von NORBERT PAULO
Die deutsche Zeitungslandschaft ist sich einig: Von der taz über die Süddeutsche und die FAZ bis hin zur Welt sind die Nachrufe auf Ronald Dworkin als Lobeshymnen ausgefallen. Und das, obwohl er ein äußerst streitbarer Intellektueller war. Ein Wissenschaftler, der sich in politische Kontroversen einmischte und zeitweise für die Demokratische Partei in den USA politisch aktiv war. Besonders in seinen mehr als einhundert Beiträgen für die New York Review of Books hat er kein heißes politisches Eisen unkommentiert gelassen und wurde so zu einem der wichtigsten und streitbarsten öffentlichen Intellektuellen der englischsprachigen Welt.
In seinem ersten Artikel für die Review verteidigte er 1968 die Verweigerer des Kriegsdienstes in Vietnam. Seither schrieb er nicht nur über Bürgerrechte, Abtreibung, Sterbehilfe, Pornografie, Terrorbekämpfung, Waffenrecht und Gesundheitsreformen, sondern vor allem immer wieder über affirmative action. So auch in seinem letzten Review-Artikel vom Dezember 2012, in dem er den beim Supreme Court anhängigen Fall Fisher v. University of Texas für ein breites Publikum in seiner rechtlichen Komplexität und politischen Bedeutung diskutiert. Abigail Fisher klagt, die Aufnahmeregelungen der Universität verletzten sie – als weiße Amerikanerin – in ihrem Gleichheitsrecht, weil afroamerikanische Studienplatzbewerber bei sonst ähnlichen Qualifikationen bevorzugt aufgenommen werden. Fisher beruft sich u.a. auf die Entscheidung in Brown v. Board of Education von 1954. Dieser juristische und politische Meilenstein hat die Rassentrennung an staatlichen Schulen in den USA beendet. Zur Debatte steht nun, wie Brown zu verstehen ist. Fishers Anwälte meinen, Brown etabliere die Regel, dass staatliche Bildungseinrichtungen – also auch die University of Texas – die Hautfarbe der Bewerber nicht zum Aufnahmekriterium machen dürfen. Dworkins Befürchtung ist, dass der mehrheitlich konservativ besetzte Supreme Court diese Gelegenheit nutzen wird, die affirmative action als Politikform wieder zu beschränken. Und tatsächlich hat Chief Justice Roberts auch schon markig bemerkt „The way to stop discrimination on the basis of race is to stop discriminating on the basis of race.” Dworkin setzt dem eine andere Lesart von Brown entgegen, wonach jeder das Recht habe, nicht unter staatlichen Vorurteilen oder Stereotypen zu leiden. Nach dieser Lesart hätte Fishers Klage keinen Erfolg.
Die verschiedenen Lesarten illustrieren Dworkins Rechtsphilosophie, für welche die Wertgebundenheit jeder Interpretation zentral ist. Es gebe keine Rechtsanwendung ohne Interpretation; ja sogar die Feststellung, was genau zum Recht gehört, sei interpretationsbedürftig. Nicht zufällig wird seine Position Interpretivism genannt. Er hat sie in den 1960er Jahren gegen den damals vorherrschenden Rechtspositivismus entwickelt (1977 gesammelt veröffentlicht in Taking Rights Seriously) und seither immer weiter ausgebaut (vor allem 1986 in Law’s Empire und 2006 in Justice in Robes). Dworkins Ansatz ist aber auch nicht naturrechtlich. Die für die beste Interpretation relevanten Werte sind nicht vorgegeben, sondern werden – vereinfacht gesagt – in sozialen Praktiken generiert und müssen in ein Kohärenzverhältnis zu anderen gesellschaftlichen Werten und gelebten sozialen Praktiken gebracht werden. Mit diesem Ansatz verbunden ist eine – oft kritisierte – Abwertung der Gesetzesbindung. Es genüge nicht, zu wissen, wie das Gesetz (oder der Präzedenzfall) lautet und was der Normgeber damit gemeint hat. Man müsse auch wissen, welche außerrechtlichen Werte und Prinzipien den Normgeber und dessen politische Praxis überhaupt legitimieren. Zwar spielen der Wortlaut und die Intention des Normgebers eine wichtige Rolle; eine gute Interpretation bedürfe aber immer auch des Abgleichs mit den hinter der Norm liegenden Werten und der weiter gehenden Gesamtkohärenz. Trotz dieser Loslösung von Subsumtionsmodellen der Normanwendung meinte Dworkin, es gebe für jede Rechtsfrage zumindest theoretisch die eine richtige Antwort. Leider könne aber nur ein Richter mit übermenschlichen Kenntnissen und Fähigkeiten – er nennt ihn Herkules – diese Antwort finden, weil es nötig wäre, ohne Zeitdruck alle relevanten sozialen Praktiken und deren Wertbindungen herauszuarbeiten und in bestmöglichen Ausgleich zu bringen.
Der Interpretivism bezieht sich aber auch auf die Feststellung, was überhaupt Recht ist. Was ist also die Rechtsnorm in Brown? Nach Dworkins Theorie ist die Lesart der Fisher-Anwälte zu eng und blendet den Wertehintergrund der Entscheidung in Brown komplett aus. Selbst wenn die Richter in Brown von Farbenblindheit und einem Verbot der Diskriminierung aufgrund von Hautfarbe gesprochen haben, war das dahinter liegende wertgebundene Prinzip der Schutz vor staatlichen Vorurteilen und Stereotypen, keine blinde formale Gleichheit.
In Deutschland ist besonders Dworkins Unterscheidung zwischen Rechtsregeln und Rechtsprinzipien bekannt, mit der er gegen den Hart’schen Positivismus argumentierte. Regeln haben demnach einen Alles-oder-Nichts-Charakter, während Prinzipien eine Dimension des Gewichts haben und selbst in Konfliktfällen – anderes als Regeln – gültig bleiben. Robert Alexy hat diese Unterscheidung sehr scharfsinnig aufgegriffen, kritisiert und weiterentwickelt zum Verständnis von Prinzipien als Optimierungsgebote. Die so in Deutschland entstandene, sehr strukturbezogene Prinzipientheorie hat sich dann aber weit vom Denken Dworkins entfernt. Seine Betonung von Bürgerrechten als „Trümpfe“ über andere Erwägungen wurde oft derart missverstanden, dass Bürgerrechte einer Abwägung gar nicht zugänglich seien. Tatsächlich wollte er nur deren abstraktes Gewicht gegenüber anderen Erwägungen betonen, was im angloamerikanischen Rechtsdenken viel kontroverser war als im naturrechtlich geprägten kontinentaleuropäischen.
Dworkins wissenschaftliches Werk umfasst mehr als ein Dutzend Bücher. In den letzten Jahren hat er sich mehr und mehr der Politischen Philosophie zugewandt. In Sovereign Virtue (2000) entwickelte er einen egalitären Liberalismus, den er in seinem opus magnum Justice for Hedgehogs (2011) wiederum mit dem Interpretivism verband. In diesem Werk ebnet er nicht nur gewohnt eloquent und streitbar die Unterscheidung zwischen (deskriptiver) Metaethik und normativer Ethik ein – Werte müssen, so Dworkin, objektiv sein; wer dies bestreitet, fälle auch ein Werturteil. Außerdem verbindet er das gute Leben (Ethik), Moral, Gerechtigkeit und Recht zu einem Ganzen. Das verbindende Element ist wieder die wertgebundene Interpretation, der zentrale Wert die Menschenwürde. Sie ist das eine große Ding, das der titelgebende Igel weiß. Für Dworkin ist die Menschenwürde die Pflicht zur Beförderung des eigenen Lebens bei gleichzeitigem Respekt für das Leben anderer.
Dworkin wurde 1931 in Massachusetts geboren, hat in Harvard und Oxford Jura und Philosophie u.a. bei W.V.O. Quine, John L. Austin und Lon Fuller studiert und für den berühmten Richter Learned Hand gearbeitet. Seine Frau Betsy sorgte dafür, dass seine Tätigkeit als Anwalt in einer großen Kanzlei mit offenbar familienunfreundlichen Arbeitsbedingungen nur ein Intermezzo blieb. Er begann, in Oxford zu lehren, wurde 1961 Professor in Yale, dann an der New York University und kehrte 1969 zurück nach Oxford – als Nachfolger und mit Unterstützung von H.L.A. Hart, dessen schärfster Kritiker Dworkin damals war. Bis 1998 blieb er in Oxford, nahm aber 1994 auch wieder eine Professur an der New York University an, wo er seither zusammen mit Thomas Nagel das berühmte Colloquium in Legal, Political and Social Philosophy abhielt. Später unterrichtete Dworkin auch am University College London. Am 14. Februar ist Ronald Dworkin in London verstorben.