Die dritte Etappe: Das Inkrafttreten des verfassungswidrigen Gesetzes vom 30.03.2020
Nachdem man sich in dem ersten Teil des Beitrags mit der Kommunalwahl und der unklaren Ausgangssperre auseinandergesetzt hat, wird das Inkrafttreten des verfassungswidrigen Gesetzes vom 30.03.2020 die dritte Etappe des Rückgangs der Demokratie in Frankreich charakterisieren. Dieses gravierende juristische Ereignis kann nur in Anbetracht des sanitären Ausnahmezustands analysiert werden.
Der sanitäre Ausnahmezustand
Anstatt die sanitäre Krise mit Maßnahmen im Rahmen des Gesundheitsgesetzes zu bewältigen, hat die Regierung einen sanitären Ausnahmezustand verhängt, der ihre Kompetenzen für zwei Monate exorbitant ausweitet.
Dieses sanitäre Ausnahmezustandsgesetz ist in einer Geschwindigkeit, die höchstwahrscheinlich gegen Art. 44 Abs. 1 Satz 1 der Verfassung verstößt, debattiert worden. Problematisch ist auch, dass 18 Abgeordnete der Assemblée nationale aufgrund ihrer Corona-Infektion nicht an der Debatte teilnehmen könnten. Zusätzlich zu diesen Problemen ist aus demokratischer Sicht fragwürdig, dass der Regierung – wie durch das Gesetz Nr. 2020-290 vom 23.03.2020 – die Kompetenz übertragen wird, Normen – sei es im Arbeitsrecht, Gesundheitsrecht, usw. – ohne weitere Kontrolle zu modifizieren.
Die Methode des Ausnahmezustandsgesetzes ist für die Demokratie sehr gefährlich. Es kann z.B. gefragt werden ob die im Ausnahmezustandsgesetz eingeführten Sanktionen für einen Verstoß gegen die Ausgangsperre, die zu einem Bußgeld von bis zu 3750 Euro plus bis zu 6 Monaten Freiheitstrafe plus gemeinnütziger Arbeit plus bis zu 3 Jahre Fahrverbot führen können, gegen das Doppelbestrafungsverbot verstoßen. Ferner dürfen die Maßnahmen auf lokaler Ebene auf Grund des Coronavirus weiter verschärft werden, sodass es zum Beispiel in Paris zwischen 10 und 19 Uhr verboten ist, Sport zu treiben, während in anderen Départements Tage lang nur eine Person allein unterwegs sein durfte, womit sich auch Ehepaare nicht mehr gemeinsam in der Öffentlichkeit bewegen durften.
Das Gesetz vom 30.03.2020
Noch problematischer ist das Gesetz (sog. loi organique) vom 30.03.2020 Nr.2020-365, weil dieses noch deutlicher verfassungswidrig ist, obwohl der Verfassungsrat in der Not die beiden Augen zugedrückt hat*. Es ist in Kraft getreten, ohne dass das parlamentarisches Verfahren des Art. 46 der französischen Verfassung, wonach „der Gesetzentwurf oder Gesetzesvorschlag der zuerst befassten Kammer jedoch nicht vor Ablauf von fünfzehn Tagen nach seiner Einbringung zur Beratung vorgelegt werden [kann]“, befolgt wurde. Zudem verstößt das Gesetz vom 30.03.2020 gegen Art. 61-1 der französischen Verfassung, weil die dort gesetzte Frist, innerhalb derer der Verfassungsrat anlässlich eines anhängigen Gerichtsverfahrens vom Staatsrat oder Kassationshof mit der Frage des Verstoßes einer gesetzlichen Bestimmung gegen die von der Verfassung garantierten Rechte und Freiheiten befasst werden kann, suspendiert wurde. Diese verfassungswidrige Suspendierung der Dreimonatefrist der Art. 23-4, 23-5 und 23-10 der Ordonnance n° 58-1067 bis zum 30.06.2020 macht die Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit einer gesetzlichen Bestimmung während des Ausnahmezustandes unmöglich.
Diese Suspendierung der Frist, weil die Kollegialität der Entscheidungen gemäß Art. 23-4, 23-5 und 23-10 auf Grund des Coronavirus nicht mehr möglich sei, ist umso kritischer, weil in einem Ausnahmezustand nicht weniger, sondern mehr Verfassungsmäßigkeitskontrolle nötig ist, um die Rechte und Freiheiten weiter zu garantieren. Die Suspendierung der Dreimonatefrist verstößt ebenfalls gegen Art. 16 der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte vom 1789 wonach „eine jede Gesellschaft, in der weder die Gewährleistung der Rechte zugesichert noch die Gewaltenteilung festgelegt ist, keine Verfassung [hat]“.
Schlussbemerkung
Mit dieser sanitären Krise und dem eingeführten Ausnahmezustandsgesetz wanken in Frankreich die Verfassung und die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte vom 1789 als tiefste Wurzeln der Demokratie und des Rechtstaats. Die erneute Verlängerung der Ausgangssperre, welche Präsident Macron am 13.04.2020 angekündigte, sendet ein falsches Signal. Denn sie erweckt den Eindruck, dass die Regierung faktisch vom Präsidenten verdrängt wird, obwohl er nicht im Rahmen des Art. 16 der französischen Verfassung agiert. Diese Lage verstärkt den Eindruck einer autoritären Dimension des Regimes, welches auf Kosten der Demokratie versucht, politisch Zeit zu gewinnen, um Kritik zu vermeiden und eigene Schwächen nicht ans Licht zu bringen. Da die Ausgangssperre so tief in das demokratische Leben eines Staats eingreift, ist sie nicht nur in Deutschland sondern auch in Frankreich nur als letztes Mittel und unter Wahrung der Verhältnismäßigkeit einzusetzen, damit sie auch vom Volk akzeptiert wird und soziale Ungleichheiten nicht verstärkt.
[* Ergänzung vom 4. Mai 2020: Auf Wunsch des Autors wurde dieser Nebensatz mit direktem Hinweis auf die Décision n° 2020-799 DC du 26 mars 2020 des Conseil Constitutionnel ergänzt.]
Zitiervorschlag: Geoffrey Juchs, Bericht eines beängstigenden Rückgangs der Demokratie in Frankreich: Von der chaotischen Kommunalwahl am 15.03.2020 bis zum Inkrafttreten des verfassungswidrigen Gesetzes vom 30.03.2020 (Teil 2), JuWissBlog Nr. 65/2020 v. 24.04.2020, https://www.juwiss.de/65-2020/.
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