Disziplin, Bundeswehr und das Grundgesetz – Es ist Zeit für eine Reform des Beschwerderechts

von MORITZ BARTH

Die Bundeswehr hat ein Haltungsproblem“: mit dieser Sentenz im April 2017 löste die damalige Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen eine breite Debatte über das Ausmaß von Rechtsextremismus in der Bundeswehr aus und brachte viele Soldatinnen und Soldaten gegen sich auf. Ein kurzer Blick auf die Skandale der letzten Jahre (Franco A., KSK, Chatgruppe Nordkreuz) lässt aber erahnen, dass hinsichtlich der Führungskultur der Bundeswehr beim Thema Rechtsextremismus Handlungsbedarf besteht. Immer wieder wurde bei der Aufarbeitung von rechtsextremistischen Fällen in der Truppe deutlich, dass das Verhalten extremistischer Soldaten nicht rechtzeitig gemeldet, dadurch den zuständigen Stellen nicht bekannt oder von Vorgesetzten gar ignoriert wurde. Das System von Beschwerden und Eingaben in der Truppe hat Schwächen, funktionierte häufig nicht gut genug und benötigt deswegen ein Update.

Ein neuerer Beschluss des 1. Wehrdienstsenats des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG, Beschluss vom 30.07.2020 – 1 WB 28.19) zeigt dabei einen interessanten Ansatzpunkt für eine Reform des Beschwerderechts in der Bundeswehr auf. In dem erst- und zugleich letztinstanzlichen Verfahren vor dem BVerwG hob der 1. Wehrdienstsenat eine Anordnung des Bundesverteidigungsministeriums auf, dernach von Soldatinnen und Soldaten während einer NATO-Übung geleistete Mehrarbeit nicht nach der regulären Soldatenarbeitszeitverordnung abgegolten, sondern nach den Vorschriften behandelt werden sollte, die für Einsätze der Bundeswehr gelten. Dabei musste sich der Senat mit der Frage befassen, ob ein Beschwerdetext, der wortgleich von etwa 20 Soldatinnen und Soldaten verwendet wurde und in separaten Schriftstücken beim Vorgesetzten einging, eine zulässige Beschwerde darstellt.

Rechtslage

Beschwerden in der Bundeswehr unterfallen verfassungsrechtlich dem Schutzbereich des Art. 17 GG. Für Soldatinnen und Soldaten als Personengruppe, die in einem Sonderstatusverhältnis steht, wird das gemeinschaftliche Petitionsrecht jedoch seit der Einführung der Wehrverfassung im Jahr 1956 vom Gesetzesvorbehalt des Art. 17a Abs. 1 GG flankiert. Dieser ermöglicht es dem Bund durch formelles Gesetz oder Rechtsverordnung das Recht von Soldaten einzuschränken, in Gemeinschaft mit anderen zu petitionieren. Hintergrund dieses Gesetzesvorbehalts ist die Angst, Soldatinnen und Soldaten könnten sich durch das gemeinschaftliche Abfassen von Beschwerden gegen ihre Vorgesetzten auflehnen. Als „Meutereiklausel“ verfolgt Art. 17a Abs. 1 GG damit das Ziel, die Funktionsfähigkeit der Streitkräfte zu erhalten und zu sichern (vgl. v. Mangoldt/Klein/Starck/Brenner, Art. 17a Rn. 17, 32).

Der Bundesgesetzgeber hat von dieser Möglichkeit in § 1 Abs. 4 Wehrbeschwerdeordnung (WBO) und § 7 Satz 1 Wehrbeauftragtengesetz (WBeauftrG) Gebrauch gemacht: Soldaten haben demnach kein Recht, sich gemeinschaftlich bei ihrem Vorgesetzten zu beschweren oder gemeinsame Eingaben an den Wehrbeauftragten des Deutschen Bundestags zu richten; eine gemeinschaftlich erhobene Beschwerde bzw. Eingabe ist unzulässig (vgl. Dau/Scheuren, Wehrbeschwerdeordnung, § 1 Rn. 229 ff.).

Problem: Was ist eine gemeinschaftliche Beschwerde?

Bei der Beurteilung der Zulässigkeit von Beschwerden ergibt sich somit die Frage, wann eine gemeinschaftliche Beschwerde vorliegt. Obgleich die Zulässigkeitsvoraussetzung des § 1 Abs. 4 WBO in gerichtlichen Verfahren ohnehin keine Anwendung fände, befasst sich der Senat dennoch ausführlich mit der Frage, ob es sich bei den verfahrensgegenständlichen wortgleichen Mehrfachbeschwerden um eine gemeinschaftliche Beschwerde i.S.d. § 1 Abs. 4 WBO handelt.

Diese auf den ersten Blick reichlich prozessual anmutende Frage enthält einen grundrechtsbetreffenden Kern: Subsumiert man wortgleiche Mehrfachbeschwerden als mehrere, getrennt zu betrachtende Individualbeschwerden, unterfallen sie nicht dem Anwendungsbereich des Art. 17a Abs. 1 GG, sondern dem vorbehaltlos gewährten Schutzbereich des Art. 17 GG, der auch für Soldaten nicht eingeschränkt werden darf. Die Verwerfung solcher Beschwerden als unzulässig wäre dann ganz unabhängig von der einfachgesetzlichen Ausgestaltung der Zulässigkeitsvoraussetzungen verfassungswidrig.

Die Lösung des 1. Wehrrechtssenats

Der 1. Wehrsenat geht jedoch einen anderen Weg und begründet die Zulässigkeit der Beschwerde nicht mit dem Schutzbereich des Art. 17 GG, sondern stellt darauf ab, ob den wortgleichen Beschwerden ein Wille zur Auflehnung gegen den Vorgesetzten zu entnehmen sei (BVerwG, Beschluss vom 30.07.2020 – 1 WB 28.19, Rn. 21 ff). Da dies bei den gegenständlichen Beschwerden nicht erkennbar gewesen sei, handele es sich nicht um eine gemeinschaftliche Beschwerde.

Aus dieser Begründung folgt im Umkehrschluss, dass wortgleiche Beschwerden, die darauf abzielen, den Vorgesetzten unter Druck zu setzen, als gemeinschaftliche Beschwerde i.S.d. § 1 Abs. 4 WBO, Art. 17a Abs. 1 GG gelten müssen. Dem BVerwG zufolge – und entgegen weitverbreiteter Ansicht der Literatur (vgl. v. Mangoldt/Klein/Starck/Brenner, Art. 17a Rn. 31, Art. 17 Rn. 21; Sachs/Pagenkopf, Art. 17a Rn. 25) – sind wortgleiche Mehrfachbeschwerden also grundsätzlich dem Anwendungsbereich des Art. 17a Abs. 1 GG zuzuordnen.

Jedoch geht der Senat bei der Prüfung, wann bei wortgleichen Mehrfachbeschwerden ein Wille zur Auflehnung gegen den Vorgesetzten anzunehmen sei, einen großen Schritt auf diejenigen zu, die wortgleiche Mehrfachbeschwerden für generell zulässig halten. Allein aus dem Umstand, dass mehrere eine wortgleiche Beschwerde einreichen, könne nämlich nicht geschlossen werden, dass es den Beschwerdeführern darum ginge, den Vorgesetzten unter Druck zu setzen; einer solchen Vermutung stünde die Bedeutung des Petitionsrechts aus Art. 17 GG entgegen. Inwiefern sich ein solcher Wille aber überhaupt nachweisen lassen soll, wenn nicht aus dem Umstand, dass sich Soldaten gemeinschaftlich beschwert haben, ist fraglich und wird wohl darauf hinauslaufen, die allermeisten wortgleichen Mehrfachbeschwerden zuzulassen (vgl. Dau/Scheuren, Wehrbeschwerdeordnung, § 1 Rn. 234).

Subjektivierung und Wechselwirkungslehre

Das BVerwG verfolgt mit seiner Rechtsprechung mithin den neuen Ansatz der Subjektivierung der Zulässigkeitsvoraussetzung „nicht gemeinschaftlich“ i.S.d. § 1 Abs. 4 WBO. Ob eine wortgleiche Mehrfachbeschwerde als gemeinschaftlich gilt, ist damit in erster Linie abhängig vom Willen der Beschwerdeführer, den Vorgesetzten unter Druck setzten zu wollen. Diese Subjektivierung ist Ausdruck einer teleologischen Reduktion des § 1 Abs. 4 WBO, welcher allein der Aufrechterhaltung der Disziplin und damit der Abwehr von Gefahren für die Funktionsfähigkeit der Streitkräfte dient. Wo eine Gefährdung der Funktionsfähigkeit mangels aufrührerischen Willens der Petenten aber ausgeschlossen ist, muss auch die wortgleiche Mehrfachpetition zulässig sein.

Das Petitionsrecht nach Art. 17 GG steht demnach in Wechselwirkung mit dem Gesetzesvorbehalt des Art. 17a Abs. 1 GG. Zwar begrenzt der Gesetzesvorbehalt das Petitionsrecht von Soldaten, allerdings muss die Tatbestandsvoraussetzung des Gesetzesvorbehalts („in Gemeinschaft mit anderen“) im Lichte des Art. 17 GG ausgelegt werden, was eine enge Auslegung unter Einbezug subjektiver Merkmale der Petenten erforderlich macht.

Folgerungen

Legt man den subjektivierten Maßstab des BVerwG an, dürfte damit auch eine von mehreren unterzeichnete, oder im Namen mehrerer Soldaten eingelegte, Beschwerde nicht von vornherein unzulässig sein. Angesichts der Schwierigkeit, einen auflehnenden Willen tatsächlich festzustellen, führt der subjektivierte Maßstab des BVerwG somit wohl bei praktisch jeder gemeinschaftlich erhobenen Beschwerde zur Zulässigkeit. Ob § 1 Abs. 4 WBO und § 7 Satz 1 WBeauftrG dadurch überhaupt noch geeignet sind, die Funktionsfähigkeit der Streitkräfte zu sichern, erscheint vor diesem Hintergrund sehr fraglich.

Chancen für die Extremismusbekämpfung

Aus der sehr engen Auslegung des Art. 17a Abs. 1 GG durch das BVerwG, und der daraus folgenden faktischen Zulässigkeit von Mehrfachbeschwerden, ergibt sich allerdings auch eine große Chance zur verbesserten Bekämpfung von Extremismus in der Bundeswehr. Eine gemeinschaftlich vorgetragene Beschwerde kann für den Vorgesetzten ein nützliches Frühwarnsystem sein, um die Stimmung in der Truppe wahrzunehmen. Den Beschwerdeführern ermöglicht sie, auf strukturelle Missstände nachdrücklich hinzuweisen und kann ihnen helfen, psychische Hemmungen zu überwinden, die möglicherweise der Meldung extremistischer Einstellungen von Kameraden entgegenstehen. Zudem ist eine gemeinschaftliche Beschwerde aus der Truppe anlässlich eines extremistischen Vorfalls auch ein klares Signal an Rechtsextreme, dass eine Unterwanderung der Bundeswehr durch Verfassungsfeinde nicht geduldet wird.

Es ist daher an der Zeit, von der Vorstellung Abschied zu nehmen, dass sich die Disziplin und Funktionsfähigkeit der Bundeswehr durch den Bann von Gemeinschaftseingaben und -beschwerden fördern ließe. Eine effektive, sinnvolle und grundrechtsschonende Reform des Beschwerdewesens der Bundeswehr sollte vielmehr die Rechtsprechung des BVerwG aufnehmen, auf das Verbot der gemeinschaftlichen Beschwerde verzichten und sie als Werkzeug zur Extremismusbekämpfung einsetzen.

 

Zitiervorschlag: Moritz Barth, Disziplin, Bundeswehr und das Grundgesetz – Es ist Zeit für eine Reform des Beschwerderechts, JuWissBlog Nr. 140/2020 v. 15.12.2020, https://www.juwiss.de/140-2020/.

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Bundesverwaltungsgericht, Bundeswehr, Extremismus, Moritz Barth, Petitionsrecht, Wehrbeauftragtengesetz, Wehrbeschwerdeordnung
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