Politische Briefkastenwerbung in Pandemiezeiten

von RAVEN KIRCHNER

In Pandemiezeiten sind die Möglichkeiten des Wahlkampfs für Bewerber*innen um politische Ämter stark eingeschränkt. Klassische Infostände, thematische Veranstaltungen, das Verteilen von Werbematerialien und Hausbesuche sind (wenn überhaupt) nur eingeschränkt möglich. Neben digitalen Wahlkampfformaten gewinnt daher die klassische Briefkastenwerbung als kontaktlose Werbeform an Bedeutung. Der Beitrag geht vor dem Hintergrund der anstehenden hessischen Kommunalwahlen im März 2021 der rechtlichen Bewertung von Briefkastenwerbung nach und fordert ein diesbezügliches Umdenken.

Ausgangslage

Am 14. März 2021 finden in Hessen Kommunalwahlen statt. Doch an klassischen Wahlkampf ist in Zeiten der COVID-19-Pandemie nicht zu denken. Nach § 1 Abs. 1 S. 1 der hessischen Corona-Kontakt- und Betriebsbeschränkungsverordnung (CoKoBeV) in der Fassung vom 26.11.2020 sind Aufenthalte im öffentlichen Raum nur alleine oder mit den Angehörigen des eigenen oder eines weiteren Hausstandes bis zu einer Gruppengröße von höchstens fünf Personen gestattet. Damit wären Infostände unter Einhaltung des Abstandsgebots nach § 1 Abs. 1 S. 2 CoKoBeV zwar grundsätzlich zulässig. Doch ein Blick auf die aktuellen Infektionszahlen und die mahnenden Worte aus Politik und Medizin machen deutlich, dass ein gewöhnliches Aufkommen an Infoständen nicht zu erwarten ist. Viele Wahlberechtigte verbringen ihre Zeit im Home-Office und gehen nur für die nötigsten Erledigungen vor die Tür. Das Verteilen von Werbematerialien im öffentlichen Raum erweist sich unter Einhaltung der Regelungen des § 1 CoKoBeV (insb. des Mindestabstands von 1,5 Metern) zwar ebenso als grundsätzlich zulässig, doch auch hier stellt sich das Problem der „leeren Straßen“. Diesem könnte man durch gezielte Hausbesuche aus dem Weg gehen, doch gerade in engen Treppenhäusern ist die Einhaltung von Abstandsregelungen schwierig. Zudem werden nur wenige Wähler*innen begeistert sein, an der Tür über anstehende Wahlen und die Ziele politischer Parteien zu diskutieren. Unter diesen Bedingungen gewinnt der digitale Raum an besonderer Bedeutung. Thematische Veranstaltungen, wie z.B. Diskussionspodien verlagern sich ebenso dorthin, wie Informationen über die politischen Inhalte und Ziele der Kandidaten. Zwar steigt die Zahl der Internetnutzer in Deutschland nach der jüngsten Onlinestudie von ARD und ZDF kontinuierlich und vor allem bei Personen ab 60 Jahren an. Doch Kandidatenwebseiten, Facebookseiten und Instagramaccounts müssen bewusst aufgerufen werden, um ihre Inhalte vermitteln zu können. Kandidatenplakate sind freilich allgemein sichtbar, können jedoch die politischen Inhalte, wenn überhaupt, nur stark verkürzt wiedergeben. Vor diesem Hintergrund erscheint das klassische Einwerfen von Flyern in die Briefkästen als kontaktlose und gleichzeitig effektive Maßnahme, da hiermit nahezu alle Wähler erreicht werden können und somit die Möglichkeit der Kenntnisnahme der politischen Inhalte besteht. Es handelt sich um ein Wahlkampfmittel von beträchtlicher Bedeutung.

Die rechtliche Einordnung von politischer Briefkastenwerbung

Die Zulässigkeit politischer Briefkastenwerbung folgt den Grundsätzen zum Unterlassungsanspruch bei erkennbar unerwünschtem Einwurf von Werbematerial. Danach stellt die Übersendung von Werbematerial trotz eines erklärten entgegenstehenden Willens (i.d.R. durch den Hinweis „Keine Werbung“ auf dem Briefkasten) eine Besitz- bzw. Eigentumsstörung und darüber hinaus eine Störung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts dar und löst damit einen Abwehranspruch nach §§ 903, 862, 823 I, 1004 BGB aus (vgl. BGHZ 106, 229 (233)). Dies soll nach dem OLG Bremen (Urteil vom 18. Juni 1990 – Az. 6 U 1/90) und dem KG Berlin (Urteil vom 21. September 2001 – Az. 9 U 1066/00) ausdrücklich auch im Falle politischen Werbematerials gelten. Beide Gerichte gingen in ihren Entscheidungen davon aus, dass das Recht der Parteien, an der politischen Willensbildung des Volkes mitzuwirken (Art. 21 Abs. 1 GG) eine unterschiedliche Behandlung von Konsumwerbung und politischer Werbung nicht rechtfertige. Den Bürger träfe keine Pflicht, sich von den Parteien informieren lassen zu müssen. Dies gelte bereits für den ersten unerwünschten Einwurf von entsprechenden Werbematerialien.

Gegen die Entscheidung des KG wandte sich seinerseits die beklagte Partei mittels Verfassungsbeschwerde an das Bundesverfassungsgericht. Dieses nahm die Beschwerde jedoch mangels Erfolgsaussichten nicht zur Entscheidung an. In den Entscheidungsgründen erklärte es, dass die fachgerichtliche Auslegung einen Verfassungsverstoß nicht erkennen ließe. Die Werbung mittels Flyer falle zwar in den Schutzbereich der Parteifreiheit nach Art. 21 Abs. 1 GG und sei insbesondere für kleinere Parteien von besonderer Bedeutung. Gleichwohl habe das KG die Bedeutung sowohl der Parteifreiheit als auch der in Art. 5 Abs. 1 GG verankerten Meinungsfreiheit nicht verkannt, sondern sie im Wege der praktischen Konkordanz mit dem Interesse des Betroffenen, von unerwünschter politischer Werbung in seinem Hausbriefkasten verschont zu bleiben (Art. 2 Abs. 1 GG), in verfassungsrechtlich nicht zu beanstandender Weise gegeneinander abgewogen. Diese Abwägung führe nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts auch nicht zu einer generellen Unmöglichkeit politischer Wahlwerbung, da nur solche Briefkästen betroffen seien, die einen Einwurf von Werbung untersagen.

Ähnliches soll nach einem rechtskräftigen Urteil des LG München I (Urteil vom 5. November 2002 – Az. 33 O 17030/02) auch für unaufgeforderte Werbe-E-Mails von Parteien gelten.

Kritik

Das Recht auf Wahlkampfführung wird unterschiedlich begründet. Für Parteien ließe es sich aus Art. 21 Abs. 1 GG herleiten. Damit wären jedoch Wählergruppen (vgl. § 10 Abs. 2 KWG Hessen) nicht erfasst, weshalb das Recht auf Wahlkampfführung in der Literatur auch aus Art. 38 Abs. 1 GG (ggf. iVm. Art. 28 Abs. 1 GG) abgeleitet wird (vgl. Friehe, NVwZ 2016, 887 (888 f.). Schließlich kann es auch aus der Meinungsfreiheit des Art. 5 Abs. 1 GG hergeleitet werden, wobei Art. 38 Abs. 1 GG (ggf. iVm. Art. 28 Abs. 1 GG) als vorbehaltlose Gewährleistung hier die Meinungsfreiheit überlagert.

Doch unabhängig von der Frage der dogmatischen Verankerung des Rechts auf Wahlkampfführung vermag die dargestellte Rechtsprechung zu politischer Briefkastenwerbung nicht zu überzeugen. Die Problematik ist seit Jahrzehnten immer wieder Gegenstand kontroverser Auseinandersetzungen, betrifft sie doch das elementare Verhältnis von Persönlichkeitsrecht und Grundlagen eines demokratischen Parteien- bzw. Wählergruppenstaates (Briefkastenwerbung unzulässig: Fuchs/Simanski, NJW 1990, 2983; Briefkastenwerbung zulässig: Löwisch, NJW 1990, 437; Brocker, NJW 2002, 2072).

Die Gleichsetzung von Konsumwerbung mit Briefkastenwerbung politischer Bewerber verkennt zunächst, dass Konsumwerbung kommerzielle Zwecke verfolgt und daher nur unter den deutlich schwächeren Schutz des Art. 12 Abs. 1 GG fällt, wohingegen Flyer politischer Bewerber als „in der Massendemokratie unerläßliche Wahlpropaganda“ anzusehen sind, wie es das Bundesverfassungsgericht selbst einst formulierte (vgl. BVerfGE 47, 198 (225)). Eine Gleichsetzung scheitert daher bereits aufgrund eines grundgesetzlich unterschiedlichen Schutzstandards.

Die Eingriffsintensität politischer Briefkastenwerbung ist zudem sehr gering. Zum einen ist Adressat der Werbung nicht gezwungen sich mit dem Inhalt auseinanderzusetzen. Zum anderen wird politische Briefkastenwerbung im Vergleich zu Konsumwerbung deutlich seltener und zumeist vor Wahlen zugestellt, was nicht zuletzt aus den im Vergleich zur Werbewirtschaft geringeren finanziellen Mitteln der Parteien und Wählervereinigungen resultiert. Eine Flut politischer Briefkastenwerbung ist daher auch nicht zu erwarten. Politische Briefkastenwerbung weist des Weiteren unabhängig der konkreten Inhalte den Bürger regelmäßig darauf hin, dass eine Wahl ansteht und erfüllt damit eine in Zeiten steigender Politikverdrossenheit (insb. in Bezug auf Kommunalwahlen) demokratiesichernde Funktion. Das Recht des Bürgers auf sog. „negative Informationsfreiheit“ kann ähnlich der Rechtsprechung zur negativen Religionsfreiheit nicht als uneinschränkbares „Obergrundrecht“ verstanden werden, sondern muss stets mit kollidierenden Verfassungsgütern abgewogen werden.

Die Versendung der Flyer als E-Mail scheidet als Alternative aus. Erreicht werden kann mit dieser Form nämlich nur ein ungleich geringeres Publikum. So dürften die Parteien nach den datenschutzrechtlichen Bestimmungen die Flyer per E-Mail nur an solche Personen versenden, die zu diesem Zweck ihre E-Mail-Adresse hinterlassen haben. Erfahrungsgemäß werden dies aber nur politisch (an dieser Partei) Interessierte sein, so dass die breite Bevölkerung gerade nicht erreicht wird.

Besonders in Pandemiezeiten, in denen eine Vielzahl anderer Wahlkampfmittel nur eingeschränkt oder gar nicht zur Verfügung stehen, ist die Bedeutung der kontaktlosen Briefkastenwerbung als Wahlkampfmittel nicht zu unterschätzen. Der Hinweis von Kersten/Rixen (vgl. Kersten/Rixen, Der Verfassungsstaat in der Corona-Krise, S. 97 f.), wonach die Parteien digitale Politikangebote bisher „sträflich vernachlässigt“ haben und diese in Pandemiezeiten einen Wahlkampf gleichwohl ermögliche, kann aufgrund der Notwendigkeit eines bewussten Aufrufens der Webseiten nicht überzeugen.

Rechtspolitik

Aufgrund der immensen Bedeutung von Wahlen für unseren demokratischen Rechtsstaat erscheint es angezeigt, politische Briefkastenwerbung spezialgesetzlich für zulässig zu erklären, so dass ihr zivilrechtliche Abwehransprüche nicht entgegengehalten werden können. Dies würde letztlich auch der Chancengleichheit der Parteien dienen. Denn während einige Parteien und Wählergruppen aufgrund der dargelegten Rechtsprechung von der Verteilung politischer Briefkastenwerbung absehen, bedienen sich andere ohne weiteres dieses Mittels und vertrauen darauf, dass die Bürger dies, ohne rechtliche Schritte einzuleiten, hinnehmen.

 

Transparenzhinweis: Der Autor kandidiert im Rahmen der hessischen Kommunalwahl für die Frankfurter Stadtverordnetenversammlung. Der Beitrag gibt die persönliche Meinung des Autors wieder.

 

Zitiervorschlag: Raven Kirchner, Politische Briefkastenwerbung in Pandemiezeiten, JuWissBlog Nr. 138/2020 v. 10.12.2020, https://www.juwiss.de/138-2020/.

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