Eine Annäherung an Habermas aus der Perspektive einer Völkerrechtlerin

von MIRKA MÖLDNER

MirkaMoeldner

Vorbereitung der Masterclass „Recht und Demokratie in der postnationalen Konstellation“ mit Jürgen Habermas: „Faktizität und Geltung“ liegt vor mir. Die Reise beginnt neblig. Die (Sprach-)Philosophie spricht zunächst eine andere Sprache als sie der Jurist gelernt hat: „Schon die lerntheoretische Umdeutung normativer Verhaltenserwartungen in kontrafaktisch durchgehaltene kognitive Erwartungen tilgt die deontologische Dimension der Sollgeltung und damit den illokutionären Sinn von Handlungsnormen und Geboten“, steht hier zum Beispiel in Bezug auf Niklas Luhmann.

Doch dann: Nach den ersten Verwirrungen und Begegnungen mit Sätzen wie diesen und Begriffen wie „type“ und „token“, finde ich mich ab Kapitel III schließlich in vertrauten Gewässern wieder. Kurz darauf ist Land in Sicht! Eine Geschichte der Lehre des subjektiven Rechts, beschrieben in größter Klarheit. Schließlich das System der Rechte. All die Puzzleteile fügen sich zu einem Bild zusammen. Die Begriffe von Lebenswelt und System, die Rolle des Rechts, das Verhältnis von Demokratie und Menschenrechten – die Idee deliberativer Demokratie, Habermas’ Konzept der Erzeugung legitimen Rechts. Doch jetzt wo die Sicht klar ist, sieht man unmittelbar einen Berg vor Augen. Können diese Ideen auch jenseits des Staates weitergedacht werden? Antworten darauf sollen in der Masterclass vom 11. bis 14. Februar 2013 in Heidelberg gefunden werden.

Heidelberg, Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht, 11. Februar 2013. Wir sind eine bunte Gruppe aus Juristen verschiedener Fachrichtungen, Politikwissenschaftler, Soziologen, Philosophen, u.a. – aus verschiedenen Ecken der Welt, unser Gastgeber ist Armin von Bogdandy. Es soll eine Masterclass werden, unter Anwesenheit des Meisters Habermas selbst. Wir wollen ihn herausfordern. Es soll kontrovers werden, kreativ, progressiv. Häufig scheitert eine gemeinsame Diskussion in einem solchen Rahmen an dem Vorhandensein einer gemeinsamen Sprache. Nicht so hier. Wir sprechen eine Sprache. Hinter den Begriffen, die wir benutzen, verbergen sich erstaunlich häufig die gleichen Konzepte, denn Habermas’ Werk verbindet uns.

Wie werden wir vorgehen? Nach und nach werden wir zentrale Fragen und Konzepte aus „Faktizität und Geltung“ und weiteren Texten herausgreifen. Dann werden wir versuchen, diese auf die europäische bzw. die internationale Ebene zu übertragen. Welcher Modifikation bedürfen die Begriffe von Faktizität und Geltung jenseits des Staates? Habermas spricht davon, dass Normen gleichzeitig durch faktischen Zwang und durch legitime Geltung Folgebereitschaft bewirken müssten. Doch die Möglichkeit faktischen Zwangs ist jedenfalls auf internationaler Ebene begrenzt. Und auch der Weg, wie Habermas legitimes Recht erzeugen möchte, scheint auf internationaler Ebene recht steinig. Wie können wir Inklusion und Deliberation auf internationaler Ebene sicherstellen? Welche Spuren finden wir jenseits des Staates von dem von Habermas beschriebenen System der Rechte? Funktioniert das Modell der moralischen Gründe auf internationaler Ebene?

Wir diskutieren. Es werden Thesen gebildet, Gegenthesen. Eigene Forschungsansätze werden vorgestellt. Wir diskutieren abstrakt, aber es wird auch sehr praktisch, Ideen werden hinterfragt: Wie soll das funktionieren? Wer soll diese Rolle übernehmen? Wir sprechen über die Bedeutung der Öffentlichkeit. Doch wer ist diese Öffentlichkeit überhaupt auf internationaler Ebene? Welche Chance bietet uns eine europäische Öffentlichkeit? Es scheint, als wären wir uns hier einig, einen Anknüpfungspunkt für die Erzeugung legitimen Rechts jenseits des Staates gefunden zu haben, der Öffentlichkeit scheint hier eine Schlüsselrolle zuzukommen. Wie aber begegnen wir dem Problem der Exklusion, wie könnte Partizipation ermöglicht werden? Kann und soll eine entgrenzte Kommunikation auch zu einer entgrenzten Öffentlichkeit führen? Wir streiten auch hier vor allem über Fragen der praktischen Durchsetzung. Schließlich ein weiterer Punkt für Kontroversen: Habermas schließt aus, dass demokratische Legitimation durch „weichere“ Accountability-Mechanismen verbessert werden kann und bleibt damit sehr kategorisch. Doch können gerade diese Mechanismen, wie beispielsweise das Inspection Panel der Weltbank zeigt, eine Beteiligung Betroffener am Geschehen sicherstellen. Bleibt Habermas hier nicht zu kategorisch, zu idealistisch, auch angesichts dessen, dass ein großer Teil der Staaten nicht demokratisch ist?

Am Ende bleiben viele Fragen offen. Sie werden wohl auch noch eine Weile offen bleiben. Aber wir sind inspiriert. Nicht nur von der Person Habermas, die jeden der Beteiligten ausnahmslos ernst nimmt, wissbegierig und sehr bescheiden ist, und sich auch von unseren Thesen provozieren lässt. Wir sind auch von vielen neuen Ideen inspiriert und von vielen Fragen, die wir uns in dieser Woche gestellt haben. Am Ende schafft es der Mensch eben nicht, nicht zu lernen.1

  1. Zitat von Habermas, 12. Februar 2013, in leichter Modifikation. []
Demokratietheorie, Diskurstheorie, Europarecht, Heidelberg, Jürgen Habermas, Mirka Möldner, Rechtsphilosophie, Rechtstheorie, Völkerrecht
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