Am 06. Mai 2018 hat die libanesische Bevölkerung zum ersten Mal seit neun Jahren ein neues Parlament gewählt. Trotz des im Vorjahr eingeführten neuen Wahlrechts haben vor allem die etablierten politischen Kräfte gewonnen. Seit Jahrzehnten werden diese größtenteils von bekannten Familien und deren Klientelpolitik bestimmt. Dennoch bleibt nicht alles beim Alten – nicht alles bei den Alten. Die Verteilung der 128 Parlamentssitze ist repräsentativer als zuvor und auch zivilgesellschaftliche Akteure konnten erstmals mehr als nur Achtungserfolge erzielen. Der Grund: das neue Wahlgesetz. In seiner Komplexität steht es nicht nur für die zentralen Probleme des libanesischen Staates, es ist auch seit langem der erste, gleichwohl kleine, Schritt in eine demokratischere Zukunft.
Parität vs. Repräsentation
Das politische System Libanons ist konfessionell verankert. Schon die libanesische Verfassung von 1926 sah vor, sowohl das Parlament als auch die wichtigsten Staatsämter paritätisch zu besetzen. Ursprünglich als Übergangslösung gedacht, konsolidierte der 1943 geschlossene Nationalpakt den Konfessionalismus. Seitdem wird das Amt des Präsidenten immer mit einem maronitischen Christen, jenes des Premierministers mit einen sunnitischen Muslim und das Amt des Parlamentssprechers mit einen schiitischen Muslim besetzt. Allein das parlamentarische Kräfteverhältnis zwischen Christen und Muslimen wurde durch das Ta’if-Abkommen, das im Jahr 1989 den Bürgerkrieg beendete, von 6:5 auf 1:1 geändert.
Seit 1989 ist fünfmal ein neues Parlament gewählt worden. Das Wahlgesetz von 1960 sah ein Mehrheitswahlsystem auf dem Grundsatz der konfessionellen Parität vor. Abhängig davon, wie viele Sitze eines Wahlbezirks den verschiedenen Konfessionen zugeteilt wurden, bildeten sich multikonfessionelle und überparteiliche Allianzen, die sich zu Listen zusammenschlossen. Die mehrheitlich konfessionell orientieren Parteien waren also gezwungen zu kooperieren um an den Wahlen teilnehmen zu können. Die Liste mit den meisten Stimmen gewann und ihre Mitglieder zogen ins Parlament ein, während alle anderen leer ausgingen. Trotz Parität, war die Fähigkeit der Parlamentswahlen die politischen Präferenzen der libanesischen Bevölkerung abzubilden gering.
Die letzten Parlamentswahlen fanden 2009 statt. Nach der vorgeschriebenen Legislaturperiode hätte es eigentlich 2013 zu Neuwahlen kommen sollen. Mit Verweis auf die gescheiterten Versuche der letzten zehn Jahre, ein neues Wahlgesetz zu verabschieden, und die maßgeblich durch den Syrienkonflikt verursachte fragile Sicherheitslage im Land entschied sich das Parlament, seine Amtszeit zu verlängern. Force majeure – Höhere Gewalt, zweimal. Trotz offensichtlicher Verfassungswidrigkeit beschloss der Verfassungsrat 2014 die verlängerte Legislaturperiode als fait accompli – als vollendete Tatsache zu billigen, um ein weiteres Machtvakuum, wie die seit Anfang desselben Jahres und bis 2016 bestehende Vakanz des Präsidentenamtes, zu verhindern. Dem wachsenden Legitimitätsverlust der auch ansonsten krisengeplagten politischen Ordnung entgegenwirkend, argumentierte der Verfassungsrat jedoch gegen zukünftige Verlängerungen der Legislaturperiode.
Das neue Wahlrecht
Unter Druck geraten, beschloss das Parlament am 17. Juni 2017 ein neues Wahlgesetz und zugleich die „technische“ Verlängerung der eigenen Amtszeit bis Mai 2018, um die Wahlen entsprechend vorzubereiten zu können. Drei Tage vor der anstehenden Zwangsauflösung des Parlaments wurde der lang herbeigesehnte Kompromiss stolz verkündet: Verhältnis- statt Mehrheitswahl und auch die libanesische Diaspora war aufgerufen zu wählen. Tatsächlich ist das Gesetz aber weitaus komplexer: Einerseits schwächt das offensichtlich unproportionale und konfessionell orientierte Gerrymandering der Wahlbezirke die Abbildungsfähigkeit der Verhältniswahl ebenso wie die weiterhin paritätische Ausschreibung der Mandate. Andererseits haben politische Minderheiten deutliche bessere Chancen auf den Parlamentseinzug und auch die Verteilung der Sitze unter den großen Parteien entspricht nun mehr ihrem tatsächlichen Rückhalt in der Bevölkerung.
Am Beispiel der Hauptstadt: Beirut besteht aus zwei Wahlbezirken. Im Osten liegt das christlich geprägte Beirut I mit 134.355 registrierten Wählern, im Westen das mehrheitlich muslimische Beirut II mit 353.164 registrierten Wählern. In Ersterem sind acht Parlamentssitze vorgesehen, davon müssen drei an armenisch-orthodoxe und jeweils einer an maronitische, griechisch-orthodoxe, griechisch-katholische und armenisch-katholische Kandidat*innen vergeben werden. Ein zusätzlicher Sitz ist für christliche Minderheiten vorgesehen. Im zweiten Beiruter Wahlbezirk stehen elf Sitze zur Wahl, von denen neun an Muslime gehen müssen: sechs an sunnitische, zwei an schiitische und einer an die Drusen. Jeweils ein weiterer Sitz ist griechisch-orthodox und protestantisch markiert.
Diesen Vorgaben entsprechend bilden sich Listen mit Kandidat*innen, die sich gemeinsam zur Wahl stellen. Einerseits zwingt das auch verfeindete Parteien aus strategischen Gründen Allianzen zu bilden, andererseits leidet darunter die politische Debatte. Soweit so wie bisher. Neu ist allerdings die Präferenzstimme, durch welche einzelne Kandidat*innen untereinander konkurrieren können, und die Möglichkeit für konfessionell unvollständige Listen zur Wahl anzutreten. In Beirut I liegt das Quorum für einen der acht Parlamentssitze bei ca. 12,5%, in Beirut II für einen der elf hingegen bei ca. 9%. Erreichen Listen weniger, gehen ihre Mitglieder leer aus. Dass einzelne Kandidat*innen dieser erfolglosen Listen ggf. weitaus mehr Präferenzstimmen auf sich vereinigen können als manches Mitglied einer erfolgreichen Liste, bleibt unbeachtlich. Die Erfolgswertgleichheit der Stimmen ist also in zweierlei Hinsicht beeinträchtigt: Erstens gibt es keine landeseinheitliche Sperrklausel für den Einzug ins Parlament und zweitens sind die zu erreichenden Quoren teilweise unverhältnismäßig hoch.
Wieviele Parlamentssitze eine Liste erhält, bestimmt sich danach, das Wievielfache des Quorums sie an Stimmen auf sich vereinigen konnte. In Beirut II lag die Wahlbeteiligung bei 41,25%. Für ein Mandat mussten die Listen also mind. 15680 Stimmen erhalten. Die aus der schiitischen Hisbollah und Amal-Bewegung, sowie der christlichen Freien Patriotischen Bewegung des Präsidenten Michel Aoun bestehende Liste Wahdat Beirut (Beiruts Einheit) konnte vier Mandate erringen und hatte folglich entweder mind. 62720 Stimmen erhalten oder weniger, aber die meisten Reststimmen für ein Mandat, dessen Quorum auch von den anderen Listen verfehlt wurde. Genaue Statistiken fehlen. Sechs Mandate gingen an die aus der sunnitischen Zukunftsbewegung des Premierministers Saad Hariri und der Progressiven Sozialistischen Partei bestehende Liste Al Mustaqbal Li Beirut (Die Zukunft für Beirut). Ein weiterer Sitz gelang der Liste Lebnan Herzen (Libanon ist es wert). Welche Mitglieder der drei erfolgreichen Listen letztendlich ein Mandat erhielten, richtete sich nach der jeweiligen Anzahl an Präferenzstimmen. So landete Fouad Makhzoumi von Lebnan Herzen mit 11346 Stimmen auf dem dritten Platz der Sunniten und machte so der eigentlich dominierenden Zukunftsbewegung eines der sechs sunnitischen Mandate streitig.
Bleibt alles anders
Mit 49,2% fiel die Wahlbeteiligung insgesamt deutlich geringer aus als bei den letzten Parlamentswahlen vor neun Jahren (54%) – und das trotz des neuen, lang herbeigesehnten Wahlgesetzes. Das mag an der Zeit liegen, in der sich das Parlament von der legitimierenden Kraft der wählenden Bevölkerung emanzipierte indem es seine eigene Amtszeit verlängerte. Andererseits verebbte die Hoffnung auf politischen Wandel nach der Einigung auf das neue Wahlgesetz relativ schnell. Wer am 06. Mai wählen wollte, konnte dies zudem nur im eigenen Herkunftsort. Sich im Libanon umzumelden ist nahezu unmöglich. Manche blieben schon allein deshalb lieber Zuhause, andere um ihren Unmut auszudrücken. Viel ändern konnte das neue Wahlrecht auch deshalb nicht weil es um das System konfessioneller Parität herum konstruiert wurde. Dieses wird weiterhin ein wichtiger Bestandteil der politischen Ordnung bleiben. Zumindest vorerst.
Das Wahlgesetz war also kein großer Wurf und brachte doch leichten Wandel: Das libanesische Parlament ist repräsentativer als zuvor. Politische Minderheiten profitierten von der Kombination aus Verhältniswahl und Präferenzstimme. Statt „the winner takes it all“, wurden Parlamentssitze nun unter erfolgreichen Listen aufgeteilt. Einzelne Kandidat*innen konnten sich gegen Konkurrenz auf stärkeren Listen durchsetzen. So wurde beispielsweise im mehrheitlich schiitischen Wahlbezirk Baalbek-Hermel, der seit Ende des Bürgerkriegs von der Hisbollah gestellte maronitische Parlamentssitz von einem Politiker der prowestlichen und mehrheitlich christlichen Libanesischen Kräfte, gewonnen. Gleichwohl bauten Hisbollah und Amal-Bewegung ihre Mandate auf ein Drittel des Parlaments aus. Sitze einbüßen musste vor allem der amtierende Premierminister Saad Hariri mit seiner Zukunftsbewegung. Dies kann, ebenso wie der Stimmzuwachs der parlamentarisch bisher unterrepräsentierten Libanesischen Kräfte, vor allem dem neuen Wahlgesetz angerechnet werden.
Dennoch ist das Repräsentationsdefizit des libanesischen Parlaments längst nicht vollständig überwunden. Zwar stellten sich dieses Jahr mit 86 Frauen so viele wie noch nie zur Wahl (2009 waren es zwölf, vier davon wurden gewählt), tatsächlich geschafft haben es allerdings nur sechs. Die libanesische Politik bleibt eine Männerdomäne, weil nur wenige der großen Parteien Kandidatinnen aufgestellt haben. In das 128 Mandate starke Parlament geschafft haben es vor allem Frauen aus etablierten Politikerdynastien. Gleichzeitig ist mit den Krisen der letzten Jahre aber auch das Engagement der Zivilgesellschaft gewachsen, welches in den Parlamentswahlkampf zu übersetzen teilweise gelang. So waren die meisten Frauen auf Listen junger, überkonfessionell positionierter Bewegungen wie Kollouna Watani (Wir sind die Nation) zu finden, zu welcher sich gleich elf zivilgesellschaftliche Gruppierungen zusammengeschlossen hatten. Eine dieser Frauen ist Paula Yacoubian, der es als einziger gelang ein Mandat zu gewinnen. Sie oder die knapp am Einzug in das Parlament gescheiterte Joumana Haddad, stehen exemplarisch für eine Bewegung, die sich schon 2022 weitaus mehr Mandate verspricht.
Zitiervorschlag: Poll, Parlamentswahlen im Libanon: Neues Wahlrecht, alte Probleme?, JuWissBlog Nr. 48/2018 v. 23.5.2018, https://www.juwiss.de/48-2018/
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