Corona-Triage erfordert gesetzliche Grundlage

von ALEXANDER BRADE

Mit Beschluss vom 16.12.2021 hat das BVerfG den Gesetzgeber dazu verpflichtet, Vorkehrungen zum Schutz behinderter Menschen für den Fall einer pandemiebedingt auftretenden Triage zu treffen. Es beschränkt sich insoweit allerdings auf das „Ob“ – hinsichtlich der Erfüllung der Schutzpflicht aus Art. 3 III 2 GG bestehe ein Einschätzungs-, Wertungs- und Gestaltungsspielraum, der der Ausfüllung durch den Gesetzgeber bedürfe („Wie“).

Unsere Erwartung wurde nicht enttäuscht. Anders als noch im Beschluss im einstweiligen Rechtsschutzverfahren (§ 32 BVerfGG) hat sich das BVerfG in seiner Hauptsacheentscheidung vertieft mit der Situation der Triage auseinandergesetzt. Mehr noch: Es ist zu dem Ergebnis gelangt, dass der Gesetzgeber Art. 3 III 2 GG dadurch verletzt habe, dass „er es unterlassen hat, Vorkehrungen zu treffen, damit niemand wegen einer Behinderung bei der Zuteilung überlebenswichtiger, nicht für alle zur Verfügung stehender intensivmedizinischer Ressourcen benachteiligt wird.“ Das ist durchaus bemerkenswert. Schutzpflichtverletzungen hat das BVerfG erst in wenigen Fällen bejaht, darunter in seinen zwei Entscheidungen zum Schwangerschaftsabbruch (I, II) sowie zuletzt im Kontext medizinischer Zwangsbehandlung für nicht einsichtsfähige Betreute. Noch angesichts des Klimabeschlusses vom 24.03.2021 sahen manche den Anfang vom Ende der Schutzpflichtendogmatik gekommen (zur Kritik siehe hier und hier) – die gestern veröffentlichte Entscheidung dürfte insofern indes zur Zurückhaltung zwingen.

Zulässigkeitsanforderungen

Im Rahmen der Zulässigkeit bewegt sich der Beschluss des BVerfG in bekannten Bahnen. Nach ständiger Rechtsprechung kann auch ein Unterlassen des formellen Gesetzgebers Gegenstand einer Verfassungsbeschwerde (Art. 93 I Nr. 4a GG) sein. Die eigentliche Problematik stellt die Beschwerdebefugnis dar. Dabei hält das BVerfG die – äußerst knappen – Ausführungen der Beschwerdeführenden zum Bestehen einer grundrechtlichen Schutzpflicht (S. 10 f.) für ausreichend (Rn. 74); als mustergültig zu bewerten ist unterdessen die Darstellung des einschlägigen Fachrechts und der anwendbaren Regelungen zum Schutz vor Benachteiligung in der Beschwerdeschrift (S. 42 ff.). Was die Gegenwärtigkeit der Beschwer anbelangt, konnte sich das BVerfG nicht mehr auf die – bereits zum damaligen Zeitpunkt fragwürdige – Erwägung zurückziehen, dass es das erkennbare Infektionsgeschehen in Deutschland nicht als wahrscheinlich erscheinen lasse, dass eine Situation eintritt, die eine Triage notwendig macht (Rn. 9). Stattdessen heißt es nunmehr zu recht: „Derzeit besteht erkennbar die Gefahr, dass angesichts der Entwicklung der Coronavirus-Pandemie intensivmedizinische Ressourcen nicht für alle Behandlungsbedürftigen reichen und daher über deren Zuteilung auch im Rahmen einer Triage entschieden werden muss“ (Rn. 78).

Zwar geht das BVerfG recht in der Annahme, dass einer der Beschwerdeführer – ein 77 Jahre alter Mann, der eine schwere koronare Herzerkrankung aufweist und an Diabetes mellitus Typ 2 erkrankt ist – nicht von Art. 3 III 2 GG erfasst wird. Alter und Krankheit allein lassen nicht auf eine Behinderung im hier erforderlichen Sinne schließen; auch Art. 1 II UN-Behindertenrechtskonvention, den das Gericht bei der Auslegung des grundgesetzlichen Behinderungsbegriffs heranzieht (Rn. 90, 102; kritisch hier), knüpft an „langfristige körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen [an], welche [Betroffene] in Wechselwirkung mit verschiedenen Barrieren an der vollen, wirksamen und gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft hindern können“. Woran es im Beschluss fehlt, sind allerdings Ausführungen zur allgemeinen, aus Art. 2 II 1 GG folgenden Schutzverpflichtung, auf die sich der Beschwerdeführer ebenfalls stützte und der er zweifellos unterfiele. Volle Zustimmung verdienen dagegen die Ausführungen zur Subsidiarität: (Fach-)gerichtliche Eilentscheidungen kämen im akuten Fall zu spät; auch wirft die Verfassungsbeschwerde allein spezifisch verfassungsrechtliche Fragen auf, deren Beantwortung zuvörderst dem BVerfG obliegt (vgl. Rn. 83 ff.).

Herleitung der Schutzpflicht

Mit der vorliegenden Entscheidung leitet das BVerfG aus Art. 3 III 2 GG erstmals einen „Schutzauftrag für den Gesetzgeber ab“; er tritt insoweit neben den abwehrrechtlichen Schutzgehalt des Diskriminierungsverbots, den aus Art. 3 III 2 GG folgenden Förderauftrag sowie die Ausstrahlung des Benachteiligungsverbots ins Privatrecht im Rahmen der sog. mittelbaren Drittwirkung (Rn. 92 ff.). Zur Begründung verweist das Gericht im Wesentlichen auf die Effektivität des Grundrechtsschutzes: Der Schutz aus Art. 3 III 2 GG bliebe unvollständig, wenn er nur in Konstellationen griffe, die dem Staat unmittelbar kausal zurechenbar sind, da der Ausschluss von behinderten Menschen nicht allein auf staatliches Handeln zurückzuführen sei. „Um behinderte Menschen vor Ausgrenzung zu bewahren, begründet Art. 3 III 2 GG [daher] auch einen Auftrag an den Gesetzgeber, sie vor einer Benachteiligung wegen Behinderung durch Dritte zu schützen“ (Rn. 96).

Das ist denkbar weit, zumal es im Verfassungstext an einer Art. 3 II 2 GG oder Art. 6 IV, V GG entsprechenden Regelung fehlt; vielmehr statuiert Art. 3 III 2 GG nach seinem Wortlaut in erster Linie ein (abwehrrechtliches) Benachteiligungsverbot. So verwundert es nicht, dass das BVerfG den aus Art. 3 III 2 GG folgenden „Schutzauftrag“ als nur „in bestimmten Konstellationen ausgeprägter Schutzbedürftigkeit zu einer konkreten Schutzpflicht verdichte[t]“ ansieht (Rn. 97). Insoweit ist auf die Verankerung des Benachteiligungsverbots in der Menschenwürdegarantie hinzuweisen, die über Art. 1 I 2 GG auch auf die Gewährleistung des Art. 3 III 2 GG ausstrahlt (siehe hier). Auch geht das BVerfG zutreffend davon aus, dass der Schutz des Lebens (Art. 2 II 1 GG) zu einer konkreten Handlungspflicht führen kann.

So liegt es hier: Für die Beschwerdeführenden besteht das Risiko, „bei Entscheidungen über die Verteilung pandemiebedingt nicht ausreichender überlebenswichtiger Ressourcen in der Intensivmedizin und damit bei einer Entscheidung über Leben und Tod aufgrund ihrer Behinderung benachteiligt zu werden“ (Rn. 110). Zwar stellen die einschlägigen fachlichen Empfehlungen der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) seit ihrer zweiten Version klar, dass eine Priorisierung aufgrund von Grunderkrankungen oder Behinderungen nicht zulässig ist (Nr. 2.2.). Zugleich sehen sie allerdings vor, dass sog. Komorbiditäten und der Allgemeinzustand einschließlich Gebrechlichkeit – beides Faktoren, die mit einer Behinderung in Verbindung gebracht werden können –, in die Priorisierungsentscheidung einbezogen werden sollen (vgl. Rn. 118 und hier).

Feststellung der Schutzpflichtverletzung

Obwohl die Anforderungen an die Feststellung einer Schutzpflichtverletzung hoch liegen – der Gesetzgeber darf entweder überhaupt keine entsprechenden (Schutz-)Vorkehrungen getroffen haben oder nur solche, die gänzlich ungeeignet oder völlig unzulänglich sind (vgl. hier) – sieht das BVerfG eben diese Voraussetzungen vorliegend als erfüllt an; und das völlig zu recht. Es fehlt schlicht an einer spezifisch die Triage in einer Pandemie adressierenden (verbindlichen!) gesetzlichen Regelung – auch und gerade für Menschen mit Behinderungen. Insbesondere lassen sich die Vorgaben des Transplantationsgesetzes zur Allokation unzureichender medizinischer Güter nicht auf die Situation der Triage übertragen. Auch erscheint zweifelhaft, ob das allgemeine zivilrechtliche Benachteiligungsverbot in § 1 AGG insoweit Anwendung findet (Rn. 124). Selbst das Strafrecht sorgt – jenseits der Situation der Triage aufgrund einer Behinderung – nicht für Abhilfe. Nicht nur ist die sog. rechtfertigende Pflichtenkollision lediglich gewohnheitsrechtlich anerkannt; es ist vor allem noch nicht abschließend geklärt, unter welchen Voraussetzungen der Behandelnde gerechtfertigt ist (dazu hier). Hinzu kommt, dass das Strafrecht selbst keine verbindlichen Kriterien für die (Un-)Gleichbehandlung vorgibt.

Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers

Das BVerfG bekräftigt, dass dem Gesetzgeber auch bei der Erfüllung einer konkreten Schutzpflicht aus Art. 3 III 2 GG ein Einschätzungs-, Wertungs- und Gestaltungsspielraum zukomme (Rn. 126). Insoweit könne er sich für Regelungen des Verfahrensrechts – angesprochen werden das Mehraugen-Prinzip bei Auswahlentscheidungen sowie Vorgaben zur Dokumentation – ebenso entscheiden wie für solche des materiellen Rechts. Dazu zählen Vorgaben zu den Kriterien von Verteilungsentscheidungen, ohne damit notwendigerweise gegen die der Menschenwürde innewohnende Lebenswertindifferenz zu verstoßen (Rn. 128). Für verfassungsrechtlich zulässig hält das BVerfG namentlich das Kriterium der klinischen Erfolgsaussicht, verstanden als „Aussicht, die akute Erkrankung zu überleben“. Dazu heißt es: „Dieses Kriterium stellt nicht auf eine Bewertung menschlichen Lebens ab, sondern allein auf die Erfolgsaussichten der nach der aktuellen Erkrankung angezeigten Intensivtherapie“ (Rn. 116).

Dem ist zuzustimmen. Es geht letztlich um das „nackte Überleben“ in einer Notsituation, in der Effizienzüberlegungen schon deshalb das kleinste Übel darstellen, weil die letztlich unausweichliche „Abwägung“ zwischen zwei Menschenleben so oder so zum Tod einer der an sich behandlungsbedürftigen Patienten führen wird (vgl. bereits hier). „Materielle Lebensbewertungskriterien“ (Lebensqualität, Tätigkeit in einem systemrelevanten Beruf, Familienstand, Vorverschulden des Patienten, etc.) bleiben insofern außen vor. Zurückhaltung ist – nicht zuletzt mit Blick auf Art. 3 III 2 GG – auch bei der Berücksichtigung von Vorerkrankungen angezeigt, die u.U. die längerfristig erwartbare Überlebensdauer reduzieren (vgl. Rn. 117). Nimmt man den Förderauftrag des Art. 3 III 2 GG ernst, dürfte es im Gegenteil angezeigt sein, einen Ausgleich für schicksalhafte Nachteile zu regeln, wie es bei der Organverteilung vorgesehen ist (so schon hier).

Ausblick

Nunmehr herrscht Klarheit: Die Triage bei einer Pandemie ist einer gesetzlichen Regelung nicht nur zugänglich, in Ansehung von Art. 3 III 2 GG ist eine solche Vorgabe auch von Verfassungs wegen einzufordern. Dabei ist es zulässig – und nach hier vertretener Auffassung auch wünschenswert – die Auswahlentscheidung in positiver Hinsicht an das Kriterium der klinischen Erfolgsaussicht zu knüpfen. Dennoch beantwortet der Beschluss bei weitem nicht alle sich in diesem Zusammenhang stellenden Fragen: Ist die Entscheidung „allein nach der aktuellen und kurzfristigen Überlebenswahrscheinlichkeit“ des Patienten auszurichten (so wohl Rn. 123)? Wie verhält es sich mit der Regelung von Ausschlusskriterien, für die Art. 3 III GG eine taugliche Grundlage bilden könnte? Ergeben sich Unterschiede zwischen ex-ante- und ex-post-Triage (dazu z.B. allgemein hier)? Und was geschieht in dem Fall, dass eine Auswahl zwischen mehreren Patienten mit gleicher Überlebenschance vorzunehmen ist; bedarf es dann des Losentscheids (dazu hier)? Antworten auf diese Fragen sind erst in einem neuerlichen verfassungsgerichtlichen Verfahren zu erwarten, welches diejenigen Vorkehrungen zum Gegenstand haben könnte, die der Gesetzgeber nach dem Beschluss vom 16.12.2021 nunmehr „unverzüglich“ zu treffen hat.

 

Zitiervorschlag: Alexander Brade, Corona-Triage erfordert gesetzliche Grundlage, JuWissBlog Nr. 121/2021 v. 29.12.2021, https://www.juwiss.de/121-2021/.

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Alexander Brade, COVID-19, Diskriminierungsverbot, Lebenswertindifferenz, Medizinrecht, Menschenwürde, Schutzpflicht, Triage, Wesentlichkeitsgrundsatz
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