Bis vor einigen Jahren fristete Staatenlosigkeit ein relativ unbeachtetes Dasein im internationalen Menschen- und Flüchtlingsrechtsdiskurs – im Vordergrund stand seit jeher die bedeutend besser ausgebaute Schutzkategorie des Flüchtlings. Jüngst rückte jedoch das Phänomen der Staatenlosigkeit dank vielfältiger zivilgesellschaftlichen Initiativen, z.B. das European Network on Statelessness (ENS), sowie der groß angelegten #IBelong Kampagne des UNHCR, welches sich die Beseitigung von Staatenlosigkeit bis 2024 zum Ziel gesetzt hat, vermehrt in den Fokus. Das wachsende Interesse am komplexen Zusammenspiel von Staatenlosigkeit, Flüchtlingsrecht und Grundrechtsschutz gilt es nun zu nutzen, um antidiskriminierungsrechtliche Perspektiven zu stärken und damit auf einen besseren Schutz staatenloser Personen hinzuwirken.
Phänomen Staatenlosigkeit – eine Annäherung
Mit Staatenlosigkeit wird gemeinhin ein faktisch-rechtlicher Zustand beschrieben, in dem ein Mensch keine Staatsangehörigkeit besitzt und es ihm nicht möglich ist, eine solche – sei es aus rechtlichen oder faktischen Gründen – zu erlangen. In Art. 1 (1) des UN-Übereinkommens über die Rechtsstellung der Staatenlosen vom 28. September 1954 wird eine staatenlose Person als “a person who is not considered as a national by any State under the operation of its law” definiert. Gemäß Schätzungen des UNHCR sind weltweit mehrere Millionen Menschen staatenlos. Zusätzlich ist die Dunkelziffer als sehr hoch einzustufen, zumal betroffene Menschen i.d.R. staatlicher Zugriffe entbehren und somit in den Statistiken weitgehend unsichtbar bleiben. Fest steht jedenfalls, dass die Anzahl Staatenloser vor dem Hintergrund aktueller Entwicklungen wie der Anstieg bewaffneter Konflikte oder die Klimakrise kontinuierlich zunimmt, vgl. etwa die Rohingya in Myanmar oder die Klimaflüchtlinge der Pazifikstaaten. Das Phänomen der Staatenlosigkeit ist jedoch nicht neu, sondern stellt eine gewissermaßen systemisch inhärente Anomalie innerhalb des modernen Nationalstaaten-Systems dar. Zahlenmässig und rechtspolitisch besonders bedeutsam waren Fälle von Staatenlosigkeit bereits im 20. Jahrhundert im Zuge der Umsiedlungs- und Fluchtbewegungen im Kontext des 2. Weltkrieges oder imperialer sowie dekolonialer Grenzziehungen.
Schnittstellen zwischen Flüchtlingsrecht und Staatenlosigkeit
Staatenlosigkeit und Flucht hängen insofern seit jeher zusammen, sind oftmals Ursache oder Folge voneinander, weshalb viele staatenlose Personen zugleich die Flüchtlingseigenschaft erfüllen. Ein Blick in die gemeinsame Entstehungsgeschichte der UN-Übereinkommen zur Stellung von Flüchtlingen und Staatenlosen verdeutlicht diesen engen Zusammenhang: So wurde bei der Ausarbeitung der Convention Relating to the Status of Refugees (Refugee Convention) von 1951 aus strategischen Gründen die ebenfalls sehr drängende Frage der Staatenlosigkeit bewusst zugunsten einer schnellen politischen Einigung in der Flüchtlingsfrage ausgeklammert.
Menschenrechtlicher Rahmen
Die beiden UN-Übereinkommen Convention relating to the Status of Stateless Persons 1954 (Stateless Convention) und die Convention on the Reduction of Statelessness 1961 bilden gemeinsam das völker- und menschenrechtliche Fundament für den Schutz von staatenlosen Personen. Das Recht auf eine Staatsangehörigkeit bzw. eine solche zu erlangen ist in Art. 15 UDHR und Art. 7 CRC sowie weiteren Übereinkommen (European Convention on Nationality 1997, Council of Europe Convention on the Avoidance of Statelessness in relation to State Succession 2006; Protocol to the African Charter on Human and Peoples Rights on the Specific Aspects of the Right to a Nationality and the Eradication of Statelessness in Africa) verankert und stößt insofern international auf breite Akzeptanz. Das Recht auf eine Staatsangehörigkeit bildet in einer nationalstaatlich organisierten Welt eine wichtige Voraussetzung für die Ausübung und Wahrnehmung von Grund- und Menschenrechten. Dies betrifft u.a. den Zugang zum Recht auf Bildung, Gesundheit, Wohnen, Arbeit, soziale Sicherheit, Eigentum, Bewegungsfreiheit und politische Rechte. Das Fehlen einer Staatsangehörigkeit – Staatenlosigkeit – geht daher mit einer grundlegenden strukturellen Ungleichheit für betroffene Menschen einher, welche mit vielen Unsicherheiten und Diskriminierungen verbunden ist.
Es bestehen somit spezifisch zwei Schutzschienen für staatenlose Personen: die Anerkennung als staatenlose Person und das Recht auf eine Staatsangehörigkeit. Eine weitere Schutzmöglichkeit bietet aufgrund der bereits beschriebenen Nähe beider Schutzkategorien das Flüchtlingsrecht: Staatenlosigkeit stellt gemäss Art. 1A (2) Refugee Convention ein starkes Indiz – wenn auch kein hinreichendes oder notwendiges Element – für die Anerkennung als Flüchtling dar.
Im Gegensatz zum Flüchtlingsrecht bestehen aber in der Gesetzgebung und Praxis zur Staatenlosigkeit eklatante Lücken hinsichtlich des Zugangs zum rechtlichen Schutz (via Anerkennung) als staatenlose Person sowie Recht auf eine Staatsangehörigkeit. In den meisten Jurisdiktionen fehlen prozedurale Vorgaben, welche die Vorgehensweise für die Einforderung dieser menschenrechtlich verbürgten Rechte im Einzelfall regeln. Somit stellt die Schutzkategorie der Staatenlosigkeit letztlich eine bloß theoretische Möglichkeit dar und wird dementsprechend praktisch kaum eingeklagt. Zudem bleibt auch bei anerkannter Staatenlosigkeit das Schutzniveau i.d.R. hinter demjenigen des Flüchtlingsstatus zurück. Die Anerkennung als staatenlose Person wird daher meist nur subsidiär in Fällen, in denen kein flüchtlingsrechtlicher Schutz geltend gemacht werden kann, in Betracht gezogen.
Schutzlücken aufdecken durch die antidiskriminierungsrechtliche Perspektive
Der Schutz staatenloser Personen, oft Flüchtlinge, gestaltet sich zusammenfassend in vielerlei Hinsicht als sehr schwierig und komplex. Um der Vielschichtigkeit des Phänomens der Staatenlosigkeit gerecht zu werden, bietet sich eine antidiskriminierungsrechtlich sensibilisierte Perspektive an, welche eine theoretisch fundierte Verbindung von methodischen und inhaltlichen Zugängen ermöglicht (Stichwort: Intersektionalität). Eine intersektionale Analyse kann auf diese Weise Schutzlücken aufdecken, welche andernfalls unbeachtet blieben.
Nicht überraschend besteht zwischen Staatenlosigkeit und dem Vorliegen von Mehrfachdiskriminierungen ein signifikanter Zusammenhang: letztere werden durch die Staatenlosigkeit entweder verschärft oder gar verursacht. Auch ist der Zugang zur rechtlichen Anerkennung als staatenlose Person und dem damit verbundenen Schutz für mehrfach diskriminierte Personen ungleich schwieriger. Besonders häufig von Staatenlosigkeit betroffen sind somit ohnehin schon vulnerable Personengruppen: geflüchtete Menschen, die etwa bereits in 2. oder 3. Generation in einem Flüchtlingslager (bspw. im kenianischen Dadaab) leben oder Menschen, die aufgrund einer geschlechterdiskriminierenden familienrechtlichen Regelung keine Staatsbürger*innenschaft erlangen können (siehe hier), wobei v.a. Kinder überproportional vertreten sind. Der Entzug der Staatsbürger*innenschaft als punitive sicherheitspolitische Maßnahme betrifft ebenfalls mehrheitlich Personen, die einer Minderheit oder sozial benachteiligten Gruppe angehören.
Fazit
Somit gibt es weltweit unzählige (staatenlose) Personen, deren Lebensrealitäten weder durch die Flüchtlings- noch Staatenlosenkategorie erfasst und geschützt werden. Dabei werden sie gegenüber Personen mit Staatsangehörigkeit oder Flüchtlingsstatus in erheblicher und diskriminierender Weise bei der Wahrung und Ausübung ihrer Menschenrechte benachteiligt. Daher gilt es, intersektionale antidiskriminierungsrechtliche Zugänge und Ansätze im Umgang mit Staatenlosigkeit zu stärken. Nur so wird die Komplexität des Phänomens der Staatenlosigkeit, welches nur im Zusammenspiel mit anderen diskriminierungsrechtlich relevanten Faktoren begriffen werden kann, berücksichtigt.
Zitiervorschlag: Wujohktsang, Youlo, Staatenlosigkeit und Antidiskriminierungsrecht, JuWissBlog Nr. 44/2022 v. 28.07.2022, https://www.juwiss.de/44-2022/.
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