von EMMA BARTMANN und CHRISTINA JACOBS
Die europäische Sicherheitslage hat sich in den letzten Jahren drastisch verändert. Nicht zuletzt durch die russische Kriegsführung gegen die Ukraine seit Februar 2022, haben sich die Rufe nach einem militärischen, und von der NATO unabhängigen, Beistandssystem zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union verstärkt. Aus diesem Anlass untersucht dieser Beitrag die Voraussetzungen und Rechtsfolgen der unionsrechtlichen Beistandsklausel (Art. 42 VII EUV) im Vergleich zum NATO-Bündnisfall (Art. 5 Nordatlantikvertrag), auch vor dem Hintergrund eines möglichen EU-Beitritts der Ukraine.
Der Bündnisfall nach Art. 5 Nordatlantikvertrag
Im Gegensatz zu der EU handelt es sich bei der NATO um ein reines Militärbündnis aus 32 europäischen und nordamerikanischen Staaten. Ein wesentliches Element der NATO ist die in Art. 5 des Nordatlantikvertrags niedergeschriebene Klausel zur kollektiven Verteidigung. Dieser zufolge wird „ein bewaffneter Angriff gegen eine oder mehrere [der Vertragsparteien] […] als ein Angriff gegen sie alle angesehen werden“. Jeder NATO-Mitgliedstaat soll einem angegriffenen Mitgliedstaat beistehen. Dieses Solidaritätsbekenntnis der NATO-Staaten zueinander ist zwar wesentliche Grundlage der Wahrnehmung der NATO als ernstzunehmendes Verteidigungsbündnis. Tatsächlich weist das System rund um Art. 5 Nordatlantikvertrag jedoch eine ganze Reihe an Schwachstellen auf. So muss die „Ausrufung” eines Bündnisfalls gem. Art. 5 Nordatlantikvertrag durch einen einstimmigen Beschluss des NATO-Rates (bestehend aus Vertreter*innen aller Mitgliedstaaten) erfolgen, und ist damit anfällig für Meinungsverschiedenheiten. Probleme könnten zudem im Falle eines Angriffs eines NATO-Mitgliedstaats auf einen anderen entstehen.
Selbst bei Einstimmigkeit ist das tatsächliche Ausmaß der Unterstützung aber weiterhin unklar. Art. 5 Nordatlantikvertrag stellt ausdrücklich fest, dass eine Vertragspartei nur diejenigen Maßnahmen treffen muss, „die sie für erforderlich erachtet, um die Sicherheit des nordatlantischen Gebiets wiederherzustellen“. Wenngleich die Vorschrift militärische Gewalt in diesem Falle ausdrücklich erwähnt, bleibt es letztlich den Staaten überlassen, ob sie überhaupt tätig werden wollen, geschweige denn militärische Unterstützung leisten wollen. Zwar verfügt die NATO über mehrere militärisch gut ausgerüstete und einsatzbereite Mitgliedstaaten, jedoch gibt es zwischen diesen auch starke Divergenzen zu innen- und außenpolitischen Fragen. So wurde die Unterstützung der USA als militärische Großmacht lange als Grundstein des NATO-Systems angesehen, erschien zuletzt aber zunehmend ungewiss.
Eine neue Sicherheitslage in Europa
Anders als Art. 5 Nordatlantikvertrag, ist die EU-Beistandsklausel relativ selten Gegenstand des öffentlichen, aber auch rechtswissenschaftlichen Diskurses. Die Beistandsklausel aus Art. 42 VII EUV sieht im Falle eines bewaffneten Angriffs auf das Staatsgebiet eines EU-Mitgliedsstaats Hilfe und Unterstützung der anderen Mitgliedsstaaten vor. Diese Klausel könnte insbesondere im Falle eines (in der Vergangenheit immer wieder diskutierten) EU-Beitritts der Ukraine verstärkt an Bedeutung gewinnen. Hinzu kommen die durch die Wiederwahl von US-Präsident Trump (erneut) aufgekommenen Zweifel an der Bereitschaft der USA, ihren Verpflichtungen aus Art. 5 Nordatlantikvertrag im Konfliktfall nachzukommen. Letztlich bieten auch die wiederholten Anspielungen Trumps auf eine amerikanische Annexion Grönlands Anlass, Eigenständigkeit und Effektivität des EU-Verteidigungssystems im Vergleich zum NATO-System zu untersuchen.
Die Beistandsklausel des Art. 42 VII EUV im Vergleich
Neben dem Angriffskrieg auf die Ukraine tragen auch diese Entwicklungen dazu bei, dass die EU-Beistandsklausel wieder ins Blickfeld rückt. Sie wurde mit dem Ziel, gemeinsame europäische Verteidigungsstrukturen zu schaffen, im Vertrag von Lissabon eingeführt. Im Falle eines bewaffneten Angriffs auf das Staatsgebiet eines Mitgliedstaats, „schulden die anderen Mitgliedstaaten ihm alle in ihrer Macht stehende Hilfe und Unterstützung” im Einklang mit Art. 51 der UNCh. Zum bislang ersten und einzigen Mal berief sich 2015 mit Frankreich, nach den Terroranschlägen in Paris 2015, ein Mitgliedstaat (nicht ganz unummstritten) auf die Beistandsklausel.
Anders als Art. 5 Nordatlantikvertrag und Art. 51 UNCh, der das Recht individueller und kollektiver Selbstverteidigung im Falle eines Angriffs vorsieht, setzt die Klausel in der englischen Sprachfassung eine bewaffnete „Aggression” und keinen bewaffneten Angriff voraus. Hieraus sollte jedoch nicht geschlossen werden, dass möglicherweise geringere Anforderungen an die Aktivierung der Klausel bestehen. Vielmehr unterscheidet sich der Wortlaut je nach Sprachfassung, und stimmt etwa im Falle der deutschen Sprachfassung, mit den (allerdings nicht verbindlichen) deutschen Versionen des Nordatlantikvertrags und der UNCh überein, während etwa die französischen Sprachfassungen von Art. 42 VII EUV and Art. 51 UNCh identisch sind, sich aber wiederum von Art. 5 Nordatlantikvertrag unterscheiden. Wenngleich eine niedrigere „Aktivierungsschwelle” der EU-Beistandsklausel deren eigenständige Bedeutung gegenüber Art. 5 Nordatlantikvertrag erhöhen würde, ist angesichts des Charakters der EU als wirtschaftlicher und politischer Zusammenschluss nicht davon auszugehen, dass dies ein beabsichtigtes Ergebnis wäre. Es sollte daher angenommen werden, dass der Wortlaut eher sprachliche Unterschiede als inhaltliche Abweichungen widerspiegelt.
In räumlicher Hinsicht muss der bewaffnete Angriff auf das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats erfolgen. Umstritten, und aus aktuellem Anlass umso bedeutender, ist die Frage, ob die Klausel auch auf Gebiete Anwendung findet, die zwar zum Staatsgebiet eines Mitgliedstaats gehören, jedoch außerhalb des europäischen Kontinents liegen und für sich nicht Teil der EU sind, wie etwa Grönland. Grönland gehört als autonomes Gebiet Dänemarks zum dänischen Staatsgebiet und zu den „überseeischen Ländern und Gebieten” der EU, nicht jedoch zur EU selbst. Wenngleich Grönland sich daher (als nicht EU-Mitglied) nicht selbst auf die Klausel berufen könnte, wäre Dänemark, das für die grönländische Außen- und Verteidigungspolitik zuständig ist, als EU-Mitglied berechtigt, dies zu tun.
Liegt ein bewaffneter Angriff auf das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats vor, „schulden” die anderen Mitgliedstaaten “ihm alle in ihrer Macht stehende Hilfe und Unterstützung”. Wenngleich militärische Hilfe in Art. 42 VII EUV nicht ausdrücklich erwähnt wird, sprechen sowohl die systematische Einordnung der Beistandsklausel im Kapitel über die GASP wie auch der Verweis auf Art. 51 UNCh dafür, dass die nach der Beistandsklausel zu ergreifenden Maßnahmen sowohl militärische als auch anderweitige Hilfe umfassen können. Im Unterschied zu Art. 5 Nordatlantikvertrag begründet Art. 42 VII EUV daher eine tatsächliche Beistandspflicht der Mitgliedstaaten, unabhängig davon, ob sie ihren Beistand als erforderlich einschätzen. Möglich bleiben jedoch mitgliedstaatliche Ausnahmeregelungen (siehe zB die opt-outs von Dänemark und Österreich). Art. 42 VII UAbs. 2 EUV trägt somit dem Umstand Rechnung, dass es sich bei der Verteidigungspolitik um einen politisch besonders sensiblen Bereich handelt. Die grundsätzliche Beistandspflicht wird ferner dadurch abgeschwächt, dass die Mitgliedstaaten nur verpflichtet sind, die „in ihrer Macht stehende” Unterstützung zu leisten. Dies erlaubt es ihnen, Mittel und Umfang ihrer Unterstützung zu wählen.
Eine europäische Verteidigungsunion?
Die EU hat bereits in den letzten Jahrzehnten zunehmend versucht, ihre Rolle im Verteidigungsbereich zu stärken. Vor dem Hintergrund der eingangs erwähnten Umstände, kamen besonders in den letzten Jahren verstärkt Rufe nach einer „strategischen Autonomie“ und der Gründung einer „Europäischen Verteidigungsunion” laut. Auch ein Änderungsvorschlag des Europäischen Parlaments vom November 2023 schlug u.a. die formale Einrichtung einer „Verteidigungsunion“ unter Art. 42 III EUV vor, die militärische Einheiten unter operativer Führung der EU umfasst. Die tatsächliche Umsetzung dieses Vorschlags erscheint derweil ungewiss. Zwar herrscht unter den Mitgliedstaaten weitgehend Konsens, dass die EU ihre Widerstands- und Verteidigungsfähigkeiten verbessern muss. Eine verstärkte Integration im Verteidigungsbereich bleibt jedoch aufgrund der politischen Sensibilität und unterschiedlicher Neutralitäts- und Verteidigungsvorstellungen einzelner Mitgliedstaaten eine Herausforderung. Zudem werfen die Vorschläge des Parlaments auch Fragen bezüglich der Verteilung der Kompetenzen und der spezifischen Rolle der EU im Krisenfall auf. Denn die vorgeschlagene Verteidigungsunion würde auch bedeuten, dass die EU zukünftig eine aktive Rolle in der Verteidigung übernimmt, anstatt lediglich die Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten zu erleichtern. Angesichts der historischen Skepsis gegenüber der Schaffung einer europäischen Armee, erscheint es höchst fraglich, ob die Mitgliedstaaten tatsächlich bereit wären, Befehlsgewalt an die EU zu übertragen.
Fazit
Die Entwicklungen in Europa in den letzten Jahren haben die Verteidigungspolitik in der EU notwendigerweise in den Vordergrund gerückt. Neben der Erhöhung der Verteidigungsausgaben auf nationaler wie europäischer Ebene, wird auch über eine Abkehr vom „NATO-first“-Prinzip zugunsten eigenständiger europäischer Verteidigungsstrukturen diskutiert – auch wenn stark zu hoffen bleibt, dass diese trotz der aktuellen Lage nicht zum Einsatz kommen müssen. Die Beistandsklausel der EU stellt in diesem Zusammenhang ein zentrales Instrument dar, das – entgegen der weit verbreiteten Annahme – einen (zumindest rechtlich) verbindlicheren Beistand vorsieht als Art. 5 Nordatlantikvertrag. In Bezug auf einen möglichen EU-Beitritts der Ukraine wird die Beistandsklausel oft als Problem angeführt. Dabei ist jedoch zu berücksichtigen, dass der Großteil der Mitgliedstaaten bereits jetzt umfangreiche militärische und anderweitige Unterstützung leisten. Die Verpflichtungen im Rahmen der EU-Beistandsklausel wären hierdurch bereits erfüllt, während die militärische Entsendung von Truppen weiterhin im Ermessen der Mitgliedstaaten läge. Die Beistandsklausel sollte somit nicht als unüberwindbares Hindernis für einen ukrainischen EU-Beitritt angesehen werden.
Zitiervorschlag: Bartmann, Emma, und Christina Jacobs, Alle für eine*n? Bündnisfälle im EUV und Nordatlantikvertrag, JuWissBlog Nr. 55/2025 v. 19.06.2025, https://www.juwiss.de/55-2025/
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