von ROMAN KAISER
Das Gerrymandering in den USA kann weitergehen: Der Supreme Court hat letzten Donnerstag mit 5:4 Stimmen entschieden, dass parteipolitische Wahlkreismanipulationen bundesgerichtlich nicht überprüfbar sind (Rucho v. Common Cause). Das Gericht sieht den Angriff auf die Demokratie – und tut nichts. Nach der 2020 stattfindenden Volkszählung wird es in vielen Bundesstaaten der USA erneut zu massiven Wahlkreismanipulationen kommen. Weil es um Gegenwehr aus dem politischen Prozess heraus schlecht steht, liegt die Hoffnung nun darauf, dass die Gerichte der Bundesstaaten ihrer Verantwortung nachkommen.
Partisan gerrymandering
„Gerrymandering“ bezeichnet Wahlkreiseinteilungen, bei der bestimmte Wählergruppen einem Wahlkreis zugeschlagen oder aus ihm herausgenommen werden, um das Wahlergebnis zugunsten oder zulasten von bestimmten Wahlkreiskandidaten und/oder deren Parteien zu beeinflussen.* Dies muss nicht unbedingt mit böser Absicht erfolgen. So geht es beim sog. affirmative racial gerrymandering darum, die ausreichende Repräsentation ethnischer Minderheiten zu gewährleisten. Äußerst problematisch ist jedoch das partisan gerrymandering, das auf parteipolitische Vorteile zielt. In seiner extremsten Form erlaubt es einer Partei, sich ungeachtet sich ändernder Wahlergebnisse auf Dauer an der Macht zu halten.
In den USA lässt sich Gerrymandering historisch bis ins 18. Jahrhundert hinein zurückverfolgen. Besondere Ausmaße nimmt es aber erst seit der Volkszählung im Jahr 2010 an. Der eine Grund sind die immer genaueren demographischen Daten über die Wählerschaft und die immer besseren technischen Möglichkeiten der manipulativen Wahlkreiseinteilung. Der andere Grund liegt darin, dass die Judikative diesem Treiben lange Zeit keinen Einhalt geboten hat. Insbesondere die Richter des Supreme Court, die seit den 1980er Jahren einige Male über das partisan gerrymandering entscheiden mussten, stellten zwar stets fest, dass eine zu große Berücksichtigung parteipolitischer Erwägungen zur Verfassungswidrigkeit eines Wahlkreiszuschnitts führt, konnten sich aber nie auf einen entsprechenden Prüfungsmaßstab einigen. Während die beide großen Parteien – ungehindert von den Gerichten – Wahlkreise in immer groteskeren Formen konstruierten, unternahmen Rechts- und Politikwissenschaftler verschiedene Versuche, einen geeigneten Maßstab für die Kontrolle von Gerrymandering zu finden.
Mehrheitsmeinung
Ein solcher Maßstab lässt sich nicht finden. So lautet jedenfalls die Ansicht der „konservativen“ Mehrheit am Supreme Court, für die Chief Justice Roberts die Entscheidungsgründe geschrieben hat. Mangels Maßstabs sei die Beurteilung des Gerrymandering eine „nonjusticiable political question“. Auf der ersten Ebene sei schon nicht klar, was Fairness der Repräsentation bedeute. Gerrymandering erscheine unfair vor allem wegen der Abweichungen des Wahlergebnisses von proportionaler Repräsentation. Die Verfassungsväter hätten aber gerade kein Verhältniswahlsystem vorgesehen. Die erforderliche Entscheidung zwischen den verschiedenen möglichen Konzeptionen fairer Wahlkreiseinteilung sei keine rechtliche, sondern eine politische Frage. Den Gerichten stehe es nicht zu, hier eine Auswahl zu treffen. Und selbst wenn eine verfassungsrechtliche Definition der Fairness bestünde, gäbe es keinen Maßstab, um auf der zweiten Ebene die Frage zu beantworten: „How much is too much?“
Auswirkungen des Gerrymandering
Es ist der Gerichtsmehrheit zuzugestehen, dass sie schwierige juristische Fragen aufwirft. Angesichts der drastischen Auswirkungen des Gerrymandering muss es allerdings enttäuschen, dass sie keine Antworten darauf findet. In North Carolina gaben die Republikaner eine Wahlkreiseinteilung in Auftrag mit dem ausdrücklichen Ziel sicherzustellen, dass sie stets zehn der 13 Kongresswahlkreise gewinnen würden. Einer der zuständigen Abgeordneten begründete dies unverblümt: „I think electing Republicans is better than electing Democrats. So I drew this map to help foster what I think is better for the country.“ Grund für die 10:3-Verteilung sei lediglich, dass es nicht möglich sei, die Wahlkreise so einzuteilen, dass die Republikaner elf Sitze erhielten. Im anderen Fall gingen die Demokraten in Maryland kaum weniger hemmungslos vor, um noch einen siebten der dortigen acht Sitze im US-Repräsentantenhaus zu ergattern. Hier zeigt sich das ganze Ausmaß des extremen Gerrymandering. Am Ende des Tages wählen nicht mehr die Wähler ihre Abgeordneten, sondern die Abgeordneten wählen ihre Wähler. Die Mehrheit nimmt der Minderheit die realistische Chance, zur Mehrheit zu werden – und beseitigt so eine der fundamentalen Voraussetzungen des demokratischen Mehrheitsprinzips. Mit den Worten der abweichenden Meinung von Richterin Kagan lässt sich dies als „beating democracy“ bezeichnen: Die Politiker besiegen die Demokratie.
Minderheitsmeinung
Die abweichende Meinung der vier „liberalen“ Richter geht von diesem Befund aus und wirft die (rhetorische) Frage auf: „Is that how American democracy is supposed to work?“ Die Minderheitsmeinung sieht deshalb die Gerichte in der Pflicht. Ihre Lösung für das Maßstabsproblem besteht darin, nicht die Gerichte Kriterien aufstellen zu lassen, sondern auf die von einem jeweiligen Bundesstaat angewandten, parteipolitisch neutralen Kriterien der Wahlkreiseinteilung abzustellen. Ermittle man alle denkbaren Wahlkreiszuschnitte, die die jeweiligen neutralen Kriterien erfüllen, so könne man feststellen, welches Ausmaß die parteipolitische Bevorteilung in der konkret gewählten Wahlkreiseinteilung einnimmt. Im Fall von North Carolina zeige sich so, dass von 3000 möglichen Wahlkreiseinteilungen just die eine (!) ausgesucht wurde, die den Republikanern die meisten Sitze versprach. Zwar könne man abstrakt nicht eine präzise Grenze angeben, jenseits derer ein Wahlkreiszuschnitt verfassungswidrig ist, aber zumindest für diese extremen Fälle lasse sich sagen: „This much is too much.“
Folgen der Entscheidung
Aus juristischer Sicht enttäuscht die Mehrheitsentscheidung vor allem deshalb, weil sie wichtige rechtliche Fragen aufwirft, sich dann aber nicht ernsthaft mit den Antworten der abweichenden Meinung auseinandersetzt. Die knappe Argumentation, der Maßstab der vier anderen Richter sei ja von Bundesstaat zu Bundesstaat verschieden und zu wenig präzise, fällt doch sehr oberflächlich aus. Schlimmer noch sind aber die politischen Folgen. Es steht zu befürchten, dass beide Parteien (allerdings eine mehr als die andere) ihr Programm des Gerrymandering fortsetzen und die amerikanische Demokratie weiter untergraben werden. Mit seiner Entscheidung öffnet der Supreme Court erneut die Schleusen für Angriffe auf die Demokratie, nachdem er 2010 in Citizens United unbegrenzte Wahlkampfspenden juristischer Personen zuließ (und damit die sog. Super-PACs ermöglichte) und 2013 in Shelby County v. Holder eine zentrale, auf die Sicherstellung des Wahlrechts von Minderheiten zielende Vorschrift des Voting Rights Act von 1965 aufhob.
Für das Gerrymandering gibt der Supreme Court den Spielball nun an den politischen Prozess ab. Die Mehrheitsmeinung erinnert zum einen daran, dass der US-Kongress durch Bundesgesetz den Bundesstaaten Vorgaben für die Wahlkreiseinteilung machen kann. Indes sind bereits einige Versuche dieser Art gescheitert und so dürften auch für den aktuellsten Gesetzesvorstoß nur geringe Erfolgsaussichten bestehen. Zum anderen verweisen die Richter auf die Möglichkeiten der Wähler in den Bundesstaaten, durch Volksentscheide dem Gerrymandering entgegenzutreten. In der Tat sind letztes Jahr in manchen Bundesstaaten derartige Initiativen erfolgreich gewesen und daraufhin unabhängige Wahlkreiskommissionen eingeführt worden. (Interessanterweise hat vor wenigen Jahren die konservative Seite des Supreme Court in einer abweichenden Meinung solche Wahlkreiskommissionen noch für verfassungswidrig gehalten.) In den meisten Bundesstaaten können Änderungen des Wahlrechts jedoch nicht gegen den Willen des Parlaments erfolgen, sodass auch dieser Weg versperrt ist. Die besten Möglichkeiten der Einschränkung des Gerrymandering dürften sich deshalb den Gerichten der Bundesstaaten bieten. Sie können die jeweilige Staatsverfassung anders handhaben als der Supreme Court die Bundesverfassung – schon deshalb, weil manche Staatsverfassung besondere Vorschriften über die Fairness von Wahlen enthält. So haben die obersten Gerichtshöfe von Florida und Pennsylvania in den letzten Jahren Wahlkreiseinteilungen für verfassungswidrig erklärt. Hat das Problem des Gerrymandering sein Zuhause in den Bundesstaaten, so mag dasselbe vielleicht auch für die Lösung gelten. Zum Wohle der amerikanischen Demokratie wäre es zu hoffen.
* Näheres zu den tatsächlichen und rechtlichen Aspekten des Gerrymandering in den USA und vor allem auch in Deutschland bei Michl/Kaiser, JöR 67 (2019), S. 51 ff. Eine Kurzzusammenfassung für Deutschland findet sich auf dem Verfassungsblog.
Zitiervorschlag: Roman Kaiser, Beating democracy: Die Gerrymandering-Entscheidung und ihre Folgen, JuWissBlog Nr. 75/2019 v. 4.7.2019, https://www.juwiss.de/75-2019/
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