von CHRISTOPH GOOS
Was passiert eigentlich, wenn der Vollzug eines Unionsrechtsakts unionsrechtlich zwingend geboten ist, aber „unsere“ Menschenwürde verletzt? Obwohl der Wortlaut des ersten Artikels der EU-Grundrechtecharta nahezu identisch ist mit dem des Art. 1 Abs. 1 GG, sind solche Konstellationen nicht auszuschließen, und es ist auch keineswegs ausgemacht, dass die Union dem deutschen Menschenwürdeverständnis immer so viel Raum gibt wie der Europäische Gerichtshof vor ein paar Jahren der Bonner Oberbürgermeisterin. Und trotzdem hätte sich der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts, man muss es ganz klar sagen, in seinem Beschluss vom 15. Dezember 2015 zu dieser Frage nicht äußern müssen. Denn der Vollzug des Unionsrechtsakts, um den es in diesem Fall ging, ein Europäischer Haftbefehl, war unionsrechtlich alles andere als zwingend geboten. Er war glatt unionsrechtswidrig.
Verurteilt in Florenz
Der Sachverhalt ist schnell erzählt: Ein Amerikaner war 1992 in Florenz wegen diverser schwerer Delikte zu einer 30-jährigen Freiheitsstrafe verurteilt worden, hatte davon aber wohl gar nichts mitbekommen, weil der Prozess in seiner Abwesenheit stattgefunden hatte. 2014 wurde der Mann auf Grundlage eines Europäischen Haftbefehls irgendwo in Deutschland festgenommen. Und nun sollte er nach Italien ausgeliefert werden, um dort seine Strafe abzusitzen. Obwohl unklar blieb, ob er in Florenz einen neuen Prozess bekommen hätte, erklärte das Oberlandesgericht Düsseldorf seine Auslieferung für zulässig. Gegen diese Zulässigkeitsentscheidung erhob der Mann Verfassungsbeschwerde und rügte eine Verletzung seiner Menschenwürde.
Ein klarer Fall von Menschenwürdekongruenz
Das Bundesverfassungsgericht arbeitet im zweiten Teil seiner Entscheidung heraus, dass die unionsrechtlichen Anforderungen an die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls, die sich unter anderem aus der EU-Grundrechtecharta in Verbindung mit der Europäischen Menschenrechtskonvention ergäben, nicht hinter denjenigen des Art. 1 Abs. 1 GG zurückblieben: Eine Strafe, die die Persönlichkeit des Täters, seine Beweggründe, seine Sicht der Tat, des Opfers und der Tatumstände, kurz: seine Subjektstellung und seine Schuld nicht umfassend berücksichtige, könne keine der Würde des Angeklagten angemessene Strafe sein. Und da die deutsche öffentliche Gewalt ihre Hand nicht zu Menschenwürdeverletzungen durch andere Staaten reichen dürfe, dürfe dieser Mann nicht nach Italien ausgeliefert werden. All das folge aus Art. 1 Abs. 1 GG, aber auch aus dem Unionsrecht, und zwar derart offenkundig, dass eine Vorlage an den EuGH nach dessen „Acte clair“-Doktrin entbehrlich sei: „Der EuGH hätte genauso entschieden“. Es bestehe also im vorliegenden Fall, sagt das Gericht ganz ausdrücklich, kein Konflikt des Unionsrechts mit Art. 1 Abs. 1 GG. Beide erlauben den Vollzug des Haftbefehls nur, wenn dem Amerikaner nach seiner Überstellung ein effektiver Rechtsbehelf zur Verfügung steht. Und genau das hatte das Oberlandesgericht Düsseldorf verabsäumt zu ermitteln.
Solange II – das war gestern
Umso überraschender ist, dass der Zweite Senat die Entscheidung des Oberlandesgerichts Düsseldorf als „unionsrechtlich determiniert“ versteht und die knappen Ausführungen zur Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde mit der Feststellung eröffnet, dass „die strengen Voraussetzungen für eine Identitätskontrolle hier erfüllt“ seien. Wenn – wie im vorliegenden Fall – eine Verletzung der „Menschenwürdegarantie“ geltend gemacht werde, prüfe das Bundesverfassungsgericht „ungeachtet“ der „bisherigen“ Rechtsprechung zur Unzulässigkeit von Verfassungsbeschwerden, mit denen Grundrechtsverletzungen durch sekundäres Unionsrecht gerügt würden, einen „solchen schwerwiegenden Grundrechtsverstoß“ im Rahmen der Identitätskontrolle. Als Beispiele für die „bisherige“ Rechtsprechung nennt der Senat die Entscheidungen „Solange II“ und „Bananenmarktordnung“. Es stellt sich daher die Frage, welche Bedeutung die dort formulierten Vorbehalte noch haben. Die Tatsache, dass die Solange-II-Rechtsprechung als „bisherige“ rubriziert wird und nicht von „diesem“, sondern „einem solchen“ schwerwiegenden Grundrechtsverstoß die Rede ist, deutet darauf hin, dass der Senat nicht nur die Menschenwürde, sondern vielleicht sogar noch Größeres im Sinn haben könnte.
Lissabon lässt grüßen
Der unmittelbar folgende Teil C.I. der Entscheidungsgründe, also der besonders intensiv beratene Maßstäbeteil, räumt jeden Zweifel aus, denn in den 15 Randnummern geht es nur um die „Identitätskontrolle“. Unter diesem Label hatte das Bundesverfassungsgericht erstmals 2009 in der Lissabon-Entscheidung die verfassungsrechtliche Notwendigkeit eines Verfahrens „zur Absicherung der Verpflichtung deutscher Organe, [verfassungs]identitätsverletzende Unionsrechtsakte im Einzelfall in Deutschland unangewendet zu lassen“ behauptet. Und es war, wenig überraschend, zu dem Ergebnis gekommen, dass diese Kompetenz natürlich nur dem Bundesverfassungsgericht selbst zukommen könne, sei es im Rahmen bereits vorhandener Verfahren wie der Verfassungsbeschwerde, sei es im Rahmen eines vom Gesetzgeber neu zu schaffenden Verfahrens. Diese Ansätze greift der Zweite Senat auf und führt sie dahingehend fort, dass Hoheitsakte der Europäischen Union zwar grundsätzlich nicht am Maßstab der Grundrechte des Grundgesetzes zu messen seien, dass der Anwendungsvorrang des Unionsrechts aber seine Grenze in den für integrationsfest erklärten Grundsätzen der Verfassung finde, zu denen auch die Grundsätze des Art. 1 GG gehörten. Die Gewährleistung dieser Grundsätze sei bei der Anwendung von Unionsrecht durch deutsche Stellen im Einzelfall sicherzustellen; die Verletzung des „unabdingbaren Maßes an Grundrechtsschutz“ könne mit der Verfassungsbeschwerde gerügt werden und zur Feststellung der Unanwendbarkeit des Unionsrechtsakts führen, wenn substantiiert dargelegt werde, dass die Würde des Menschen im konkreten Fall tatsächlich beeinträchtigt werde.
Identitätsrüge und Solange-Vorbehalt
Bisher – so Karsten Schneider in seiner fulminanten Kommentierung des § 1 BVerfGG – galt der Solange-Vorbehalt als „praktisch überragend wichtige Bereichsausnahme von der Identitätsrüge“: „Verletzungen der Verfassungsidentität durch Unterschreitung grundrechtlicher Mindeststandards [können] nicht nach den allgemeinen Regeln der Identitätsrüge geltend gemacht werden […], sondern nur nach Maßgabe der strengeren Anforderungen des Solange-Vorbehalts“. Der Solange-Vorbehalt verlangte vom Beschwerdeführer die Darlegung – so das Bundesverfassungsgericht in der Bananenmarktentscheidung – „dass die europäische Rechtsentwicklung einschließlich der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs nach Ergehen der Solange II-Entscheidung […] unter den erforderlichen Grundrechtsstandard abgesunken sei. Deshalb muss die Begründung […] einer Verfassungsbeschwerde, die eine Verletzung in Grundrechten des Grundgesetzes durch sekundäres Gemeinschaftsrecht geltend macht, im Einzelnen darlegen, dass der jeweils als unabdingbar gebotene Grundrechtsschutz generell nicht gewährleistet ist.“
Identitätskontrolle ohne Fehlertoleranz
Beschwerdeführer, die eine Verletzung von Art. 1 Abs. 1 GG rügen, haben es künftig leichter in Karlsruhe. Sie müssen nur noch ausführen, „inwieweit im konkreten Fall die durch Art. 1 GG geschützte Garantie der Menschenwürde verletzt ist.“ Auf Rügen dieses Inhalts hin will das Gericht künftig „den gemäß Art. 23 Abs. 1 Satz 3 in Verbindung mit Art. 79 Abs. 3 und Art. 1 Abs. 1 GG unabdingbar gebotenen Grundrechtsschutz uneingeschränkt und im Einzelfall“ gewährleisten – denn natürlich kann es den „Anspruch auf Fehlertoleranz“, den das Bundesverfassungsgericht dem Europäischen Gerichtshof in der Honywell-Entscheidung, bezogen auf Ultra-vires-Konstellationen, noch großzügig eingeräumt hatte, in Sachen Menschenwürde nicht geben. Dass eine ausdrückliche Abweichung zu „Solange II“ nicht formuliert wird, wird man wohl so verstehen dürfen, dass das Gericht auch weiterhin fest entschlossen ist, unter den dort formulierten Voraussetzungen, also bei generellem Absinken des Unions-Grundrechtsstandards unter den grundgesetzlich erforderlichen, die Anwendbarkeit von Unionsrecht generell und vollumfänglich am Maßstab sämtlicher Grundrechte des Grundgesetzes zu überprüfen. So weit geht der Zweite Senat nicht – noch nicht. Neu ist lediglich, dass er den „gemäß Art. 1 Abs. 1 GG unabdingbar gebotenen Grundrechtsschutz“ schon jetzt gewährleisten will – diesen, aber auch nur diesen. „Solange Zweieinhalb“ wird man die Entscheidung daher allemal nennen können.
Beitrag wird fortgesetzt…