Von Nam Nguyen
Der Grundsatz des Individualrechtschutzes und der Klimaschutz stehen in einem gewissen Konflikt zueinander: Während der anthropogene Klimawandel ein kollektives, globales Problem darstellt, das erst in Zukunft seine vollen Auswirkungen zeigt, gewährt Art. 93 I Nr. 4a GG nur denjenigen Personen Rechtsschutz, die unmittelbar, selbst und gegenwärtig in ihren eigenen Rechten betroffen sind. Wie der 1. Senat des Bundesverfassungsgerichts diesen Konflikt löst, ohne den Grundsatz aufzugeben, soll Gegenstand des folgenden Beitrags sein.
Das Problem des Rechtsschutzes bei Klimaklagen
Aufgrund der Wirkungsweise von Treibhausgasen in der Atmosphäre werden vor allem jüngere und künftige Generationen weltweit die vollen Auswirkungen des anthropogenen Klimawandels tragen müssen. Um diese Auswirkungen effektiv eindämmen zu können, sind bereits gegenwärtig Maßnahmen zur Verminderung von Treibhausgasemissionen notwendig. Damit entsprechende Maßnahmen getroffen bzw. durchgesetzt werden, wird in letzter Zeit vermehrt der Rechtsweg eingeschlagen. Allerdings ist das deutsche (und europäische) Rechtsystem vom Grundsatz des Individualrechtsschutzes geprägt (vgl. Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG). Eine Verfassungsbeschwerde ist grundsätzlich nur zulässig, wenn Beschwerdeführende geltend machen können, durch die öffentliche Gewalt möglicherweise selbst, gegenwärtig und unmittelbar in ihren grundrechtlich geschützten Positionen verletzt zu sein. Das ergibt sich aus § 90 I BVerfGG und aus der Verfassung selbst, Art. 93 I Nr. 4a GG. Diese Anforderungen an die individuelle Betroffenheit stoßen bei Klimaklagen aufgrund der Natur des Klimawandels nicht selten an ihre Grenzen: Denn der Klimawandel hat kollektive, globale Auswirkungen, vor allem für künftige Generationen. So hielt jüngst der EuGH mit Urteil vom 25.03.2021 die Klage von zehn Familien aus der EU, Kenia und Fidschi endgültig wegen der mangelnden Klagebefugnis für unzulässig: Es fehle die individuelle Betroffenheit. Insofern liegt die Entscheidung des EuGH auf einer Linie mit seiner restriktiven Plaumann-Formel. Auch der 1. Senat des Bundesverfassungsgerichts musste sich in seiner jüngsten Entscheidung vom 24.03.2021 mit Fragen der Beschwerdebefugnis befassen. Gegenstand der Entscheidung waren mehrere Verfassungsbeschwerden gegen das Klimaschutzgesetz vom 12.12.2019. Dabei gelingt es dem 1. Senat des Bundesverfassungsgerichts, effektiven Rechtsschutz für Fragen des Klimawandels zu gewähren, ohne dabei den Grundsatz des Individualrechtsschutzes aufzugeben.
Kein Rechtsschutz für künftige Generationen?
Unter den Beschwerdeführenden befanden sich natürlichen Personen aus Deutschland, Bangladesch und Nepal sowie zwei Umweltverbände, die aufgrund des unzureichenden Klimaschutzgesetzes sowohl Verletzungen ihrer Grundrechte als auch die Verletzung objektiver Schutzpflichten des Staates geltend gemacht haben.
Der Senat nutzte die Möglichkeit, um sich zur viel diskutierten Beschwerdebefugnis bei Klagen zugunsten noch nicht geborener Menschen bzw. zukünftiger Generationen zu äußern: Noch nicht geborenen Menschen komme keine subjektive Grundrechtrechtsberechtigung zu (Rn. 109). Selbsterklärte Vertreter dieser Generationen sind daher auch nicht beschwerdebefugt. Um diese Generationen jedoch, wahrscheinlich auch im Hinblick auf Art. 20a GG, nicht komplett schutzlos zu stellen, statuiert der Senat in Übereinstimmung mit Stimmen aus der Literatur eine Schutzpflicht des Staates vor Lebens- und Gesundheitsgefahren auch für zukünftige Generationen, weist aber auch ausdrücklich darauf hin: Eine solche intergenerationelle Schutzverpflichtung sei nur objektiv rechtlicher Natur, da künftige Generationen aktuell noch nicht grundrechtsfähig sein (Rn. 146). Da dem Staat bezüglich seiner Schutzpflichten jedoch ein erheblicher Spielraum zusteht, dürfte dem hier erklärten objektivrechtlichen Schutz der Grundrechte künftiger Generationen nur eine geringe Bedeutung zu kommen. Der Senat bleibt hier dem Grundsatz des Individualrechtsschutzes treu: Der Rechtsweg steht derjenigen Person offen, die in ihren eigenen Rechten verletzt ist.
Popularverfassungesbeschwerden sind unzulässig
Anders als in der berühmten Ugenda-Entscheidung des Gerechtshof Den Haag (Urteil vom 9.10.2018), wurde den beiden klagenden Umweltverbänden vom 1. Senat die Beschwerdebefugnis abgesprochen. Während altruistische Klagen im niederländischen Recht möglich sind, hält der Senat ausdrücklich fest, dass dies für Verfassungsbeschwerden vor dem Bundesverfassungsgericht nicht gilt. Für die von den Verbänden „als Anwälte der Natur“ aus Art. 2 Abs. 1, Art. 19 Abs. 3 und Art. 20a GG hergeleitete Beschwerdebefugnis gäbe es keine verfassungsrechtliche Grundlage (Rn. 136). Neben der damit erteilten Absage der Verbandsklage im Verfassungsrecht äußert sich der Senat auch noch allgemein zur Popularverfassungsbeschwerde (Rn. 110): Es sei stets die eigene Betroffenheit erforderlich, die allerdings auch nicht dann entfällt, wenn eine sehr große Zahl von Menschen ebenso betroffen ist. Insofern zieht der Senat den Kreis der Beschwerdebefugten weiter als der EuGH im Europarecht mit der Plaumann-Formel.
Die Figur der intertemporalen Freiheitssicherung
Während der Senat somit dem verfassungsrechtlich verankerten Grundsatz des Individualrechtsschutzes treu bleibt, gelingt es ihm aber mit der neuen Figur der intertemporalen Freiheitssicherung, den Vorwurf der Inflexibilität und Rückständigkeit des deutschen Rechtsschutzsystems zurückweisen. Weil die zulässigen Treibhausgasemissionen bis 2030 im Klimaschutzgesetz zu großzügig bemessen seien, drohe den deutschen Beschwerdeführenden für den Zeitraum nach 2030 massive Freiheitseinschränkungen zugunsten eines dann intensiver zu verfolgenden Klimaschutzes. Diese Ungleichverteilung nehme möglicherweise nicht hinreichend Rücksicht auf die künftige Freiheit der Beschwerdeführenden. Gerade diese Vorwirkung könnte sie in ihren Grundrechten verletzen (Rn. 116 ff.). Dass die Beschwerdeführenden somit selbst in ihren eigenen Rechten betroffen sind, ist nicht aber das Progressive an dieser Figur. Durch die intertemporale Freiheitssicherung wird das ansonsten hier nur schwer begründbare Erfordernis der Gegenwärtigkeit erfüllt. Spätere Verfassungsbeschwerden hätten möglicherweise keinen Erfolg gegen die dann erforderlichen Freiheitsbeschränkungen zur Einhaltung des CO2-Restbudgets, sodass die Gefahr der Grundrechtsverletzung somit bereits im aktuellen Recht angelegt ist. Das macht die mögliche Verletzung eigener Grundrechte gegenwärtig – und aufgrund ihrer Unumkehrbarkeit auch ohne zukünftige Regelung jetzt schon unmittelbar. Wer in dieser Figur eine versteckte Überschreitung des Grundsatzes des Individualrechtsschutzes sieht, muss bedenken, dass die Figur der intertemporalen Freiheitssicherung jedenfalls in Fragen des Klimaschutzes eine Stütze in der Verfassung findet: Im Nachhaltigkeitsprinzip des Art. 20a GG, der eine intergenerationelle Verantwortung bezüglich der natürlichen Lebensgrundlagen des Menschen begründet. Gestützt auf diese Argumentation nimmt der Senat die Beschwerdebefugnis der Beschwerdeführenden an und gewährt jungen Menschen, die in ihrer Zukunft mit den Auswirkungen der heutigen Lebensweise konfrontiert sind, die Möglichkeit, für ihre zukünftige Freiheit vor Gericht zu streiten.
Der Senat öffnet sich für den Klimaschutz, ohne Grenzen zu überschreiten
Den Ausführungen des Senates bezüglich der Beschwerdebefugnis ist zuzustimmen: Es gelingt ihm, mithilfe des Art. 20a GG innerhalb des in Art. 19 Abs. 4 GG verfassungsrechtlich manifestierten Grundsatzes des Individualrechtsschutzes zu bleiben, sich aber gleichzeitig nicht vor neuen, globalen Fragen zu verschließen. Jedenfalls jetzt lebende Personen haben die Möglichkeit, die dritte Gewalt in Fragen des Klimaschutzes und ihrer Zukunft einzuschalten. Wie die etwas entferntere, ebenso wichtige Zukunft künftiger, noch nicht geborener Generationen aussehen wird, darauf haben sie jedoch keinen Einfluss.
Zitiervorschlag: Nam Nguyen, Klimaschutz vs. Individualrechtsschutz: Wie sich das BVerfG um Ausgleich bemüht, JuWissBlog Nr. 45/2021 v. 07.05.2021, https://www.juwiss.de/45-2021/.
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[…] nach Karlsruhe (z.B. hier und hier). Der Klima-Beschluss ist zweifelsohne historisch und mag ausgeglichen sein, dennoch hat der Beschluss es ausländischen Kläger*innen fast unmöglich gemacht, […]