -bürger das Leitmotiv jeder mitgliedstaatlichen Kooperation. Als genuin europäische Freiheitsgewinne bilden sie die „unantastbare europäische Verfassungsidentität“ der Unionsrechtsordnung, stehen nicht zur Disposition des europäischen „pouvoir constituant“ und setzten so Camerons Idee eines „Change“ Grenzen, weil sich dieser nur im Konsens mit allen Mitgliedstaaten verwirklichen lässt. Und aus deutscher Sicht steht einem Zurechtstutzen der EU mit all ihren Kompetenzbereichen und bürgerlichen Freiheitsgewinnen auf einen besseren EWR die Verpflichtung des „europarechtsfreundlichen“ Grundgesetzes gemäß Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG auf das Staatsziel der europäischen Integration entgegen. Insoweit mobilisiert die Integrationsverantwortung auch gegen eine Mitwirkung an einer den status quo wesentlich unterschreitenden Entsupranationalisierung der EU. Ohne Konsens aller Mitgliedstaaten für das von Cameron radizierte Änderungsprogramm beschränkte sich die Alternativität der Strategie des „change it or leave it“ letztlich auf das Austrittsszenario des Art. 50 EUV.