Menschenrechte und Rechtssicherheit in Europa

von ELISA RAVASI

Elisa RavasiMan kann behaupten, dass die Menschenrechte in Europa – besonders in der EU – ausreichend geschützt sind. Das ist aber nicht zwingend der Fall. Das parallele Bestehen zweier europäischer rechtsprechender Instanzen führt zu schwerwiegenden Rechtssicherheitsbedenken. Eine strukturelle Reform der Verhältnisse zwischen EGMR und EuGH – und allgemein zwischen der EU und der EMRK – ist dringend nötig.

In Europa wird die Einhaltung der Menschenrechte von zwei unterschiedlichen Instanzen überwacht: dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Strassburg und dem Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) in Luxemburg. Beide Gerichtshöfe fällen rechtsverbindliche Urteile,1 dennoch sind sie weder auf prozeduraler noch institutioneller Ebene verbunden oder gar komplementär. Einige Schnittstellen bestehen aber: Alle Mitgliedsstaaten der EU sind auch Vertragsparteien der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK). Und obwohl die Zuständigkeitsbereiche beider Institutionen sich materiell, personell und territorial unterscheiden, decken sie sich punktuell, nämlich in Fällen von Grundrechtsverletzungen bei der Anwendung EU-Rechts durch EU-Mitgliedstaaten. Die parallele Existenz der zwei Gerichte ist potentiell mit verschiedenen Problemen und Gefahren verbunden.

Gefahr sich widersprechender Rechtsprechung

Seit den siebziger Jahren hat die EU graduell die EMRK in ihr Recht integriert. Heute ist sie im EU-Recht mehrfach anerkannt: Einerseits mit dem ausdrücklichen Verweis in Art. 6 Abs. 3 EUV sowie in Art. 52 Abs. 3 und Art. 53 Charta der Grundrechte der EU; andererseits mit der Praxis des EUGH, auf die Rechtsprechung des EGMR zu verweisen und sich daran zu halten. Daneben stützt sich der EuGH bei der Herausbildung und Gewährleistung der Menschenrechte auch auf andere Grundlagen als die EMRK, insbesondere auf allgemeine Grundsätze des Unionsrechts und auf das primäre Vertragsrecht. Der EGMR hingegen ist allein für die Auslegung und Anwendung der EMRK und ihrer Protokolle zuständig (Art. 32 EMRK). Er ist an keine andere Rechtsprechung formell gebunden, obwohl er bei Fällen, welche EU-Besonderheiten betreffen, das EU-Recht berücksichtigt2. Vor diesem Hintergrund wird die Gefahr inkohärenter Rechtsprechung im Menschenrechtsbereich offenbar, was die Mitgliedsstaaten mit widersprüchlichen Verpflichtungen konfrontieren würde. In der Tat hängt die Bewahrung der Kohärenz der Menschenrechte in Europa ausschliesslich vom Wohlwollen der beiden europäischen Gerichtshöfe ab. Dieses drückt sich einerseits mit der gegenseitigen Berücksichtigung der Rechtsprechung durch den EGMR und den EuGH und andererseits mit den regelmässigen informellen Treffen zwischen dem EGMR und dem EuGH aus3. Diese Kooperation ist aber formell keineswegs gesichert. Aus der Praxis sind schon zwei Fälle bekannt, in denen der EuGH die ähnlich gelagerten Fälle restriktiver als der EGMR entschied4. Eine verbindliche Regelung zur Vermeidung von Rechtsprechungskonflikten ist folgerichtig unabdingbar.

Schwierige Urteilsvollstreckung

Aus der Gefahr rechtsverbindlicher, sich widersprechender Urteile ergibt sich das Dilemma für die EU-Mitgliedsstaaten, kontradiktorischen Verpflichtungen Folgen zu leisten. In der Tat sind sie sowohl an EU-Recht als auch an die EGMR-Entscheide (Art. 46 Abs. 1 EMRK) gebunden. Erfordert die Vollstreckung des EGMR-Urteils dem Grunde nach eine Änderung von EU-Recht, ist der Einbezug von Dritten (EU-Institutionen und weiteren EU-Mitgliedsstaaten) unabdingbar. Das kann Anlass für heikle Verhandlungen und Interessenskonflikte sein, welche die Berichtigung der EMRK-Verletzung verkomplizieren und verlängern. Als Vorbild für diese Problematik gilt die Einführung von Wahlen für das Europäische Parlament im zwischen Grossbritannien und Spanien umstrittenen Gebiet Gibraltar nach einem entsprechenden Urteil des EGMR. Nach jahrelangen erfolgslosen Verhandlungen zur Änderung des entsprechenden EU-Primärrechts erließ Grossbritannien einseitig einen Nationalakt zur Einführung von Wahlen in Gibraltar. Die Krise zwischen Spanien und Grossbritannien eskalierte, bis ein Urteil des EuGH die Notwendigkeit der von Grossbritannien unternommenen Schritte anerkannte und guthieß. Sieben Jahre vergingen insgesamt zwischen dem EGMR-Urteil und seiner endgültige Vollstreckung.

Verantwortungsasymmetrie

Mit dem Beitritt zur EMRK haben sich die Staaten zur Einhaltung derselben verpflichtet und sich der Rechtsprechung des EGMR unterworfen. Im Rahmen des Prozesses der europäischen Integration haben die EU-Mitgliedsstaaten mehr und mehr hoheitliche Kompetenzen der EU übertragen. Somit kam das Auseinanderwachsen der EMRK und des EU-Rechts zu Stande. Implizit haben die Mitgliedsstaaten die Verantwortung in den übertragenen Bereichen gegenüber der EMRK der EU überlassen. Die EU hat aber diese nicht formell übernommen, da sie immer noch vom EMRK-Apparat getrennt ist. Sie ist kein Mitglied der EMRK und kann vor dem EGMR nicht Beklagte sein. Das führt offensichtlich zu einer Asymmetrie zwischen Kompetenzen und Verantwortungen und einem Auseinanderfallen der Zuständigkeit ratione personae und ratione materiae des EGMR. Schlussendlich hat dieses verdoppelte und formell unkoordinierte Justizsystem in Europa einen lückenhaften Schutz der Menschenrechte und mangelhafte Rechtssicherheit zur Folge und das zu Lasten der EU-Bürger und ohne Konsequenzen für die Mitgliedsstaaten.

Beitritt als Lösung

Im Laufe der Zeit haben beide Gerichtshöfe Wege zur Vermeidung von Konflikten entwickelt. Während der EuGH die Entscheide des EGMR grundsätzlich berücksichtigt und regelmässig darauf verweist, hat der EGMR in seiner Rechtsprechung einige Regeln zur Behandlung von Beschwerden gegen auf EU-Recht gestützte nationale Akte und Unterlassungen entwickelt. Um die Spannung einerseits zwischen der Förderung und der Beachtung der internationalen Zusammenarbeit – insbesondere im Rahmen der EU – und andererseits dem Menschenrechtsschutz und der Bewahrung eigener Kompetenz zu lösen, hat der EGMR im berühmten Bosphorus-Urteil das Prinzip des gleichwertigen Grundrechtschutzes und der offensichtlichen Konventionsverletzung gegründet, welchem die Vermutung der Konventionskonformität des EU-Rechts zugrunde liegt. Diese widerlegbare Vermutung gilt sowohl als Vertrauensäußerung als auch als Ermahnung zur Verantwortung gegenüber der EU und dem EuGH5.

Diese Escamotage bieten eine Zwischenlösung, aber eine strukturelle Reform zur Beseitigung dieser Inkohärenzen wird mit der zunehmenden Übertragung von Kompetenzen der Mitgliedsstaaten zur EU trotzdem immer zwingender. Ein Beitritt der EU zur EMRK würde einen gewichtigen Beitrag zur Klärung der Verhältnisse zwischen EUGH und EGMR und somit zur Rechtssicherheit bei der Ahndung von Menschenrechtsverletzungen in Europa leisten. Nach über 30 Jahren politischer und juristischer Diskussionen ist seine tatsächliche Verwirklichung also weiterhin höchst wünschenswert.

  1. Art. 46 EMRK bindet die Vertragsparteien an die Rechtsprechung des EGMR und Art. 266 AEUV in Verbindung mit Art. 4 Abs. 3 und Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV verpflichtet die Mitgliedsstaaten den Urteilen des EuGH Folge zu leisten. []
  2. Beispielsweise anerkannte der EGMR den speziellen Charakter der EU-Bürgerschaft im Rahmen eines Falles zum Migrationsrecht und lehnte eine Verletzung des Diskriminierungsverbots – Art. 14 EMRK in Verbindung mit Art. 8 EMRK – ab; EGMR, Rs. 12313/86, Moustaquim gegen Belgique, vom 18. Februar 1991, §49, EGMR, Rs. 21794, C. gegen Belgique, vom 7. August 1996, § 38. []
  3. Eines dieser Treffen wurde insbesondere der Frage des Verhältnisses zwischen EGMR und EuGH gewidmet: Gemeinsame Mitteilung der Präsidenten des EGMR und der EuGH im Anschluss an das Treffen der beiden Gerichte im Januar 2011. []
  4. Diese Abweichungen betreffen einerseits das Aussageverweigerungsrecht im Fall der Selbstbelastung (Art. 6 EMRK) [Vergl. EuGH, Rs. C-374/87, Orkem, Slg. 1989 mit EGMR, Rs. 10828/84, Funke, vom 25. Februar 1993] und andererseits das Recht auf Achtung des Privatlebens und seine Anwendung auf Geschäftsräume (Art. 8 EMRK) [Vergl. EuGH, Rs. C-46/87, Hoechst, Slg. 1989 mit EGMR, Rs. 13710/88, Niemietz, vom 16. Dezember 1992]. []
  5. Presentation of Vassilios Skouris, President of the Court of Justice of the European Communities, in: European Court of Human Rights (Hrsg.): Dialogue between judges. Fifty Years of the European Court of Human Rights viewed by its fellow international courts, Strassburg 2009, 29- 43, S. 39. []
Beitritt, EGMR, Elisa Ravasi, EMRK, EU, EuGH, Europarecht, Menschenrechte, Rechtsprechung, Rechtssicherheit
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