von JONATHAN SCHRAMM
Der EGMR sieht in der Strafbarkeit des Mitführens von Schutzwaffen auf Demonstrationen einen Verstoß gegen Art. 11 EMRK. Die dazu letzte Woche ergangene Entscheidung aus Straßburg kritisiert das abstrakte Gefährdungsdelikt, wie es die Versammlungsgesetze der Länder und des Bundes unabhängig vom konkreten Versammlungsgeschehen vorsehen, und damit auch rechtspolitische Versuche, das Versammlungsrecht zum Gefahrenabwehrrecht umzudefinieren. Über die Pflicht völkerrechtsfreundlicher Auslegung (Rn. 62) könnte diese Argumentation Folgen auch für die einfachgesetzliche Auslegung der §§ 17a, 27 VersG und landesrechtlicher Parallelnormen entfalten.
…aber schützen verboten
Nach § 27 Absatz 2 Nummer 1 VersG macht sich strafbar, „wer bei Versammlungen entgegen § 17a VersG Gegenstände, die den Umständen nach dazu bestimmt sind, Vollstreckungsmaßnahmen eines Trägers von Hoheitsbefugnissen abzuwehren,“ mit sich führt. Vergleichbare Vorschriften enthalten auch die nach Art. 125a Absatz 1 GG das Versammlungsgesetz des Bundes ersetzende Versammlungsgesetze der Länder (z.B. Art. 20 Absatz 2 Nr. 5 BayVersG, § 27 Absatz 7 Satz 2 VersG NRW oder § 24 Absatz 2 Nr. 4 SächsVersG). In der Rechtsprechung erfüllten auch schon Tauchmasken oder ein Mundschutz den Tatbestand. Nach der Literatur soll es auch nicht darauf ankommen, ob Gegenstände nach außen in Erscheinung treten, sondern sie unter der Kleidung zu tragen (Rn. 11).
Ähnlich wie beim Begriff der Vermummung stellt sich die Praxis ganz grundsätzlich die Frage, wie rechtssicher festzustellen ist, dass ein x-beliebiger Gegenstand im Sinne des § 17a Var. 2 VersG zwar keine Schutzwaffe, aber „als Schutzwaffe[n] geeignet und den Umständen nach dazu bestimmt [ist], Vollstreckungsmaßnahmen eines Trägers von Hoheitsbefugnissen abzuwehren“ (dazu Verfassungsbeschwerde gegen BayVersG vom 15.09.2008 , S. 58 ff.).
Hintergrund des 1985 – parallel zum strafbewährten Vermummungsverbot – erlassenen Verbots von Schutzwaffen war nach der Gesetzesbegründung, dass „Teilnehmer, die solche Schutzwaffen mit sich führen […] aufgrund ihres martialischen Erscheinungsbildes eine offenkundige Gewaltbereitschaft [dokumentieren] und […] auf die Menge nach massenpsychologischen Erkenntnissen eine aggressionsstimulierende Wirkung aus[üben].“ (BT Drs. 10/3580, S. 4). Die Bundesregierung stand politisch unter Druck. Grund waren Vorfälle, bei denen Polizisten – aus damals erstmals so genannten „schwarzen Blöcken“ heraus – verletzt worden waren. Ob tatsächlich ein Zusammenhang zwischen Schutzwaffen und erhöhter Gewaltbereitschaft der Träger:in besteht, ist jedoch keineswegs sicher.
Auch verfassungsrechtlich ist die Strafnorm mit Blick auf das grundgesetzliche Bestimmtheitsgebot (Art. 103 Absatz 2 GG) und das Selbstbestimmungsrecht aus Art. 8 Absatz 1 GG, über die Form der kommunikativen Einwirkung selbst zu entscheiden (Rn. 26) kritikwürdig. So könne in dem Mitführen auch eine individuelle, von Art. 8 Absatz 1 GG geschützte Entscheidung für eine bestimmte Form der Kundgabe gesehen werden.
Plastikfrei – sei (nicht) dabei.
Trotzdem ist die Strafnorm bis heute in Kraft und bot im Mai 2017 die Rechtsgrundlage für ein Urteil des Amtsgerichts Frankfurt am Main, das den folgenden Sachverhalt betraf:
Frankfurt im März 2015: Ein Demonstrant spannt sich vor dem Gebäude der Europäischen Zentralbank ein biegsames, durchsichtiges Plastik mit einem Gummiband so um den Nacken, dass es die Augen bedeckt: ein Kunststoffvisier bedruckt mit den Worten: „smash capitalism“.
Der später von der Staatsanwaltschaft erhobene Vorwurf: Allein dieses hier beschriebene Verhalten, also das Tragen einer Plastikfolie. Nicht Weniger, aber nun mal auch nicht Mehr sollte ausreichen, um strafwürdiges Unrecht zu begründen. Die Begründung beschränkte sich folgerichtig auf die Beschreibung des Plastiks: Bei dem Kunststoffvisier handele es sich um einen als Schutzwaffe geeigneten Gegenstand. Die Konstruktion sei geeignet, zu verhindern, dass Augen Flüssigkeit oder Gas, insbesondere Pfefferspray, ausgesetzt werden. Die Fähigkeit seines Trägers, sich im Fall von Zwangsmaßnahmen durch die Polizei zu verteidigen, werde gewährleistet oder zumindest verlängert. Das Gericht folgte der Anklage und verurteilte den Angeklagten zu einer Geldstrafe (AG Frankfurt am Main, Urteil vom 3. Mai 2017 – 6150 Js 242289/15 POL).
Karlsruhe macht den Weg frei für Straßburg
Nachdem Landgericht (Urteil vom 20. März 2019 – 5/5 Ns – 6150 Js 242289/15 (68/17)) und Oberlandesgericht Frankfurt am Main (Beschlüsse vom 13. und 27. August 2019 – 1 Ss 214/19) die Revision gegen das Urteil zurückgewiesen hatten, war der Weg nach Karlsruhe eröffnet (§ 90 Absatz 2 Satz 1 BVerfGG). Das Bundesverfassungsgericht verzichtete jedoch – wie bei der überwiegenden Anzahl nicht zur Entscheidung angenommener Verfassungsbeschwerden – auch in diesem Fall darauf, klarzustellen, ob die Nichtannahme auf der Unzulässigkeit oder aber offensichtlichen Unbegründetheit beruhe (Beschluss vom 18. März 2020 – 2 BvR 1796/19). Und machte damit den Weg nach Straßburg frei; nimmt der EGMR Fälle doch erst an, wenn der Rechtsweg im Nationalstaat ausgeschöpft ist, was schon dann nicht der Fall sein soll, wenn ein nationales Rechtsmittel bereits wegen Unzulässigkeit scheitert (Rn. 65; EGMR, Entscheidung vom 1. Juni 2010 – 22978/05 [Gäfgen v. Germany], Rn. 142). Aus der fehlenden Begründung der Nichtannahmeentscheidung in Karlsruhe folgte die Annahmepflicht in Straßburg.
Kein Schutz für niemanden notwendig?
Zum materiellen Inhalt der Entscheidung (Entscheidung vom 20. Mai 2025 – 44241/20 [Russ v. Germany]): Nachdem das Gericht zunächst auf das Verhältnis von Meinungsfreiheit (Art. 10 EMRK) und Versammlungsfreiheit (Art. 11 EMRK) eingeht (Rn. 33-35), konzentriert es sich darauf, wann Eingriffe in die Versammlungsfreiheit abstrakt gerechtfertigt sein sollen. Zunächst stellt der EGMR klar, dass der Einzelne sein Recht auf Versammlungsfreiheit nicht dadurch verliere, dass es durch andere auf der Versammlung Anwesenden zu Gewalt komme (Rn. 36-37). Darüber hinaus enthalte das angegriffene Urteil aus Deutschland keine Ausführungen dazu, dass die Versammlung, auf der sich der Verurteilte befand, überhaupt unfriedlich gewesen sei, oder er selbst sich so verhalten habe (Rn. 38-40).
Im zweiten Schritt stellt der EGMR drei Bedingungen auf, die erfüllt sein müssen, um Eingriffe in die Versammlungsfreiheit zu rechtfertigen. Die Voraussetzungen, unter denen ein solcher erfolgen darf, müssten ausreichend bestimmt sein („prescribed by law“, Rn. 43-47). Es bedürfe eines legitimes Zwecks. Und schließlich müsse der Eingriff wegen der besonderen Bedeutung der Versammlungsfreiheit für die Demokratie „in einer demokratischen Gesellschaft notwendig“ sein (Rn. 42).
Während das Fehlen von vorangegangenen Entscheidungen zur Einstufung eines Kunststoffvisiers als Schutzwaffe noch keinen Verstoß gegen das Bestimmtheitsgebot begründe (Rn. 43-47) und die Verhütung von Unruhen und Straftaten sowie der Schutz der Rechte und Freiheiten anderer legitime Zwecke seien (Rn. 48-49), habe es Deutschland unterlassen, darzulegen, warum das Tragen des Visiers eine Bedrohung der öffentlichen Sicherheit darstellte, die in einer demokratischen Gesellschaft eine strafrechtliche Verurteilung erforderlich mache (Rn. 55).
Schutz der statt vor der Versammlung durch ausreichend bestimmte Straftatbestände
Die Entscheidung unterstreicht die zentrale Bedeutung der Versammlungsfreiheit für die Demokratie. Art. 11 EMRK (und Art. 8 GG) schützt nicht nur das individuelle Recht auf kollektive Meinungsäußerung, sondern bildet ein wesentliches Korrektiv staatlicher Macht.
Indem der EGMR das pauschale Verbot des Mitführens sogenannter „Schutzwaffen“ auf Versammlungen – etwa in Form von Kunststoffvisieren – als konventionswidrig rügt, kritisiert er eine sicherheitsorientierte Umdeutung des Versammlungsrechts in ein Instrument der Gefahrenabwehr. Weit gefassten Verbote entfalten eine abschreckende Wirkung, verletzen das Bestimmtheitsgebot und untergraben die Selbstbestimmung über die Form von Protest.
Die Entscheidung fordert stattdessen eine Bindung staatlicher Eingriffe an gesetzlich klar definierte Voraussetzungen, legitime Ziele und demokratische Notwendigkeiten. Gerade in angespannten gesellschaftlichen Zeiten sind es Versammlungen, die als Frühwarnsystem und Orte demokratischer Partizipation fungieren. Der Versuch, Protest durch die Vermutung von Gewaltbereitschaft zu kriminalisieren, schwächt die Demokratie. Ein lebendiger Staat braucht engagierte, am Diskurs auf Versammlungen partizipierende Bürger:innen – nicht ihre „Entwaffnung“ durch unbestimmte und damit abschreckende Androhung von Strafe.
Zitiervorschlag: Schramm, Demokratie nicht vor, sondern hinter Plastik schützen, JuWissBlog Nr. 53/2025 v. 11.06.2025, https://www.juwiss.de/53-2025/
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