Grundrechte, so steht es schon in Art. 14 EMRK, sind ohne Diskriminierung, «sans distinction aucune», zu gewährleisten. Dies gilt auch und unbedingt für die Versammlungsfreiheit, die für die politische Auseinandersetzung von unschätzbarer Bedeutung ist. Inwiefern die Rechtswirklichkeit hier noch keineswegs den Anforderungen entspricht, wird im Folgenden anhand eines Beispiels aus der Schweiz illustriert.
Zwei politische Versammlungen und eine polizeiliche Intervention
Am 21. September 2020 besetzten Klima-Aktivist*innen den Berner Bundesplatz und forderten eine wirksame Klimapolitik. Trotz Art. 6 Abs. 1 des Berner Kundgebungsreglements, der während der parlamentarischen Sessionen ein allgemeines Kundgebungsverbot vorsieht, wurde der Platz erst nach knapp zwei Tagen durch die Polizei geräumt. Während die Besetzung am Nachmittag des 22. September andauerte, fand eine ebenfalls unbewilligte Demonstration für menschenwürdige Wohnverhältnisse von Geflüchteten des #StopIsolation-Kollektivs statt. In der Schweiz benötigen Demonstrationen grundsätzlich eine Bewilligung. Findet eine Demonstration ohne Bewilligung statt, darf aber nur nach den verwaltungs- und polizeirechtlichen Grundsätzen, insbesondere der Verhältnismäßigkeit, interveniert werden.
Die #StopIsolation-Demonstration wurde von Anfang an eng von der Polizei begleitet. Als die Demonstrant*innen schliesslich versuchten, zum Bundesplatz zu gelangen, wurden sie mit Pfefferspray, Gummischrot und einem Wasserwerfer davon abgehalten, bis sich die Polizei nach mehreren Stunden ohne weitere Massnahmen zurückzog – just in dem Moment, als eine Gruppe von Klima-Aktivist*innen der Bundesplatzbesetzung dazustossen wollte. Die Gründe für den Rückzug bleiben ungeklärt – in ihrer Medienmitteilung schreibt die Berner Kantonspolizei – anders als die anwesenden Journalist*innen – dass «die letzten Gruppierungen mit einem gezielten Mitteleinsatz aufgelöst werden konnten».
Institutioneller Rassismus?
Die einzigartige Situation, in der sich der Umgang der Behörden mit zwei unabhängig geplanten politischen Versammlungen im öffentlichen Raum quasi zeitgleich mitverfolgen ließ, ist für die Reflexion rechtlicher Regulierung von Kundgebungen und Demonstrationen äußerst wertvoll. Während die Besetzung des symbolisch wohl wichtigsten Platzes der Schweiz von auf den ersten Blick mehrheitlich weißen, gut gebildeten und finanziell privilegierten Jugendlichen und jungen Erwachsenen für einmal zunächst unbehelligt stattfinden konnte, wurde nur ein paar Hundert Meter entfernt eine Demonstration von hauptsächlich BIPoC – darunter viele abgewiesene Asylsuchende mit prekärem Aufenthaltsstatus – mit unverhältnismäßiger Polizeigewalt davon abgehalten, zur anderen Kundgebung zu gelangen. Obwohl es bisher nur beschränkt Untersuchungen über Rassifizierung und soziale Herkunft von Klima-Aktivist*innen gibt und international darauf verwiesen wird, dass die Wirklichkeit komplexer ist als das Narrativ der weißen, privilegierten Gymnasiast*innen, kann aufgrund erster Analysen und einschlägiger Medienberichte davon ausgegangen werden, dass die Klimabewegung auch von den Berner Behörden im Sinne dieses Narrativs eingeordnet wurde.
Eine Berner Stadtpolitikerin schilderte auf Social Media folgende Szene am Rande der Auseinandersetzungen: Sie fragte einen der anwesenden Polizist*innen, warum sie – im Unterschied zu anderen Demonstrant*innen – mehrmals unbehelligt die Polizeisperren passieren konnte. Die Antwort war: «Weil Du von hier bist.» Im Nachgang der Demonstration wurden die Polizeibehörden von Bürgerrechtsorganisationen dann auch für die Ungleichbehandlungen der beiden Versammlungen kritisiert und institutioneller Rassismus moniert.
Diskriminierungsrechtliche Leerstellen in den Rechtswissenschaften…
Auch wenn anekdotische Schilderungen konkreter Vorfälle immer subjektive sind und nur beschränkt Erkenntniswert bieten, können sie Problematiken offensichtlich machen, die in den sich selbst reproduzierenden disziplinären Mechanismen sonst eher verdeckt bleiben. So verweisen sie hier exemplarisch auf die Leerstellen in den Rechtswissenschaften im Bereich (qualifizierter) Ungleichheit und Demokratie. Leerstellen, die uns als Jurist*innen daran hindern, die komplexe Realität angemessen rechtlich zu verorten, und es so zulassen, diskriminierende Strukturen im Recht zu perpetuieren. Um hier sinnvoll rechtlich zu intervenieren, müssen wir die Verknüpfung von rechtlich regulierter politischer Partizipation mit dem verfassungsrechtlichen Diskriminierungsbegriff, die sich materiell manifestiert, auch im juridischen Diskurs nachvollziehen.
Auf internationaler Ebene werden Verpflichtungen der UNO-Mitgliedstaaten in Bezug auf spezifische Ungleichheitsstrukturen wie beispielsweise Rassifizierung und Vergeschlechtlichung im Hinblick auf die politische Partizipation explizit kodifiziert: Art. 5 lit. c des Internationalen Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung vom 21. Dezember 1965 (CERD; SR 0.104) und Art. 7 des Übereinkommens zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau vom 18. Dezember 1979 (CEDAW; SR 0.108) verpflichten die Vertragsstaaten, konkrete Vorkehrungen zur Beseitigung dieser Strukturen zu treffen. Das gilt auch für die in Art. 20 Nr. 1 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte , Art. 21 des Internationalen Paktes für bürgerliche und politische Rechte (UN-Pakt II) und Art. 11 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) gewährleistete Versammlungsfreiheit. Letztere vermittelt dabei einen bedingten Anspruch auf die Nutzung öffentlicher Sachen für politische Kundgebungen und Demonstrationen. Als konstitutives Element der Demokratie wird die eminente Bedeutung der Versammlungsfreiheit auch von Gerichten regelmäßig betont, währenddessen politische Versammlungen durch Polizeigesetze immer stärker eingehegt werden.
Die staatliche Position gegenüber Kundgebungen und Demonstrationen ist entsprechend ambivalent: Der Staat ist auf den politischen Protest als Teil demokratischer Prozesse angewiesen, um eine längerfristige Legitimation zu gewährleisten; gleichzeitig hat dieser Protest das Potenzial, auf transformatorische Perspektiven zu verweisen, die die herrschenden Verhältnisse und damit auch die Existenzberechtigung der Staatsgewalt infrage stellen. In ihren Anmerkungen zu einer performativen Theorie der Versammlung schreibt Judith Butler entsprechend, dass die «‹Versammlungsfreiheit› genau das Recht schützt, das, wenn es kollektiv ausgeübt würde, den Staat selbst zu Fall bringen könnte»; und dass sie damit «eine Grundvoraussetzung von Politik selber sein kann, einer Politik die davon ausgeht, dass Körper sich in nicht regulierter Weise bewegen und versammeln können, indem sie ihre politischen Forderungen in einem Raum inszenieren, der dadurch öffentlich wird oder ein bestehendes Verständnis des Öffentlichen neu definiert.» (Butler 2016, 208 f.)
…und ihre Konsequenzen
Genau diejenigen herrschenden Verhältnisse, die durch die Versammlungsfreiheit infrage gestellt werden können, sind für das Verständnis von Gleichheit entscheidend. So dienen sie dem Schweizer Bundesgericht explizit als Maßstab für die Beurteilung, wann für eine rechtliche Gleich- bzw. Ungleichbehandlung ein vernünftiger Grund vorliegt: Die Frage, ob für eine rechtliche Unterscheidung ein vernünftiger Grund in den zu regelnden Verhältnissen ersichtlich ist, kann zu verschiedenen Zeiten unterschiedlich beantwortet werden, je nach den herrschenden Anschauungen und Verhältnissen.
Die Zuerkennung von Möglichkeiten der Beteiligung funktioniert also auch im Recht über eben diese Verhältnisse. Der geschilderte Fall veranschaulicht die existenzielle Dimension der Diskriminierungsproblematik: Abgewiesene Asylsuchende verbringen Jahre ihres Lebens ohne die Möglichkeit institutioneller Formen politischer Beteiligung. Werden sie nun – nur weil sie von einem der wenigen Rechte Gebrauch machen, das ihnen trotzdem ein Gehörtwerden in der politischen Öffentlichkeit ermöglicht – von staatlicher Seite mit Gewalt konfrontiert, verdoppelt das ihre Marginalisierung als politische Akteur*innen. Aus rechtlicher Perspektive ist das deswegen relevant, weil diese Art der Unterscheidung – das racial profiling einer ganzen Demonstration – dem verfassungsrechtlichen Rechtsgleichheitsprinzip fundamental zuwiderläuft. Ein individualisierendes Diskriminierungsverbot reicht offensichtlich nicht aus, um diese Ungleichbehandlung zu verhindern – nötig ist eine vertiefte, insbesondere auch rechtswissenschaftliche Analyse rechtlicher Regulierungen und politischer Entscheidungsprozesse von politischen Versammlungen hinsichtlich ihrer diskriminierender Wirkung. Einen Ausgangspunkt bieten dabei bereits existierende Analysen wie «Rasse im Recht – Recht gegen Rassismus. Genealogie einer ambivalenten rechtlichen Kategorie» von Doris Liebscher oder «Racial Profiling. Struktureller Rassismus und antirassistischer Widerstand» von Mohamed Wa Baile, Serena O. Dankwa, Tarek Naguib, Patricia Purtschert und Sarah Schilliger (Hg.)
Zitiervorschlag: Hugentobler, Manuela, «Weil du von hier kommst» – Die rechtliche Strukturierung politischer Partizipation durch Diskriminierungskategorien am Beispiel der Versammlungsfreiheit, JuWissBlog Nr. 41/2022 v. 27.07.2022, https://www.juwiss.de/41-2022/.
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