Die schrecklichen Terroranschläge des 13. November 2015 haben nicht nur die Menschen in Paris und die freie, aufgeklärte Welt in ihrer Gesamtheit ins Mark getroffen. Schlüsselereignisse wie jene in Paris haben überdies nicht erst seit dem 11. September 2001 oft genug die internationale Politik aufgewühlt, zu neuen Bündnissen geführt und den Zusammenhalt der Staatenwelt neu auf die Probe gestellt. Die staatlichen Reaktionen auf einschneidende terroristische Brandmarkung werden dabei stets vom Völkerrecht flankiert, das gerade in Krisenzeiten Beständigkeit vermittelt, Handlungsspielräume aufzeigt und auch zur Wahrung gegenseitiger Verpflichtungen mahnen kann. In der strategischen Positionierung gegenüber dem sogenannten „Islamischen Staat“ (im Folgenden: „IS“ – der natürlich kein Staat, sondern eine private Terrororganisation ist) lotet die westliche Welt zur Zeit aus, welche Reaktionen im Rahmen des Rechts möglich und notwendig sind. Insbesondere die EU und Frankreich haben heute (am 17.11.2015) dazu Stellung bezogen. Allein der geradezu selbstverständliche Rekurs auf das Recht – auch gegen Akteure, die unter „Recht“ einzig die unter dem feigen und falschen Feigenblatt des Islam pervertierte Gewaltanwendung verstehen – unterstreicht den hohen Anspruch der Staaten, gerade keinen archaischen Glaubenskampf im Stile der Kreuzritter führen zu wollen. Die umstrittenen Fragen treten erst in einem zweiten Schritt hinter dem Konsens unabdingbarer Rechtszugewandtheit zu Tage: Was kann die attackierte französische Republik von wem im Kampf gegen den „IS“ verlangen?
Militärische Maßnahmen gegen den „IS“ als solche
Die Frage, ob militärische Einsätze Frankreichs auf dem vom „IS“ kontrollierten Gebiet des Irak und Syriens rechtmäßig sein können, wurde bereits im Lichte der Terroranschläge von Paris diskutiert, so etwa auf diesem Forum von Alexander Schwarz oder jüngst auf Spiegel Online von Claus Kreß. Das dabei stets in den Blick genommene völkerrechtliche Selbstverteidigungsrecht – wiedergegeben in Artikel 51 der UN-Charta und zugleich manifestiertes Völkergewohnheitsrecht – beschreibt in Zeiten des internationalen Terrorismus immer ähnliche Problemkreise. Konkret geht es zumeist darum, ob verteidigende Gewalt auch gegen private Akteure wie den „IS“ auf Gebieten dritter Staaten zur Anwendung kommen darf. Dies gilt nicht erst seit den Anschlägen von Paris. So ist etwa schon seit längerem der britische Premierminister David Cameron der Meinung, den „IS“ auf Grundlage des völkerrechtlichen Selbstverteidigungsrechts bekämpfen zu dürfen. Frankreich möchte nun aber verständlicherweise nicht allein in die Schlacht ziehen, sondern sich einer starken Allianz sicher sein. Das erste Register, das zur Ausübung kollektiver Selbstverteidigung gezogen wird, ist unter NATO-Mitgliedern wie Frankreich typischerweise der Bündnisfall nach Artikel 5 des NATO-Vertrages. Tatsächlich ist der Bündnisfall allerdings erst einmal ausgerufen worden, nämlich nach den Terroranschlägen des 11. September 2001. Ob sich Frankreich angesichts dessen tatsächlich darauf berufen wird, ist zur Stunde noch unklar.
Unterstützung und Beistand auf EU-Ebene
Dagegen – oder auch daneben – scheint eine zweite Variante denkbar, die bislang noch keine praktische Relevanz erfahren hat: die eingeforderte Unterstützung aller Mitgliedstaaten der EU. Heute (am Mittag des 17.11.2015) hat der französische Verteidigungsminister Jean-Yves Le Drian eine derartige Unterstützung offiziell eingefordert. Tatsächlich kommen für eine Inpflichtnahme der europäischen Partner seit dem Vertrag von Lissabon zwei Varianten in Betracht: der sogenannte Beistandsfall im Rahmen der gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik der EU nach Artikel 42 Absatz 7 EUV und die Solidaritätsklausel des Artikel 222 AEUV. Dem Wortlaut nach scheint vor allem letztere Norm auf die gegenwärtige Situation zu passen:
„(1) Die Union und ihre Mitgliedstaaten handeln gemeinsam im Geiste der Solidarität, wenn ein Mitgliedstaat von einem Terroranschlag, einer Naturkatastrophe oder einer vom Menschen verursachten Katastrophe betroffen ist. Die Union mobilisiert alle ihr zur Verfügung stehenden Mittel, um […] b) im Falle einer Naturkatastrophe oder einer vom Menschen verursachten Katastrophe einen Mitgliedstaat auf Ersuchen seiner politischen Organe innerhalb seines Hoheitsgebiets zu unterstützen.
(2) Ist ein Mitgliedstaat von einem Terroranschlag, einer Naturkatastrophe oder einer vom Menschen verursachten Katastrophe betroffen, so leisten die anderen Mitgliedstaaten ihm auf Ersuchen seiner politischen Organe Unterstützung. Zu diesem Zweck sprechen die Mitgliedstaaten sich im Rat ab.“
Insbesondere Artikel 222 Absatz 2 AEUV nimmt jeden Mitgliedstaat in die Pflicht, Frankreich nach den Anschlägen von Paris zu unterstützen, wenn dies verlangt wird. Dies ist allerdings ohnehin schon längt geschehen und geschieht auch weiterhin, etwa durch gemeinsame polizeiliche Maßnahmen und logistische Kooperationen. Genau dies bezweckt auch die Solidaritätsklausel: gegenseitige Unterstützung am Ort des Geschehens. Damit ist aber gerade keine militärische Zusammenarbeit im Ausland gemeint. Dies verdeutlicht schon die Beschränkung auf Unterstützungsleistungen im Hoheitsgebiet nach Art. 222 Absatz 1 lit. b AEUV. Zudem umfasst die systematische Stellung der Norm im AEUV gerade nicht auf nach außen gerichtete Verteidigungsmaßnahmen, die als gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (und darunter auch Verteidigungspolitik) abschließend im EUV, dort unter den Artikeln 23 bis 46, geregelt sind.
In diesem Rahmen käme schließlich der Beistandsfall des Artikel 42 Absatz 7 EUV zum Tragen, auf den sich Le Drian ausdrücklich berufen hat und der wie folgt formuliert ist:
„Im Falle eines bewaffneten Angriffs auf das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats schulden die anderen Mitgliedstaaten ihm alle in ihrer Macht stehende Hilfe und Unterstützung, im Einklang mit Artikel 51 der Charta der Vereinten Nationen. Dies lässt den besonderen Charakter der Sicherheits- und Verteidigungspolitik bestimmter Mitgliedstaaten unberührt.
Die Verpflichtungen und die Zusammenarbeit in diesem Bereich bleiben im Einklang mit den im Rahmen der Nordatlantikvertrags-Organisation eingegangenen Verpflichtungen, die für die ihr angehörenden Staaten weiterhin das Fundament ihrer kollektiven Verteidigung und das Instrument für deren Verwirklichung ist.“
Der Wortlaut erinnert an den Bündnisfall des Artikel 5 NATO-Vertrag. Anknüpfungspunkt ist der „bewaffnete Angriff“ als Auslöser des völkerrechtlichen Selbstverteidigungsrechts, auf den hin die EU-Staaten Unterstützung – hier für Frankreich – „schulden“. Wie der zweite Unterabsatz von Artikel 42 Absatz 7 EUV zeigt, bleibt die eventuelle Ausrufung des NATO-Bündnisfalls davon unberührt. Zum EU-Beistandsfall stellen sich nun zwei wesentliche Fragen: Ist der Beistandsfall tatsächlich eingetreten? Und wenn ja, welche Rechtsfolgen sind daraus zu ziehen?
Eintritt des Beistandsfalls
Die Tatbestandsvoraussetzungen des EU-Beistandsfalls sind in großen Teilen identisch mit jenen des NATO-Bündnisfalls. Es müssen also die Voraussetzungen des völkerrechtlichen Selbstverteidigungsrechts gegeben sein, wie es in Artikel 51 UN-Charta wiedergegeben wird. Ob die Anschläge von Paris tatsächlich eine völkerrechtliche Selbstverteidigungslage ausgelöst haben, kann jedenfalls nicht messerscharf mit „ja“ oder „nein“ beantwortet werden. Alexander Schwarz zeigt sich im „JuWissBlog“ dazu skeptisch. Die von ihm aufgezählten neuralgischen Punkte zu den Problemkreisen der Selbstverteidigung geben den völkerrechtlichen Diskussionsstand präzise und vertretbar wieder. Ein Völkerrechtsberater einer Regierung eines EU-Staates könnte sich auf diese konzise Abhandlung ruhigen Gewissens berufen und eine Empfehlung aussprechen, man möge sich nicht an einem militärischen Einsatz gegen den „IS“ beteiligen.
Doch mag dies nicht den einzig gangbaren (und man möchte hinzufügen: ratsamen) Weg im völkerrechtsgeleiteten Kampf gegen den Terrorismus aufzeigen. Dass „bewaffnete Angriffe“ durchaus auch nichtstaatlicher Natur sein können, wird zu Recht anerkannt. Allerdings darf man leise zweifeln, ob ein Angriff des „IS“ wirklich auch einem anderen Staat zurechenbar sein muss. Weder Wortlaut von Art. 51 UN-Charta noch Sinn und Zweck des Selbstverteidigungsrechts – Schadensabwehr – verlangen dies. Selbstverteidigung ist ein Notrecht und daher nicht zwingend mit deliktsvölkerrechtlichen Vorgaben gleichzusetzen. Als Maßstab bleibt dann nur noch das Ausmaß des Angriffs, das sowohl aus staatlicher als auch aus privater Urheberschaft eine Erheblichkeitsschwelle zu überwinden hat. Es lässt sich gut vertreten, dass die Anschläge von Paris, innerhalb derer es nur vom Zufall abhing, dass einer der Attentäter es nicht in das Stade de France hineinschaffte und dort tausende Menschen hätte töten können, jedenfalls in ihrer Kumulierung erheblich genug waren. Danach wäre die Frage zu klären, ob die Verletzung fremden Territoriums im Rahmen einer Selbstverteidigungshandlung gegen den „IS“ – also der Staatsgebiete von Syrien und dem Irak – in diesem Fall auch mit Selbstverteidigung zu rechtfertigen sein kann, wenn die betroffenen Staaten in eine solche Maßnahme nicht einwilligen. Dies ist wohlgemerkt eine andere Frage als die der Zurechenbarkeit: Selbstverteidigung gegen den „IS“ ist nach hier vertretener Ansicht sicher möglich; die Frage ist nur, wo genau. Problematisch ist dies namentlich in Syrien, da sich jedenfalls die westlichen Staaten nicht auf eine vergiftete Einladung des Diktators Assad berufen möchten. Dazu hat Claus Kreß im Blog „Just Security“ bereits umfangreich und eindrucksvoll ausgeführt, dass die territoriale Integrität jedenfalls solcher Staaten, deren Organe Völkerrechtsverbrechen begehen (wie dies in Syrien der Fall ist), zu Gunsten der Selbstverteidigung gegen terroristische Akteure zurückzustehen hat. Mit dieser Begründung ließe sich Selbstverteidigung als Antwort auf die Attentate von Paris überzeugend rechtfertigen. Ein Völkerrechtsberater muss nicht unbedingt mutig sein, um sich gegen Alexander Schwarz die hier vertretene Position zu eigen zu machen. Damit wäre der EU-Beistandsfall eingetreten.
Rechtsfolge des Beistandsfalls
Der Beistandsfall wäre damit erstmalig in der Geschichte der EU gegenwärtig. Allerdings bedeutet dies noch lange nicht, dass sich 28 Mitgliedstaaten nun auf einen gemeinsamen Feldzug gegen den „IS“ begeben müssten. Die Rechtsfolge ist vielmehr weich formuliert, nämlich als die Schuld, alle verfügbare Hilfe und Unterstützung zu leisten. Dies soll gerade keinen Automatismus zur Waffengewalt auslösen. Artikel 42 Absatz 7 EUV statuiert keine unbedingte Pflicht zur kollektiven Selbstverteidigung aller EU-Mitgliedstaaten, sondern zwingt lediglich allgemein zum Handeln. Das „Ob“ ist also unabdingbar, das „Wie“ verbleibt jedoch in der Einschätzungsprärogative eines jeden Mitgliedstaates. Dies hat bereits das BVerfG in seiner berühmten Lissabon-Entscheidung (dort Rn. 386) festgestellt:
„Aus Wortlaut und Systematik des Art. 42 EUV-Lissabon wird jedenfalls deutlich, dass die Beistandspflicht der Mitgliedstaaten nicht über die Beistandspflicht nach Art. 5 des Nordatlantikvertrags vom 4. April 1949 (BGBl 1955 II S. 289) hinausgeht. Diese umfasst nicht zwingend den Einsatz militärischer Mittel, sondern gewährt den NATO-Mitgliedstaaten einen Beurteilungsraum hinsichtlich des Inhalts des zu leistenden Beistands (vgl. BVerfGE 68, 1 <93>). Hinzu kommt, dass die kollektive Beistandspflicht den „besonderen Charakter der Sicherheits- und Verteidigungspolitik bestimmter Mitgliedstaaten“ ausdrücklich unberührt lässt (Art. 42 Abs. 7 UAbs. 1 Satz 2 EUV-Lissabon), eine Aussage, die der Vertrag auch an anderen Stellen enthält (vgl. Art. 42 Abs. 2 UAbs. 2 Satz 1 EUV-Lissabon und die der Schlussakte zum Vertrag von Lissabon beigefügten Erklärungen Nr. 13 und 14 zur Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik). Die Mitgliedstaaten haben dadurch die primärrechtlich abgesicherte Möglichkeit, sich gegenüber der Beistandspflicht auf prinzipielle inhaltliche Vorbehalte zu berufen […].“
Dem ist nichts hinzuzufügen. Bei dieser Gelegenheit sollte aber noch einmal daran erinnert werden, dass auch der so oft zitierte NATO-Bündnisfall keinen Gewaltautomatismus nach sich zieht. Es besteht vielmehr nach dem geltenden Völkerrecht die Möglichkeit für Frankreich und jeden seiner Partner, militärisch gegen den „IS“ vorzugehen. Eine völkerrechtliche Pflicht erwächst daraus aber nicht.
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