Das Schicksal einer „geänderten“ Norm
von JULIAN UDICH
Die Änderung von Normen wird meistens als feststehendes Faktum betrachtet – mit der späteren Anordnung der Änderung „gibt“ es eine neue Norm. In völkerrechtlichen Zusammenhängen ist jedoch die Normänderung nicht selten unklarer, so dass ergründet werden sollte, was genau das Schicksal der geänderten Norm ist. Dieser Beitrag will dazu ein paar theoretische Gedanken zur Diskussion stellen, die selten explizit gemacht werden, jedoch für das Verständnis der Normänderung im Völkerrecht und für die Aufgabenverteilung zwischen den Rechtsanwender*innen und den ursprünglichen Normgeber*innen, relevant sind.
Was passiert bei der Normänderung?
Was ist das Problem? Ein Vergleich mit dem nationalen Recht mag helfen: Wenn ein Gesetz geändert wird, geschieht dies durch ein neues, veröffentlichtes Gesetz, das eine ausdrückliche Änderung anordnet – oder gleich das Gesetz neu bekannt macht. Welche der betroffenen Normen sind nun eigentlich noch „in Kraft“? Die alte in unveränderter Form und die neue, oder die alte in einer veränderten Form? Was passiert, wenn ein Rückgriff auf eine „alte Fassung“ notwendig ist – gilt diese weiterhin aus sich heraus oder nur aufgrund der Übergangsvorschrift? Im nationalen Recht kommt diesen Fragen wohl keine praktische Bedeutung zu, da regelmäßig Gerichte zur Letztentscheidung berufen sind.
Im Völkerrecht dagegen gestaltet sich – durch die vielfach beschworene dezentrale Rechtssetzung durch alle Staaten und teilweise andere Subjekte (und für den Moment seien nur die klassischen Rechtsquellen des Völkervertragsrechts und Völkergewohnheitsrechts betrachtet) – der Prozess der Rechtsänderung umso chaotischer. Stringente Anordnungen dahingehend, wann eine frühere Norm förmlich aufgehoben wird oder fortbestehen soll, sind höchstens ausnahmsweise vorhanden, vor allem, wenn beispielsweise Vertragsrecht frühere gewohnheitsrechtliche Normen mit (oder vermeintlich ohne) Änderungen kodifiziert.
Ein völkerrechtliches Beispiel
Als einfachstes Beispiel: ein völkerrechtlicher Vertrag nimmt zumindest implizit auf einen früheren Vertrag Bezug und bestimmt entweder (A) ausdrücklich, dass der frühere Vertrag geändert wird (siehe beispielsweise Zusatzprotokoll 15 der EMRK) oder (B) setzt ohne weitergehende Anordnung neue, inhaltlich abweichende Normen.
Fall A ließe sich intuitiv so verstehen, dass der alte Vertrag danach nur in der geänderten Form in Kraft ist. Der Fall B scheint ebenfalls einfach zu sein: beide Verträge bestehen parallel zueinander und nach dem Grundsatz von lex posterior wird sich der neue Vertrag durchsetzen. Es ist jedoch nicht ausgeschlossen, dass die Setzung der neuen Normen – trotz der Lösungsmöglichkeit über lex posterior – dennoch eine Änderung beinhalten soll (vgl. dazu Vranes, S. 395 ff.). Das kann bereits Verträge betreffen, die eindeutig aufeinander Bezug nehmen (Hauptvertrag und Protokoll), vielmehr aber Verträge aus unterschiedlichen Regelungsbereichen, die miteinander konfligieren (siehe aus dem großen Diskussionsfeld nur illustrierend die Diskussion um die „same subject-matter“ in Art. 30, z.B. Dahl, Indian Yearbook of International Affairs 17 (1974), S. 279 oder den Fragmentation Report, Rn. 253 ff.) Welche Normen, mit welchem Inhalt, sind dann „in Kraft“? Welchen Einfluss hat es, wenn unterschiedliche Gruppen von Staaten an beiden Verträgen beteiligt sind? Wie wäre es, wenn in den Fällen A und B kein Vertrag, sondern auf eine alte, gewohnheitsrechtliche Norm Bezug genommen wird?
Prämissen: Wann gilt eine Norm?
In der Praxis dürfte – vermeintlich – klar sein, welche Norm zur Anwendung gelangt. Die Prämisse dieses Beitrages ist, dass völkerrechtliche Normen grundsätzlich positiv gesetzt werden – ob ihre Geltung, verstanden als die Befugnis, Normen zu setzen, positivistisch oder nichtpositivistisch begründet wird, kann dabei dahinstehen. Das heißt – kelsenianisch gesprochen –, dass Subjekte des Völkerrechts Normen durch einen dem Grunde nach identifizierbaren Akt setzen. Nur dann sind diese „in Kraft“.
Warum ist nun die Frage, ob eine Norm in einer bestimmten Form „in Kraft“ ist, relevant, wenn beispielsweise die Geltung von rechtswissenschaftlichen Stellungnahmen oder Gerichten ohne Problem festgestellt werden kann? Weil ausgehend von einem positiven Normverständnis nur diejenige, die befugt ist, eine Norm zu setzen oder zu ändern, auch beeinflussen kann, ob diese noch gilt. Rechtsanwender*innen stehen dagegen nur die Auslegung und mögliche Konfliktlösungsregeln für den Einzelfall zur Verfügung. Damit lässt sich zur Geltung von Normen entweder nur eine verbindliche Entscheidung mit sehr beschränkter persönlicher Reichweite (z.B. ein Urteil des IGH, das inter partes wirkt, Art. 59 IGH-Statut) treffen oder insgesamt nur eine unverbindliche Behauptung (die einfache Normanwendung durch Staaten) dazu aufstellen. Ausgehend von einer positiven Normsetzung ist es aber für eine technisch bruchfreie Erklärung des Völkerrechts mindestens wünschenswert, auch die Frage nach der Geltung zu beantworten. Denn letztlich handelt es sich um die ebenso wichtige wie vermeintlich einfache Frage: Welches ‚Recht‘ gilt? Welche Konstruktionsmöglichkeiten kommen in Betracht, um die Normänderung abzubilden?,
Sedimente von Normen
Die simpelste Möglichkeit wäre, dass alle völkerrechtlichen Normen in dem Sinne „in Kraft“ bleiben, dass ihr Anwendungsbereich grundsätzlich unverändert ist. Bildlich gesprochen lagern sich also Schichten von Normen mit einem ähnlichen persönlichen und sachlichen Anwendungsbereich übereinander – gleich Sedimentablagerungen. Welche Norm dann auf einen konkreten Fall anzuwenden ist, entscheidet sich – um in dem Bild zu bleiben – danach, welche Norm jeweils zuoberst liegt, namentlich die jüngste Norm. Präzise betrachtet bedeutet das allerdings, dass dem Grunde nach für jeden Anwendungsfall einer Norm anhand von Konfliktlösungsregeln wie lex posterior (oder entsprechender Auslegung, die Natur dieser Regeln kann hier offen bleiben – weiter dazu beispielsweise Vranes) zu entscheiden ist, welche Norm aus dem Sediment zur Anwendung kommt. Regelmäßig wird das unproblematisch sein und zum immer gleichen Ergebnis führen. Betrachtet man jedoch allein die Regel der Juvenilität im Detail, tauchen mitunter deutliche Unklarheiten auf, welche Norm (oder nach dem Wortlaut von Art. 30 WVK, welcher Vertrag) jünger oder älter ist – ist dafür auf die individuelle Ratifizierung, oder – wohl mehrheitlich vertreten – auf den Vertragsschluss abzustellen (siehe mit Beispielen unter anderem Vierdag, BYIL 59 (1988) 75, 92-94 und den Fragmentation Report der ILC, Rn. 232). Zudem wirft die Lösung bei Verträgen mit unterschiedlichen Parteien umso komplexere Fragen auf (zum Überblick beispielsweise ILC, Rn. 234 ff.). Diese Lösung verlangt daher, zumindest größere Aufmerksamkeit auf die Regeln der Juvenilität und damit verbunden, auf inter-se Abkommen in Art. 30 Abs. 4 und 41 WVK zu legen, um die interne Vertragsänderung vom Nebeneinander zweier Verträge klar abzugrenzen.
Implizierte Übergangsvorschriften
Als zweite Möglichkeit könnte man in Anlehnung an die Praxis im nationalen Recht an Übergangsvorschriften denken: Die alte Norm wird grundsätzlich aufgehoben oder verändert, ist also in der früheren Form nicht mehr in Kraft. Zugleich werden jedoch die Zweifelsfälle geregelt: Das hieße, da Übergangsvorschriften im Völkerrecht selten explizit eingefügt werden, dass in jedem Akt der Normsetzung von den Normgeber*innen zugleich eine Regelung fingiert wird, was mit der alten Vorschrift passiert – bleibt sie für Fälle der Vergangenheit in Kraft oder tritt sie automatisch wieder in Kraft, wenn beispielsweise die neu gesetzte Norm außer Kraft tritt? Prinzipiell spricht wenig gegen diese Konstruktion, außer dass es sich meistens um eine weitgehende Fiktion handeln wird. Die Entscheidung treffen hier zwar nominell die Normgeber*innen durch eine implizite Anordnung – wie diese lautet, entscheiden aber wiederum die konkreten Rechtsanwender*innen durch die Auslegung.
Zeitlicher Anwendungsbereich als Teil der Norm
Eine dritte Möglichkeit könnte darin bestehen, grundsätzlich alle Normen in Kraft bleiben zu lassen, aber mit der Setzung einer neuen Norm zugleich eine bestimmte Änderung der alten Norm zu verbinden: statt Normen nur primär nach einem sachlichen und persönlichen Anwendungsbereich zu betrachten, ließen sie sich auch mit einem zeitlichen Anwendungsbereich versehen, der bestimmt, dass die Norm in Kraft ist, aber nur auf Sachverhalte in einem bestimmten Zeitraum anzuwenden ist. So ließe sich – durchaus nicht zwingend – die berühmte Entscheidung Island of Palmas (S.14) zum intertemporalen Recht lesen oder auch das Protokoll zur Genfer Flüchtlingskonvention von 1967 (das den zeitlichen Anwendungsbereich jedoch gerade ausdehnt). Der Vorteil einer solchen Konstruktion läge darin, dass nicht in jedem Einzelfall anhand der Juvenilitätsregel zu entscheiden ist, welche Norm Anwendung findet – optimalerweise wäre für einen bestimmten Zeitpunkt nur eine Norm anwendbar. Allerdings stellt sich dann die Frage, warum die Regel des lex posterior z.B. in Art. 30 WVK noch notwendig wäre. Und auch hierliegt in der Unterstellung der impliziten Normänderung in der völkerrechtlichen Praxis wohl häufiger eine Fiktion als ein artikulierter Wille der Normgeber*innen.
Klarheit, Sorgfalt, Auslegung?
In der Praxis des Völkerrechts werden sich die drei vorgestellten Möglichkeiten ebenso wie andere Formen wiederfinden lassen. Solange die Änderung von Normen nicht flächendeckend mit eindeutigen Anordnungen einhergeht – womit nicht zu rechnen ist –, sollten Rechtsanwender*innen jedenfalls ihre Position zur Konstruktion der Normänderung konkret begründen und damit ausdrücklich zur Diskussion stellen, um größere Rechtsklarheit zu schaffen.
Julian Udich ist Referendar am Hanseatischen Oberlandesgericht und Doktorand bei Prof. Dr. Doris König, Hamburg.