Staatenlosigkeit als Schlüssel zu Rechten – Die Notwendigkeit gerechter Feststellungsverfahren

#workshopwednesday – Ein Beitrag aus unserem „JuBlog! Workshop zum Bloggen im Öffentlichen Recht

Von Merle Kämpfer

Inmitten von Diskussionen um Ausgangssperren und Reisebeschränkungen setzt das Human Rights Committee (HRC) einen menschenrechtlichen Weckruf ab und verurteilt die Niederlande wegen eines Verstoßes gegen das Recht auf Staatsangehörigkeit nach Art. 24 ICCPR. Der UNHCR spricht zurecht von einer „ground-breaking decision“. Als Kontrollorgan der UN – und insoweit gerichtsähnlich – hat sich das HRC im Fall D.Z. v Netherlands erstmalig mit dem Recht auf Staatsangehörigkeit eines Kindes, und dem vorausgehend, der Feststellung von Staatenlosigkeit befasst. Eine wichtige und überfällige Entscheidung. Denn für Staatenlose und Personen mit ungeklärter Nationalität sind Ausgangssperren und Reisebeschränkungen nicht nur in Zeiten von Corona der Normalfall.

„Nationalität ungeklärt“ – Eine unmenschliche Schutzlücke

Obwohl das Recht auf Staatsangehörigkeit in vielen Übereinkommen verbrieft ist, gibt es schätzungsweise 10 Millionen Staatenlose, etwa 600.000 von ihnen leben in Europa, rund 20.000 in Deutschland. Oft haben die Betroffenen keinen oder nur eingeschränkten Zugang zu den Sozial-, Bildungs- und Gesundheitssystemen ihres Aufenthaltsstaates. Dies ist insbesondere in Zeiten von Corona eine verheerende Situation: In vielen Staaten bleiben Betroffene von Testmöglichkeiten ausgeschlossen, oft erhalten mit dem Virus infizierte Staatenlose keine medizinische Versorgung (ein Beispiel hierzu, auch mit anschaulicher Übersicht zu den Auswirkungen der Corona-Pandemie in: Atlas der Staatenlosen, S.16f.). Und in beengten Unterkünften – die sie teilweise aufgrund staatlicher Erlasse nicht verlassen dürfen – stecken sie ihr Umfeld an.

Deshalb wollen das Übereinkommen zur Vermeidung von Staatenlosigkeit von 1961 und auch die vom UNHCR 2014 ins Leben gerufene Kampagne #Ibelong Staatenlosigkeit insgesamt beenden – ein ambitioniertes, wenn nicht gar unmögliches Unterfangen, jedenfalls hinsichtlich der derzeitigen internationalen Regelwerke. Denn diese beinhalten regelmäßig keine Pflicht der Staaten zur Verleihung der Staatsangehörigkeit – eine Konsequenz der klassischen Einordnung staatsangehörigkeitsrechtlicher Regelungen als domaine réservé eines jeden Staates. Somit bleibt zunächst auch der Schutz staatenloser Menschen von höchster Priorität.

Doch um überhaupt in den Schutzbereich des Übereinkommens zum Schutz Staatenloser von 1954 zu fallen und damit gegebenenfalls einen Anspruch auf Einbürgerung oder jedenfalls teilweise Rechtsangleichung geltend machen zu können, bedarf es der Feststellung der Staatenlosigkeit der einzelnen Person. Anerkannt staatenlos zu sein, ist insoweit der erste Schritt zur Verwirklichung individueller Rechte. Allerdings haben nur etwa ein Dutzend der Staaten hierfür gesetzlich geregelte Verfahren implementiert (S.2) – die Niederlande und auch Deutschland gehören nicht dazu. Was bleibt, ist eine unmenschliche Gesetzes- und Schutzlücke für die laut UNHCR etwa 90.000 Personen mit dem Status „Nationalität ungeklärt“ – Personen wie Denny Zhao.

Ungeschützt und ausgegrenzt – Pflicht zum Zugang zu Staatenlosigkeit aus Staatenlosenübereinkommen

Heute ist Denny 11 Jahre alt. Er kam 2010 in den Niederlanden zur Welt und ist ausschließlich dort aufgewachsen. Seine Mutter wurde 1989 in China geboren, ihre Eltern ließen sie jedoch aufgrund der Ein-Kind-Politik nie behördlich registrieren. Mit der Geburt ihres jüngeren Bruders wurde sie im Alter von 15 Jahren aus der Familie verstoßen und gelangte als Opfer von Menschenhandel und Zwangsprostitution in die Niederlande. Zu Dennys Vater besteht kein Kontakt, die Vaterschaft hat er nicht anerkannt. Der Nachweis der chinesischen Staatsangehörigkeit von Denny scheitert, da hierfür auch seine Mutter ihrerseits ihre chinesische Staatsangehörigkeit nachweisen müsste, was sie mangels Registrierung nicht kann.

Aber auch eine Änderung seines Status von „Nationalität ungeklärt“ in „Staatenlos“ gelingt nicht, da nach niederländischem Recht dem Antragsteller die alleinige Beweislast obliegt, seine Staatenlosigkeit nachzuweisen – in der Praxis kaum möglich. Die Niederlande fordern offizielle Dokumente der zuständigen chinesischen Behörden, aus denen hervorgeht, dass Denny nicht die chinesische Staatsangehörigkeit besitzt. Die chinesischen Behörden kamen dieser Bitte jedoch auch nach mehrmaliger Aufforderung nicht nach. Die Niederlande bleiben daher bei ihrer Vermutung, dass Denny chinesischer Staatsbürger ist. Die Folge: Denny fällt nicht in den Schutzbereich des Übereinkommens zum Schutz Staatenloser. Er besitzt keinen regulären Aufenthaltsstatus, lebt ausgegrenzt von der Gesellschaft in einer Unterkunft für abgewiesene Asylbewerber und ist dort einer permanenten Gefahr der Ausweisung und Abschiebehaft ausgesetzt (zum Problem der Ausweisung Staatenloser siehe Weissbrodt/Collins, S. 267f.). Die Unterkünfte dienen nur dem Übergang. Aber Denny lebt dort bereits seit mehr als drei Jahren.

Die gesetzlichen Beweislastregelungen verhindern, dass die Niederlande ihren Verpflichtungen aus den Staatenlosenabkommen (ausreichend) nachkommen. Danach hätten Personen wie Denny unter anderem ein Recht auf Freizügigkeit im Hoheitsgebiet, auf Ausstellung von Ausweispapieren, Schutz vor Ausweisung und nicht zuletzt ein Recht auf erleichterte Einbürgerung. Um die Durchsetzung dieser Rechte zu gewährleisten, sind die Vertragsstaaten nach dem Übereinkommen implizit auch dazu verpflichtet, staatenlose Personen in ihrem Hoheitsgebiet zu identifizieren.

Sogwirkung verbesserten Zugangs zum Status der Staatenlosigkeit?

Mit geregelten und fairen Feststellungsverfahren können Staaten dieser Pflicht aus dem Übereinkommen nachkommen. Personen mit einem Schutzanspruch fallen dann nicht mehr durch das Geflecht der gesetzlichen Regelungen. In der einseitigen Beweislastregelung der Niederlande sieht das HRC deshalb richtigerweise einen Verstoß gegen Art. 24 (3) ICCPR (8.3, 8.5) und verweist dazu in seiner Begründung auf Ausführungen des UNHCR, der für eben diese Verfahren eine geteilte Beweislast zwischen Staat und Antragsteller sowie einen angemessenen Beweismaßstab fordert. Denn ein absoluter Nachweis der Staatenlosigkeit kann häufig nicht erbracht werden. Die Untätigkeit von Staaten wie im Falle von Denny Zhao darf nicht zu Lasten der Betroffenen ausgelegt werden.

Vielmehr muss ausreichend sein, dass eine Person in vernünftigem Maße nachweist, dass sie unter die Definition einer staatenlosen Person nach dem Staatenlosenübereinkommen fällt, indem sie nachvollziehbare Bemühungen um Feststellung der (fehlenden) Staatsangehörigkeit im in Betracht kommenden Heimatstaat darlegt. Diesbezüglich sehen die Guidelines on Statelessness No. 4 des UNHCR vor, dass ein Mitgliedsstaat annehmen muss, dass eine Person staatenlos ist, sofern die zuständigen Behörden des Drittstaates eine Anerkennung der Person als ihren Staatsangehörigen verweigern; ausreichend ist hierfür sowohl eine ausdrückliche Stellungnahme des Drittstaates als auch dessen Verweigerung einer Antwort auf die Anfrage eines Betroffenen. Genauso sieht es auch das HRC (8.3). Indem es auch an dieser Stelle seiner Entscheidung explizit die Guidelines on Statelessness heranzieht, verstärkt es als völkerrechtlich autorisierte Institution das Gewicht der nicht in engerem Sinne rechtsverbindlichen Ausführungen des UNHCR – ein weiterer erfreulicher Aspekt dieser Entscheidung.

Politische Bedenken, dass die Einführung derartiger Verfahren zu einer Sogwirkung und mithin vermehrter Einreisen betroffener Personen führen könnte, bleiben nach bisherigen Erkenntnissen unbegründet. In Staaten, die bereits vergleichbare Verfahren eingeführt haben, ist kein Anstieg der Antragsteller auszumachen. In Frankreich beispielsweise blieb die Zahl der Anträge mit 200 pro Jahr seit 2010 stabil (UNHCR, Good Practices Paper, S. 3; OPFRA, Rapports d‘activité).

Ein weiter Weg zu einem effektiven Recht auf Staatsangehörigkeit

Die Entscheidung des HRC ist richtig, sie ist überzeugend und sie ist wegweisend. Auch deshalb, weil sie neben dem Verstoß gegen Art. 24 ICCPR einen weiteren menschenrechtlichen Missstand sichtbar gemacht hat: einen Verstoß der Niederlande gegen Art. 1 des Übereinkommens zur Verminderung von Staatenlosigkeit: Danach hätte Denny als in den Niederlanden anerkannt staatenlos geborenes Kind mit tatsächlich dauerhaftem Aufenthalt in den Niederlanden einen Anspruch auf Erwerb der niederländischen Staatsangehörigkeit. Doch die Niederlande fordern darüber hinaus eine vorausgehende legale Aufenthaltserlaubnis, die Denny nach niederländischem Recht selbst als anerkannt Staatenloser nicht hat. Das HRC und die Niederlande selbst (!) erkennen hierin eine Unvereinbarkeit mit dem Übereinkommen (2.7, 8.4). Dass die Niederlande hierauf bereits reagiert haben, verdeutlicht einmal mehr die Tragweite von HRC-Entscheidungen.

Solange es Staaten jedoch an Willen und Tatkraft fehlt, ihre nationalen Gesetze anzupassen und umzusetzen, solange bleibt das Recht auf Staatsangehörigkeit „a right without a remedy“.

 

 

Zitiervorschlag: Merle Kämpfer, Staatenlosigkeit als Schlüssel zu Rechten – Die Notwendigkeit gerechter Feststellungsverfahren, JuWissBlog Nr. 42/2021 v. 05.05.2021, https://www.juwiss.de/42-2021/.

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Feststellungsverfahren, Human Rights Council, JuBlog, Staatenlosigkeit, UNHCR, Völkerrecht
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