von ROMAN LEHNER
Was haben mittelständische Mineralölimporteure, Omnibusbetreiber in Kurgebieten und aufs Baugewerbe spezialisierte Arbeitsverleiher gemeinsam? Welches rechtliche Schicksal vereint einen Rechtsanwalt, der in seiner Kanzlei mit einem internetfähigen PC arbeitet und den Halter eines Pit Bull Terriers? Und unter welchem Gesichtspunkt könnte man Eckkneipenbetreiber und Inhaber von Shisha-Lokalen unter dieselbe juristische Problemkategorie fassen?
Sie alle stellen Personengruppen dar oder gehören solchen an, die im Rahmen einer gesetzlichen Regelung besonders stark von einer Belastung getroffen wurden oder außergewöhnlich wenig von einer Begünstigung profitieren konnten. Den mittelständischen Ölimporteuren fällt es im Vergleich zu Großraffinerien erheblich schwerer, Erdölerzeugnisse in hohen Mengen zu bevorraten,1 die Omnibusunternehmer sind in Kurgebieten überproportional häufig von der Pflicht zur unentgeltlichen Beförderung Schwerbehinderter betroffen2 und aufs Baugewerbe spezialisierte Verleiher werden vom Verbot der Arbeitnehmerüberlassung in eben diesem Gewerbe ungleich härter getroffen als sog. Mischverleiher, die Arbeitnehmer in ganz unterschiedliche Wirtschaftsbranchen verleihen.3 Der Rechtsanwalt war4 verpflichtet, für seinen Kanzleicomputer Rundfunkgebühren zu entrichten, obwohl er diesen gar nicht für den Rundfunkempfang nutzte5 und derjenige, der einen Hund einer gesetzlich als gefährlich gelisteten Rasse hält, muss bestimmte Nachteile hinnehmen und höhere Hundesteuersätze leisten, ohne im Einzelfall den Nachweis erbringen zu dürfen, dass sein Hund ungefährlich sei.6 Die Inhaber von Shisha-Lokalen werden genauso einem strikten Rauchverbot unterworfen, wie es für Gaststätten gilt, in denen das Rauchen nicht Teil des gastronomischen Konzepts ist7 und für Eckkneipenbetreiber, die aus räumlichen oder wirtschaftlichen Gründen keinen eigenständigen Raucherraum einrichten können, wirkt sich ein relatives Rauchverbot faktisch absolut aus.8
Typisierung durch Untergruppenbildung
In all diesen Fällen sah sich der Gesetzgeber vor die Aufgabe gestellt, einen bestimmten Lebensbereich gesetzlich zu ordnen und fasste dazu typisierend Gruppen von Rechtsträgern unter einem gemeinsamen Regime zusammen, nahm eine (Teil-) Gruppe hiervon wiederum aus oder verzichtete gerade auf eine binnendifferenzierende Untergruppenbildung. Immer hatten sodann Gerichte darüber zu befinden, ob „Gruppenangehörige nicht nur in einzelnen, aus dem Rahmen fallenden Sonderkonstellationen, sondern in bestimmten, wenn auch zahlenmäßig begrenzten typischen Fällen ohne zureichende sachliche Gründe verhältnismäßig stärker belastet werden als andere (…).“9 Ausgehend vom exzellenten und sehr instruktiven Problemabriss Kischels zur sog. Typisierungsbefugnis, auf den hier Bezug genommen wird,10 soll der Fokus auf einen Folgeaspekt dieser Problemkategorie gelenkt werden, welcher auf die Frage nach dem „letzten Wort“, also auf das Tagungsthema der 53. Assistententagung im Öffentlichen Recht 2013 in Bern verweist. Sie beschreibt einen beachtenswerten und zunehmend virulenten Problemkreis im Spannungsverhältnis von Rechtsetzung und Rechtskontrolle, von legislativer und judikativer Gewalt.
Typisierung, Grundrecht und Grundrechtskontrolle
Der Typisierungsgedanke weist grundsätzlich in zwei Richtungen.11 Zum einen beschreibt er die Berechtigung des Gesetzgebers, im Wege der Typisierung Lebenssachverhalte und Normadressaten zusammenzufassen, auch wenn dies im Einzelfall zu signifikanten Härten und Schwierigkeiten führt.12 Auch außergewöhnliche Belastungen können im Rahmen eines Freiheitseingriffs von den Betroffenen hinzunehmen sein, wenn sie sich als völlig atypische Auswirkung darstellen oder wenn es an einer hinreichend abgrenzbaren Personengruppe fehlt, deren Berücksichtigung vom Gesetzgeber zu verlangen wäre.13 Kischel schließt richtigerweise, dass die Typisierungskategorie hier die Annahme von (Grund-) Rechtsverstößen regelmäßig „verhindert“.14 M.a.W.: Sie begrenzt auch die gerichtliche Kompetenz zur Rechtskontrolle unter grundrechtlichen Auspizien zugunsten des gesetzgeberischen (Vor-) Rechts zur normativen Erfassung und Zusammenfassung rechtlich zu ordnender Lebensbereiche. Zum anderen wird umgekehrt auf die Rechtsmacht Einzelner verwiesen, typische Fälle außergewöhnlicher Härten15 gerichtlich geltend zu machen. Die Typisierungskategorie kann hier zur Begründung von (Grund-) Rechtsverstößen herangezogen werden.16 Sie begrenzt somit die legislatorische Kompetenz zur Rechtsetzung zugunsten gerichtlicher Einzelfallkontrolle. Typizität erweist sich im gewaltengeteilten Staat so als Kompetenzbrücke zwischen der dem Gemeinwohl verpflichteten rechtsetzenden und der (vorrangig) individuellem Rechtsgüterschutz verpflichteten rechtsprechenden Gewalt. Sie generiert besondere und allgemein bekannte, diesen Konflikt spiegelnde Grundrechtsfiguren wie etwa die im Einzelfall ausgleichspflichtige Inhalts- und Schrankenbestimmung in Art. 14 GG17 oder die „nur“ gemeinwohlgebundene Berufsausübungsregel in Art. 12 GG, die sich in ihren einzelfalltypischen Auswirkungen wie eine Berufswahlregel rechtfertigen lassen muss18 und koppelt das betroffene Freiheitsrecht an den allgemeinen Gleichheitssatz.19
Aktualität der Problemkategorie und Konfliktlage
Auch zwei jüngere Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts lassen sich als Anwendungsfall dieser Problemkategorie lesen. Die gesetzgeberische Entscheidung, bei der Grundleistungsgewährung nach dem Asylbewerberleistungsgesetz Ausländer bei typischerweise nur kurzfristigem Aufenthalt als sozialrechtlich minderbedürftig einzustufen, kollidiert mit der verfassungsgerichtlichen Aufgabe umfassender Grundrechtseinzelfallkontrolle im Hinblick auf Art. 1 GG.20 Das Anliegen des Bundeswahlgesetzgebers, Auslandsdeutsche, die nie länger in Deutschland wohnhaft waren, im Hinblick auf ihre Wahlberechtigung typisierend (weniger als drei Monate Aufenthalt vor Fortzug) zu erfassen, begibt sich in einen Konflikt mit dem Grundrechtsschutz, den das Verfassungsgericht jenen Auslandsdeutschen gewähren will, die auch ohne ausreichenden Aufenthalt in Deutschland typischerweise genügend kommunikativen Kontakt zum deutschen Gemeinwesen haben (z. B. sog. Grenzgänger).21
In beiden Fällen wird deutlich, dass die Frage der Typisierungszuständigkeit angesichts der „Vielgestaltigkeit der Lebensverhältnisse“22 ein Verfassungsstrukturproblem offenbart, welches angesichts ständiger sozialer Komplexitätszuwächse ein zunehmendes Gewicht erfahren dürfte. Der den Gesetzesvollzug programmierende Gesetzgeber, der aus Praktikabilitätsgründen vereinfachend Sachverhalte zusammenfasst und dabei gerade nicht alle denkbar relevanten Sachverhaltsbesonderheiten soll berücksichtigen müssen, steht der Gerichtsbarkeit gegenüber, die an die rechtliche Relevanz bestimmter Sonderlagen erinnert.23 Die Konflikthäufigkeit zwischen dem unmittelbar demokratisch legitimierten Parlament als „Ersttypisierer“ und dem mittelbar demokratisch legitimierten Verfassungsgericht als „Ersatztypisierer“ ist jedenfalls erkennbar angestiegen.
Typisierung aus der rechtsetzenden Perspektive
Aus Sicht des Gesetzgebers, der sich zunehmend des Vorwurfs der Einzelfallblindheit erwehren muss, erscheint eine (Rück-) Besinnung auf die Grundbegriffe von Gesetz und Gesetzeskontrolle wünschenswert. Die Typensetzung muss das Privileg der Legislative bleiben, wie auch die Typeninterpretation nicht ohne weiteres von der Gerichtsbarkeit usurpiert werden sollte. Typenkontrolle hingegen ist Sache der Gerichte, sie muss zunächst die gesetzliche Typenbildung mitsamt der hierin abgebildeten Sichtweise auf die tatsächlichen Lebensverhältnisse respektieren und sollte nur bei evident fehlerhafter Typisierung zur Typenkorrektur schreiten dürfen. Denn die Erfassung von Lebenswirklichkeit ist im demokratischen Staat Ergebnis eines politischen und parlamentarischen Aushandlungsprozesses. Weder der Gesetzgeber noch die Gerichtsbarkeit befinden sich im Besitz einer verhandlungsunabhängigen Wahrheit.
Die normative Abbildung des Typus „zunächst nur kurzfristiger Aufenthalt im Bundesgebiet“ wird vom Bundesverfassungsgericht genau diesem politischen Definitionsprozess entzogen, indem durch Rekurs auf die von vornherein differenzierungsabweisende Menschenwürdegarantie der Haupttypus „Mensch“ über das Asylbewerberleistungsrecht gestülpt und jede Untertypenbildung für nicht verhandelbar erklärt wird.24 Die Faktenerbringungsschuld, die dem Gesetzgeber in Gestalt des konkreten Nachweises gruppenspezifischer Minderbedarfe aufgebürdet wird,25 greift weit in dessen Setzungskompetenz über. Auch die verfassungsgerichtliche Annahme, komplette Rauchverbote in Gaststätten seien nicht zu beanstanden, aber Ausnahmen typengerecht auszugestalten,26 lässt sich im Kontinuum „Setzung – Interpretation – Kontrolle“ eher im vorderen Bereich verorten. Warum eine Regel untertypenindifferent sein darf, eine Ausnahme hingegen nicht, erschließt sich aus reinen Rechtsgründen jedenfalls nicht. Der gesetzliche Verbotsausnahmetypus „Gaststätte mit separatem Raucherraum“ wird judikativ um den Untertypus „Eckkneipe“ ergänzt, wohingegen das wohl kaum atypisch eintretende Quasi-Berufsverbot für den Wasserpfeifen-Kneipier unbeanstandet bleibt. Hier mangelt es genau dort an Konsistenz, wo vom Gesetzgeber – unausgesprochen – letztlich Kohärenz 27 verlangt wird.
Typisierung aus der rechtsprechenden Perspektive
Aus der gerichtlichen Kontrollperspektive erweist es sich andererseits in rechtlichen Grundfragen auch als notwendig und geboten, ganze Lebenssachverhalte für (praktisch) typisierungsuntauglich zu erklären, weil die fraglichen Rechtsgewährungen so elementar sind, dass jede Untergruppenbildung als systemisch ungerecht erscheinen muss. Das Wahlrecht aus Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG kann als eine derart fundamentale Position angesehen werden. Jeder Ausschluss, der auf einer gesetzten Annahme fehlenden kommunikativen Kontakts zum hiesigen Gemeinwesen beruht,28 muss sich einer sachlichen Faktenstrenge ausgesetzt sehen, die letztlich keine Ausnahme ohne Unterausnahme zulassen kann und vermutlich auch letztere als typenungerecht zurückweisen muss. Wollte der Gesetzgeber beim Versuch, Auslandsdeutsche ohne wesentliche soziale Bezüge zur Bundesrepublik aus der Wahlberechtigung auszuscheiden, die Grenzgänger berücksichtigen, könnte er einen Aufenthalt in einem Anrainerstaat zur zusätzlichen Voraussetzung machen. Was wäre aber dann mit den Auslandsdeutschen in Übersee, die zwar nie in Deutschland lebten, sich aber (in Zeiten des Internets nicht unvorstellbar) medial über die Heimat informieren?29 Müssen nicht auch jene berücksichtigt werden, die einmal im Jahr ihre deutschen Verwandten besuchen? Muss angesichts der Komplexität der für das Wahlrecht konstitutiven Kommunikationszusammenhänge nicht am Ende gar ein Typisierungsverbot ausgesprochen werden?
Zunahme von Typisierungskonflikten?
Gesellschaftliche Komplexitätszuwächse werden womöglich zur Zunahme von Typisierungskonflikten zwischen Legislative und Judikative führen. Das letzte Wort zum letzten Wort ist hier noch nicht gesprochen. Ob jedes parlamentarisch ordentlich beratene Gesetz mit Typendimension tatsächlich eine umfassende gerichtliche „Typberatung“ nötig hat, erscheint indes fraglich.
- Vgl. BVerfGE 30, 292 (327 ff.). [↩]
- Vgl. BVerfGE 68, 155 (173 ff.). [↩]
- Vgl. BVerfGE 77, 84 (113). [↩]
- Diese Fallkonstellation ist freilich mit Übergang zur Beitragsfinanzierung obsolet geworden. [↩]
- Vgl. BVerwG NJW 2011, 946 (951). [↩]
- Vgl. VGH Mannheim, VBl.BW 2002, 423 (425 f.). [↩]
- Vgl. BVerfG NVwZ 2011, 294 f. [↩]
- Vgl. BVerfGE 121, 317 (363 ff.). [↩]
- BVerfGE 121, 317 (358); vgl. den Nachweis dieser Rechtsprechungsformel auch mit Hinweis auf zahlr. weitere Rechtsprechungsquellen Kischel, in: Epping/Hillgruber, GG, 2009, Art. 3, Rdnr. 113. [↩]
- Ebd., Rdnrn. 113 ff. [↩]
- Vgl. hierzu grundlegend ebd. Rdnrn. 113 f. m. zahlr. Verweisen aus der Rechtsprechung. [↩]
- Vgl. ebd., Rdnr. 114. [↩]
- Vgl. ebd., Rdnr. 113. [↩]
- Ebd., Rdnr. 114. [↩]
- Vgl. ebd., Rdnr. 113. [↩]
- Vgl. ebd., Rdnr. 113. [↩]
- Vgl. BVerfGE 58, 137 (149 ff.). [↩]
- Vgl. BVerfGE 11, 30 (42 ff.). [↩]
- Vgl. zum letzten Aspekt ebenfalls ebd., Rdnr. 113. [↩]
- Vgl. BVerfG, Urteil v. 18. Juli 2012, 1 BvL 10/10 u. 1 BvL 2/11, Rdnrn. 106 ff. [↩]
- Vgl. BVerfG, Urteil v. 4. Juli 2012, 2 BvC 1/11 u. 2 BvC 2/11, Rdnrn. 50 ff. [↩]
- So Lübbe-Wolff in ihrem bemerkenswerten Sondervotum zu 2 BvC 1/11 u. 2 BvC 2/11, Rdnr. 73 f., die von einem „Dilemma“ im Hinblick auf entweder „fragwürdige Einschlüsse oder fragwürdige Ausschlüsse“ spricht. [↩]
- Vgl. hierzu, insb. zum Relevanzkriterium im Rahmen der Typisierungstechnik Britz, Einzelfallgerechtigkeit versus Generalisierung, 2008, S. 38 f. [↩]
- Vgl. BVerfG, Urteil v. 18. Juli 2012, 1 BvL 10/10 u. 1 BvL 2/11, Rdnrn. 106 ff. sowie meine Analyse und Kritik hierzu in PUBLICUS 2012.11, S. 17 ff., abrufbar unter http://www.publicus-boorberg.de/sixcms/detail.php?template=pub_artikel&id=boorberg01.c.263547.de. [↩]
- Vgl. BVerfG, Urteil v. 18. Juli 2012, 1 BvL 10/10 u. 1 BvL 2/11, Rdnr. 118 im Anschluss an BVerfGE 125, 175 („Hartz IV“). [↩]
- Vgl. BVerfGE 121, 317 (355 f.). [↩]
- Damit wäre wiederum eine Orientierung an der Rechtsprechungslinie des Europäischen Gerichtshofs verbunden; vgl. exemplarisch zu den Kohärenzanforderungen des EuGH Rs. C-316/07 u.a. (Stoß u.a.), Rdnrn. 83 ff. [↩]
- Vgl. BVerfG, Urteil v. 4. Juli 2012, 2 BvC 1/11 u. 2 BvC 2/11, Rdnr. 39. [↩]
- Dies war auch ein Einwand der Bf.; vgl. ebd., Rdnr. 25. [↩]