Aus der Reihe UMWELTRECHT am FREITAG
von JANNA RINGENA und DOMINIK RÖMLING
Mit der Entscheidung N° 427301 vom 19. November 2020 verpflichtet der Conseil d’État (im Folgenden Conseil) die französische Regierung, eine Strategie zur Erreichung gesetzlicher Klimaziele offenzulegen. Es verbleibt dazu ein Zeitraum von drei Monaten. Das Urteil reiht sich ein in die Debatte um die sog. Klimaklagen, die maßgeblich von der Entscheidung des Hoge Raad, des obersten niederländischen Zivilgerichts, in der Rs. Urgenda angestoßen wurde; in Deutschland ist bislang vor allem eine Entscheidung des VG Berlin Gegenstand von Diskussionen. Im Folgenden werden Gegenstand, Inhalt und Tragweite des Urteils des Conseil beleuchtet, bevor es in den institutionellen und systematischen Kontext des französischen Rechts eingebettet wird. Der Beitrag schließt mit einem Ausblick, der der Frage nachgeht, welche Bedeutung die Entscheidung jenseits des französischen Klimaschutzrechts für anhängige und künftige Klimaklagen entfaltet.
Überschwemmungsrisiko in Grande-Synthe als Anlass für eine zwingend notwendige Reduktion der Treibhausgasemissionen
Kläger:innen sind die Gemeinde Grande-Synthe im Norden Frankreichs und ihr ehemaliger Bürgermeister. Beklagte ist die Französische Republik. Der durch den Klimawandel verursachte steigende Meeresspiegel erhöht das Risiko von Überschwemmungen in Grande-Synthe signifikant, weshalb sich der ehemalige Bürgermeister an die französische Regierung wendet. Er verlangt, dass alle notwendigen Maßnahmen getroffen werden, um Treibhausgasemissionen auf dem französischen Staatsgebiet zu senken, sodass rechtliche Verpflichtungen, die sich unter anderem aus dem Pariser Übereinkommen ergeben, eingehalten werden. Eine Antwort bleibt jedoch aus, weshalb deren Fehlen zum Gegenstand des Klagebegehrens wird. Aus prozessualer Sicht ist das Schweigen auf die Anträge als fingierte Ablehnung zu interpretieren, die mittels recours pour excès de pouvoir kontrolliert werden kann.
Zulässigkeit der Klage gründet auf naturwissenschaftlichen Erwägungen
Während der Conseil die Klagebefugnis des ehemaligen Bürgermeisters ohne tiefergehende Begründung verneint, bejaht er die Klagebefugnis der Gemeinde Grande-Synthe. Sie gründet vorwiegend auf naturwissenschaftlichen Erwägungen, unter anderem auf den prognostizierten Folgen des Klimawandels, die eine starke Betroffenheit der Gemeinde in den nächsten zehn bis 20 Jahren wahrscheinlich werden lassen. Die Klägerin kann so ein hinreichend direktes und bestimmtes Interesse an der Überprüfung der Ablehnung der Anträge darlegen; ihre Klage ist zulässig.
Rechtlich verpflichtende Zielsetzungen von Völker- bis nationalem Recht
Das Schweigen der Beklagten eröffnet einen umfassenden Kontrollmaßstab, der vom Völkerrecht bis zum nationalen Recht reicht. So nimmt der Gerichtshof Bezug auf das Pariser Übereinkommen, die konkretisierende Verordnung (EU) 2018/842 und französische Rechtsakte, namentlich den Code de l’énergie, den Code de l’environnement und spezifizierende décrets (Verordnungen), die sog. budgets carbone für einzelne Sektoren festlegen. Der Conseil hebt hervor, dass die Regierung sich auf verschiedenen rechtlichen Ebenen zur Minderung von Treibhausgasemissionen verpflichtet hat und erkennt die vorgenannten Ziele als verbindlich an. Von ihrer Einhaltung ist die Französische Republik derzeit weit entfernt, wie der Conseil unter Rückgriff auf Daten des Haut conseil pour le climat, dem französischen Beirat für Klimafragen, feststellt. So schrieb das décret für den Zeitraum von 2015 bis 2018 eine jährliche Reduktion in Höhe von 2,2 % vor. Erreicht wurde eine Reduktion um lediglich 1 %. Die Regierung Frankreichs wird daher verpflichtet, innerhalb der nächsten drei Monate vorzutragen, wie sie die selbst gesetzten Ziele zu erreichen gedenkt.
Wesentliche Errungenschaften
Wesentliche Errungenschaft des Urteils ist neben der Statuierung der Berichtspflicht die Verbindlicherklärung der Klimaziele, die zuvor oftmals als unverbindliches soft law angesehen wurden. Dies gilt unabhängig davon, ob sie auf völkerrechtlicher, europarechtlicher oder nationaler Ebene normiert sind. Je nach Ergebnis der offengelegten Klimastrategie könnte der Conseil in einem nächsten Schritt urteilen, dass die Regierung im Rahmen ihrer Kompetenzen weitergehende Klimaschutzmaßnahmen zu erlassen hat, wobei deren inhaltliche Ausgestaltung der Regierung überlassen bleibt (die Möglichkeit eines zweiten Urteils wird auch hier hervorgehoben). Bemerkenswert ist daneben, dass die Klagebefugnis weniger rechtlich als vielmehr naturwissenschaftlich hergeleitet wird. Auch steigert der Conseil mit dieser Entscheidung die Durchschlagskraft des erst 2019 ins Amt berufenen Haut conseil pour le climat.
Bedeutung exekutiver Rechtsetzung im französischen Verfassungsrecht
Das Urteil adressiert im Kern die Rechtsetzungskompetenz der Regierung. Sie unterliegt in Frankreich ganz anderen Bedingungen als etwa in Deutschland: Art. 37 der Constitution française (CF) räumt der Regierung die Kompetenz ein, all jene Bereiche durch Verordnung zu regeln, die nicht ausdrücklich dem Parlament zugewiesen sind. Es handelt sich um eine autonome Verordnungsbefugnis, die auf eine gesetzliche Ermächtigung nicht angewiesen ist und im Ausübungsfalle die parlamentarische Gesetzgebung sogar ausschließt. Die gubernative Rechtsetzung kann in Frankreich deshalb schon aus verfassungssystematischer Sicht eigenständige und gestaltende Regelungen umfassen; ihre Spielräume sind weder durch die Verfassung konturiert noch zwangsläufig durch ein Parlamentsgesetz determiniert. Das französische Klimaschutzrecht ist hierfür ein anschauliches Beispiel: Zwar sind mit dem Code de l’énergie und dem Code de l’environnement zwei wesentliche Bestandteile in Gestalt von Parlamentsgesetzen erlassen. Die Emissionsbudgets, die sektorenweise einzuhalten sind, finden sich jedoch in einem décret, also einer Verordnung. Ihre Ausgestaltung entscheidet über Ambitionsniveau und Reichweite der Verpflichtungen zur Treibhausgasreduktion und bildet so den materiellen Kern der Klimaschutzbemühungen. Das Urteil des Conseil betrifft damit sowohl zentrale Inhalte als auch einen zentralen Akteur des Klimaschutzrechts, nämlich die Regierung.
Eingriff des Conseil in die Zuständigkeit der Regierung?
Wenn sich die Entscheidung also im Mittelpunkt des Klimaschutzrechts abspielt, zieht dies die im Kontext der Klimaklagen stets aufgeworfene Frage nach sich, wie sich judikative Eingriffe in das Klimaschutzrecht im Gefüge der Staatsgewalten auswirken. Greift der Conseil in den Kernbereich gesetzgeberischer Zuständigkeit ein, wenn er die Ziele der Regierung für verbindlich erklärt und den Weg zu ihrer Erreichung eng begleitet? Das Urteil kann insoweit als Ausdruck eines Selbstverständnisses des Conseil gedeutet werden, das auf seine traditionell hervorgehobene Rolle im französischen Verwaltungsrecht zurückzuführen ist. Der Conseil ist, da eine kodifizierte Verwaltungsrechtsordnung lange fehlte, seit jeher rechtsfortbildend tätig geworden, sodass das Verhältnis zum Rechtsetzungsauftrag des Gesetzgebers von vornherein wenig angespannt ist. Dass er den anderen Staatsgewalten konkrete Handlungsaufträge an die Hand gibt, stößt in Frankreich kaum auf verfassungsrechtliche, in der Gewaltenteilung wurzelnde Bedenken. Es ist vor diesem Hintergrund nicht zu erwarten, dass sich (rechts-)politischer Widerstand gegen die intensive Kontrolle der Klimaschutzpolitik durch den Conseil regen wird.
Strahlkraft des Pariser Übereinkommens
Eine weitere Besonderheit, die für das Verständnis des Urteils entscheidend ist, ergibt sich aus normhierarchischer Sicht. Art. 55 CF ordnet völkerrechtlichen Verträgen einen Rang oberhalb der Gesetze (autorité supérieure à celle des lois) zu. Aufgrund des monistischen Völkerrechtsverständnisses ist ein Transformationsgesetz – anders als etwa nach deutschem Verfassungsrecht – nicht erforderlich. Dies eröffnet die Auslegung des französischen Klimaschutzrechts am Maßstab des Pariser Übereinkommens, die der Conseil im Urteil Grande Synthe vornimmt. Die herausgehobene Stellung des Völkerrechts in der französischen Rechtsordnung erlaubt eine ausdrückliche Einbeziehung sowohl der konkreten Ziele als auch der Regelungsstruktur und der grundlegenden Ziele des Pariser Übereinkommens; es soll, so der Conseil, im französischen Recht effektiv umgesetzt werden. So entfaltet das Übereinkommen in Frankreich eine normhierarchisch bedingte Ausstrahlungswirkung, die die völkerrechtsfreundliche Interpretation des einfach- und untergesetzlichen Klimaschutzrechts erleichtert.
Bedeutung für Klimaklagen jenseits des französischen Klimaschutzrechts?
Im Vergleich zur Urgenda-Entscheidung fällt auf, dass das Völkerrecht auch im niederländischen Recht im Rang über den Gesetzen steht, was konkret die unmittelbare Berufung auf die EMRK eröffnete. Das VG Berlin stützte seine – abweisende – Entscheidung vorrangig darauf, dass das Untermaßverbot nicht verletzt sei; die zugrunde liegende Schutzpflichtdogmatik ist dem französischen Grundrechtsverständnis indes fremd (dazu jüngst Classen), sodass eine Parallele kaum zu ziehen ist. Der vor den europäischen Gerichten anhängige People’s Climate Case hat die hohe Hürde der eng verstandenen, von einer individualisierten Betroffenheit abhängigen Zulässigkeit zu überwinden, was jedenfalls nach Auffassung des EuG schwer fällt. Vor Schwierigkeiten solcher Art stand die Gemeinde Grande-Synthe im objektiv ausgerichteten Verwaltungskontrollmodell Frankreichs nicht. Es bleibt zu konstatieren: Erfolg und Sinn von Klimaklagen hängen von den Strukturen und Eigenschaften der Rechtsordnung, in deren Rahmen sie erhoben werden, ab. In Frankreich sind diese Strukturen mit Blick auf den Gerichtszugang und die Einklagbarkeit völkerrechtlicher Verpflichtungen klägerfreundlicher als etwa in Deutschland. Sie haben eine höchstgerichtliche Entscheidung zutage gefördert, deren Wirkung über eine bloße Signalwirkung deutlich hinausgeht.
Zitiervorschlag: Janna Ringena & Dominik Römling, Klimaklage auf französisch – Conseil d’État kontrolliert Klimaschutzbemühungen der französischen Regierung, JuWissBlog Nr. 139/2020 v. 11.12.2020, https://www.juwiss.de/139-2020/.
Dieses Werk ist lizenziert unter einer Creative Commons Namensnennung – Nicht kommerziell – Keine Bearbeitungen 4.0 International Lizenz.
1 Kommentar. Hinterlasse eine Antwort
[…] Vor dem Conseil d’État klagten die direkt am Ärmelkanal gelegene Gemeinde Grande-Synthe und ihr ehemaliger Bürgermeister. Der Klage traten die Städte Grenoble und Paris sowie drei Umweltverbände bei. Klagegenstand war die ausgebliebene Auskunft der französischen Regierung auf einen Antrag der Gemeinde Grande-Synthe. Diese wurde mittels recours pour excès de pouvoir angefochten. Das Begehren der Kläger:innen richtete sich darauf, die französische Regierung zu verpflichten, alle notwendigen Maßnahmen zu treffen, um die THG-Emissionen auf dem französischen Staatsgebiet zu senken (vgl. bereits hier). […]