von LUISA LEHNING
Wie ein Blick in nationales Recht (Art. 3 Abs. 3 GG, § 7 i. V. m. § 1 AGG), Europarecht (Art. 21 GRCh) und Völkerrecht (Art. 14 EMRK, Art. 2 AEMR) zeigt, knüpfen Diskriminierungsverbote regelmäßig an vermeintliche Kategorien wie Geschlecht, Religion oder Behinderung an. Parallel zur Debatte um den Begriff der „Rasse“ in Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG soll im Folgenden am Beispiel der Behinderung gezeigt werden, dass diese Kategorien sozial konstruiert sind und auf Stigmatisierungen beruhen, die im geltenden Antidiskriminierungsrecht reproduziert werden.
Der durch kategorial ausgestaltete Normen erweckte Eindruck, Menschen ließen sich in homogene Gruppen einteilen, führt dazu, dass mehrdimensionale Diskriminierungen und unsichtbar gemacht werden und Differenzen zwischen den vermeintlichen Gruppen festgeschrieben werden. „Frauen“ sind aber beispielsweise weder von „Muslim*innen“, noch von „Menschen mit Behinderung“ abzugrenzen. Eine muslimische Frau macht andere Diskriminierungserfahrungen als eine christliche Frau mit Behinderung. Um adressiert werden zu können, müssen strukturelle Ungleichheiten jedoch rechtlich verankert sein. Diese Aufgabe erfüllen Kategorien, indem sie Betroffenen die Möglichkeit geben, ihre Unrechtserfahrungen einzuordnen. Dass dadurch gleichzeitig die anzugreifenden benachteiligenden Strukturen widergespiegelt werden, führt zu einem „Dilemma der Differenz“.
Postkategoriale Lösungsansätze
Durch ein postkategoriales Antidiskriminierungsrecht, eingeführt in die deutschsprachige Literatur von Susanne Baer und aufgegriffen unter anderem durch Ulrike Lembke und Doris Liebscher, wird versucht, dieses Dilemma aufzulösen. Das heißt allerdings nicht, dass auf Kategorisierungen gänzlich verzichtet werden soll. Ziel ist es, nicht mehr nur Individuen bzw. Gruppen in den Fokus zu nehmen, sondern deren Diskriminierung in gesellschaftliche Zusammenhänge einzuordnen. Anstatt auf vermeintlich einer Person anhaftende unverfügbare „Merkmale“ oder darauf beruhende „Gründe“ zu rekurrieren, müssen im Antidiskriminierungsrecht dazu gesellschaftlich geschaffene, stigmatisierende Kategorisierungen adressiert werden. Der Begriff der Kategorisierung betont, im Unterschied zu dem der Kategorie, die soziale Konstruiertheit und Zuschreibung von außen: Diskriminiert wird nicht „wegen“ oder „aufgrund“ des „Geschlechts“, der „Rasse“ oder der „Behinderung“. Diskriminierungen sind vorherrschenden sexistischen, rassistischen oder ableistischen Hierarchisierungsprozessen immanent und deshalb sollte Antidiskriminierungsrecht auch an die so entstandenen Herrschaftsverhältnisse anknüpfen. Die Annahme unterschiedlicher gesellschaftlicher Ausgangspositionen und daran angepasste differenzierenden Regelungen gehen einher mit der Entwicklung von einem formellen zu einem materiellen Gleichheitsverständnis. Im deutschen Rechtssystem stellt sich diese in Form der rechtlichen Anerkennung von mittelbarer Diskriminierung und von positiven Maßnahmen (vgl. § 5 AGG, Art. 3 Abs. 2 Satz 2 GG) dar.
Vom medizinischen zum menschenrechtlichen Modell von Behinderung
Das ausschließlich an von der Norm abweichende geistige und körperliche Voraussetzungen anknüpfende, ursprünglich vorherrschende medizinische Modell der Behinderung wurde im Rahmen der Behindertenbewegungen der 1960er und 1970er Jahren in den USA und Westeuropa in Frage gestellt. Daraus ging in den 1980er Jahren ein soziales Modell von Behinderung hervor. Demnach beruht eine Behinderung nicht auf individuellen körperlichen Eigenschaften, sondern entsteht durch gesellschaftliche Strukturen und Barrieren für die Teilhabe am öffentlichen Leben. Dieses Modell wurde durch das weiterentwickelt, welches auf einem Verständnis von Behinderung als sozialer Konstruktion und von Menschenrechten als universal aufbaut. Es geht damit, wie ausführt, über ein Antidiskriminierungsgebot hinaus und berücksichtigt Behinderung als staatlich geschützten Teil persönlicher Identität. Das menschenrechtliche Modell liegt dem Verständnis von Menschen mit Behinderung in der UN-Behindertenrechtskonvention als „Menschen, die langfristige körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, welche sie in Wechselwirkung mit verschiedenen Barrieren an der vollen, wirksamen und gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft hindern können“ (Art. 1 Abs. 2 BRK) zugrunde, an dem sich auch die sozialrechtliche Definition von Menschen mit Behinderung in § 2 Abs. 1 SGB IX orientiert.
Behinderung als Frau
Wird für die Feststellung einer Behinderung nicht an das Individuum und dessen Körper, sondern an gesellschaftlich geschaffene und etablierte Normvorstellungen angeknüpft, können dafür auch beispielsweise mit dem Geschlecht verbundene Rollenerwartungen relevant werden. Das zeigt eine Entscheidung des Bundessozialgerichts (zuletzt bestätigt durch das SG Dresdenin der der vollständige Haarverlust bei Frauen als Behinderung i. S. d. § 33 Abs. 1 Satz 1 SGB V i. V. m. § 2 Abs. 1 SGB IX anerkannt wurde. Laut Gericht ginge damit zwar keine Beeinträchtigung körperlicher oder geistiger Fähigkeiten einher, eine Frau ohne Haare ziehe aber „‚naturgemäß‘“ erhöhte Aufmerksamkeit auf sich, was es ihr „erschwert oder gar unmöglich macht, sich frei und unbefangen unter den Mitmenschen zu bewegen“. Dadurch sei ihre gesellschaftliche Teilhabe beeinträchtigt. Diesem Ansatz ist mit Minou Banafsche zuzustimmen, da die Beeinträchtigung der Teilhabe und damit die Annahme einer Behinderung auf gesellschaftlichen Erwartungen an das Aussehen einer Frau beruht. Diese müssen zwar abgebaut werden, das unterliegt aber nicht der individuellen Verantwortung. Da die Behinderung aus dem Geschlecht der betroffenen Person abgeleitet wird, zeigt der Fall der weiblichen Haarlosigkeit, dass Kategorisierungen und damit einhergehende Gruppierungen keineswegs trennscharf voneinander abzugrenzen sind, sondern sich viel mehr schon in ihrer Konstruktion gegenseitig bedingen.
Ein Verbot ableistischer Diskriminierung
Der postkategoriale Ansatzpunkt, anstelle eines Verbots von Diskriminierung bzw. Benachteiligung „aufgrund der Behinderung“ ein Verbot ableistischer Diskriminierung zu normieren, ist eine Möglichkeit, diese Entwicklung ins Antidiskriminierungsrecht zu übertragen. Zwar bedarf auch der Begriff des Ableismus einer juristischen Definition, aber dafür kann und sollte auch auf Wissensstände der Disability Studies zurückgegriffen werden. Im Unterschied zum Begriff der „Behindertenfeindlichkeit“ umfasst Ableismus nicht nur Denk- und Handlungsmuster im Verhältnis zu Menschen mit Behinderung, sondern die tatsächlichen Verhältnisse und sozialen Strukturen, die diese Verhaltensweisen mit hervorrufen, wie z. . mangelnde Barrierefreiheit in öffentlichen Räumen. Ausgangspunkt sind somit weder die Fähigkeiten des diskriminierten Individuums noch die Intention der diskriminierenden Person. Ganz im Sinne des Identitätsschutzes sollten zudem Perspektiven und Diskriminierungserfahrungen betroffener Personen in einem postkategorialen Diskriminierungsrecht verstärkt Berücksichtigung finden (harm principle).
Postkategorialität als Prozess
Antidiskriminierungsrecht, ob kategorial oder postkategorial, kann seinem Anspruch nur durch eine flexible Handhabung unter Einbeziehung sozialwissenschaftlicher Erkenntnisse gerecht werden. In diese Richtung weisen beispielsweise der Beschluss des Bundesverfassungsgerichts zur sog. Dritten Option und offen ausgestaltete Antidiskriminierungskataloge wie Art. 14 EMRK („oder eines sonstigen Status“). Wie postkategoriale Überlegungen im Rahmen ansonsten kategorial ausgestalteter Normen fruchtbar gemacht werden können, zeigt auch § 2 des Berliner Landesantidiskriminierungsgesetz (LADG), in dem unter anderem die Diskriminierung aufgrund rassistischer und antisemitischer Zuschreibungen verboten wird und durch die Verwendung des Wortes „sowie“ die Mehrdimensionalität von Diskriminierungen anerkannt wird. Der postkategorialen Kritik kann und soll aber nicht „nur“ durch eine Umformulierung der Diskriminierungskataloge begegnet werden. Vielmehr bedarf es einer stetigen interdisziplinären Auseinandersetzung und Datenerhebung, die über die juristische Methodik der vermeintlich eindeutigen Definition und Subsumtion hinausgeht. Postkategorialität ist ein Prozess, kein Zielzustand.
Zitiervorschlag: Lehning, Luisa, Ableismus statt Behinderung: Für ein postkategoriales Antidiskriminierungsrecht, JuWissBlog Nr. 45/2022 v. 29.07.2022, https://www.juwiss.de/45-2022/.
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