Die Rolle der Juristen in der Corona-Krise
von BJÖRN ENGELMANN
Wer als Jurist oder Rechtsphilosoph* dieser Tage seine abonnierten Rechtsnewsletter liest und sich auf Plattformen wie „Legal Tribune Online“, „JuWiss“, „Verfassungsblog“ oder in der „beck-community“ bewegt, der wird förmlich überschwemmt von einer Flut an Beiträgen zu – Sie werden es ahnen – dem omnipräsenten „C-Wort“. Doch dürfen Juristen und Rechtsphilosophen in der derzeitigen hochkomplexen Gemengelage von Medizin, Recht, Ethik und Politik in der Corona-Krise ihre Stimme überhaupt allzu laut erheben? Aus meiner Sicht lautet die Antwort eindeutig, „ja“, denn es gibt dafür gute Gründe. Manche davon sind banal, manche weniger.
- Ich beginne zunächst mit den banalen. Auch wir Juristen sind – entgegen manch anders lautender Gerüchte – keine „Subsumtionsmaschinen“, sondern Menschen mit Gefühlen. Auch wir sind dieser Tage in unserem Home-Office „eingesperrt“, hören im Radio im Halbstundentakt die Nachrichten über immer neue Infektionszahlen, Shut-downs, Börsencrashs und Abschottungsmaßnahmen einzelner Staaten. Gleichzeitig sehen wir seltsam leere Straßen vor unserem Haus, während im Fernsehen restlos leergekaufte Supermarktregale, leidende Menschen auf überfüllten Krankenhausfluren und unwirkliche Geisterstädte namens Tokyo, New York oder New Orleans über den Bildschirm flimmern. Ist das noch „Contagion“ oder schon „World War Z“ (oder besser „C“)? – wir wissen es nicht. Und wir hören von immer neuen, teils sinnvollen, teils aber auch zu drastisch erscheinenden Beschränkungen des öffentlichen und privaten Lebens, die Staaten in aller Welt ihren Bürgern auferlegen. Also spitzen wir unseren Federkiel (oder klappen den Laptop auf) und tun das, was wir eben zu tun gewohnt sind: wir schreiben. Schreiben uns den Frust über nach unserer Einschätzung unangemessene staatliche Beschränkungen, über fehlende oder unbestimmte Rechtsgrundlagen und über die berühmte „Unzufriedenheit mit der Gesamtsituation“ von der Seele. Therapeutisches Schreiben also, manchmal alleine im Diskurs mit uns selbst, aber meist gemeinsam im Diskurs mit der Netzwelt. Das ist vielleicht für sich genommen nicht der beste aller Gründe für eine wissenschaftliche Befassung mit der Corona-Krise, aber es ist ein menschlich verständlicher Grund und allemal besser, als der Mitwelt schlecht gelaunt das Leben schwer zu machen, im örtlichen Krankenhaus die letzten Desinfektionsmittelvorräte zu stehlen oder mit übergezogener Strumpfmaske der nächsten LKW-Lieferung Toilettenpapier aufzulauern.
- Indem wir das tun, wirken wir aber auch an einem juristischen Diskurs über Rechtsfragen und deren Lösung im Zusammenhang mit COVID-19 mit. Dieser Diskurs ist für das Recht nicht nur wichtig, er ist unverzichtbar. Denn eines ist doch ganz klar: Rechtsfindung ist entweder Kommunikation (so etwa Robert Alexy) oder sie beinhaltet sie zumindest als maßgeblichen Faktor (sei es nun in der Kommunikation zwischen Rechtswissenschaftlern oder in der Kommunikation der Prozessparteien mit dem Gericht). Und je mehr und desto intensiver wir Juristen kommunizieren, desto größer ist die Chance, dass wir am Ende alle für die rechtliche Bewertung maßgeblichen Faktoren berücksichtigen und so kein rechtlicher Gesichtspunkt vernachlässigt wird. Freilich sollten wir dabei versuchen, trotz der emotionalen Gesamtsituation möglichst sachlich und nüchtern und nicht überemotional oder übertrieben pathetisch zu argumentieren (vgl. zum Grundproblem Engelmann, Rechtstheorie 2015, 1 ff.).
Bleibt schließlich noch das Problem, dass wir, etwa bei der Problematik der Triage, die praktischen Anwendungsprobleme der vermeintlichen Lösungen, die wir in unserem juristischen Elfenbeinturm ausgearbeitet haben, übersehen könnten (so etwa Julian Krüper). Aber eben deshalb gibt es ja in solchen Konstellationen den interdisziplinären Diskurs. So verknüpfen sich z. B. bei der Triage-Problematik oder Fragen der Angemessenheit der Maßnahmen zum Schutz des Gesundheitssystems die unterschiedlichen Argumentationsansätze von Juristen, Philosophen, Medizinern und Ethikern zu einem Gesamtgerüst, das am Ende aus dem Erfahrungswissen aller Beteiligten zusammengesetzt ist.
- In der gegenwärtigen Corona-Krise senden wir Juristen durch unsere kritische Analyse des staatlichen Handelns aber auch ein deutliches „STOP“-Signal gegenüber einem allzu voreiligen oder allzu gedankenlosen Eingreifen des Staates in grundlegende Rechtsgewährleistungen unseres Grundgesetzes. Wir erleben eine Zeit, in der im Öffentlichen Recht tragende Grundsätze wie das Erfordernis einer hinreichend bestimmten Rechtsgrundlage für staatliche Eingriffe, der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit oder der Parlamentsvorbehalt unter die Räder zu kommen drohen. So fragen wir uns zum Beispiel, wie das in manchen Bundesländern bzw. Kommunen praktizierte Verbot, mutterseelenallein auf einer Parkbank zu sitzen, denn dabei helfen soll, eine Flut an Corona-Patienten in Arztpraxen und Krankenhäusern zu verhindern. Unsere Sorgenfalten werden noch tiefer, wenn wir zur Kenntnis nehmen, dass derlei Verstöße sogar bußgeldbewehrt sind, in anderen Fällen gar mit dem scharfen Schwert des Strafrechts verfolgt werden sollen.
Wenn in dieser Zeit der Bewährungsprobe für den Rechtsstaat ein verantwortliches Regierungsmitglied wie (ausgerechnet!) der Verkehrs- und Mautminister Andreas Scheuer auf der Bundespressekonferenz vom 26.03.2020 (Minute 28:13) dann noch ausdrücklich erklärt, „nicht das Thema der Rechtskonformität, sondern Aktivität“ sei jetzt relevant, so ahnen wir, dass dieses Mantra womöglich nicht nur für das konkret in Bezug genommene Beihilfe-Recht oder die zum Anfang der Pressekonferenz (16:53) erörterten ausgesetzten Sicherheitsüberprüfungen im Personen- und LKW-Verkehr (die im Übrigen auch nicht ganz unwichtig zu sein scheinen), sondern ganz generell gelten soll, und dass wir es hier womöglich nicht nur mit einer Einzelmeinung, sondern mit einer gängigeren Herangehensweise mancher derzeit handelnder staatlicher Akteure zu tun haben.
Erhebt sich vor dem Hintergrund einer solchen Gemengelage dann ein vielstimmiger Chor der Rechtswissenschaftler und Rechtsanwälte, der die Einhaltung rechtsstaatlicher Grundsätze anmahnt, dann erscheint das nicht übertrieben oder selbstberauschend (in diese Richtung gehend aber Julian Krüper), sondern schlicht zwingend geboten. Einerseits um ein Gegengewicht gegen solches staatliches Handeln zu setzen, andererseits aber auch, um das Bewusstsein für die Bedeutung unserer Rechtsstaatsgarantien und Grundrechte zu betonen und zu stärken – gerade auch im Diskurs mit juristischen Laien, die derzeit im drei-Fronten-Einsatz zwischen Kinderbetreuung, Home-Office und der Beantragung staatlicher Unterstützungsleistungen verständlicherweise anderes im Sinn haben als die Lektüre des Grundgesetzes oder gar juristischer Fachliteratur. Und uns leitet dabei auch nicht das erhebende Gefühl, dass das Öffentliche Recht gerade Hochkonjunktur hat, sondern ganz im Gegenteil das Entsetzen und die nackte Angst, dass all die Rechtsgrundsätze, Prinzipien und Gewährleistungen, die seit der Staatsrechtsvorlesung im ersten Semester unser ständiger geistiger Wegbeleiter waren, für manche Politiker im Staatsapparat plötzlich nichts weiter sein könnten, als lästige Bremsklötze, die die Staatsmacht auf dem Altar des nunmehr zum „Supergrundrecht“ (Fiete Kalscheuer) erhobenen Gesundheitsschutzes zu opfern gedenkt. In dieser Situation wird der Diskurs zwischen Rechtswissenschaft (sowie Gerichten) und der Exekutive zum Stützpfeiler eines Rechtsstaates, der droht in Schieflage zu geraten. Wo dieser Diskurs abflacht oder verstummt – oder wie in der Orbanschen Persiflage einer Demokratie per Gesetz zum Verstummen gebracht werden soll – befindet sich ein Staat in der Tat auf dem Weg in die Diktatur.
Angesichts dieser Verantwortung der Jurisprudenz und der absoluten Ausnahmesituation, in der wir uns verfassungsrechtlich gerade befinden, darf man am Ende vielleicht doch etwas pathetisch werden: Wir Juristen haben Respekt vor dem medizinischen Personal, das nun an vorderster Front der Lage Herr zu werden sucht. Aber wir selbst haben keine Schutzkleidung, medizinischen Apparaturen und Kenntnisse, mit denen wir bei der medizinischen Krise helfen könnten. Wir haben bestenfalls Roben – oft genug aber nur schlecht sitzende Anzüge – dicke Gesetzestexte und unsere Ausbildung im Öffentlichen Recht. Wir Juristen bleiben daher zu Hause. Und wir denken. Und wir schreiben uns die juristische Seele aus dem Leib. Und wir verrennen uns dabei auch mal in unserer Argumentation, denn wir sind auch nur Menschen und emotional und fehlsam. Aber wir tun alles, was wir können, damit unser Patient – der demokratische Rechtsstaat – uns nicht unter unseren Händen wegstirbt. Das ist unsere Bestimmung in dieser Krise.
Es lebe der juristische Diskurs, denn er hält uns und unsere Freiheit am Leben!
[* Ergänzung vom 16. April 2020: Auf eine entsprechende Anmerkung aus der Leserschaft weist der Autor ausdrücklich darauf hin, dass das Maskulinum in diesem Text als generisches Maskulinum zu verstehen ist, das selbstverständlich sämtliche Personen (m/w/d) umfassen soll.]
Zitiervorschlag: Björn Engelmann, Es lebe der Diskurs! Die Rolle der Juristen in der Corona-Krise, JuWissBlog Nr. 57/2020 v. 15.04.2020, https://www.juwiss.de/57-2020/.
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