Staatsangehörigkeitsschlüssel 998: Weniger als staatenlos?

von STEPHAN GERBIG

Die wegweisende Entscheidung des UN-Menschenrechtsausschusses in der Sache D.Z. v Netherlands hat Merle Kämpfer auf diesem Blog bereits vorgestellt. Der Fall war für den UN-Menschenrechtsausschuss eine Gelegenheit, sich ausführlich mit dem Recht eines Kindes auf eine Nationalität (vgl. Art. 24 Abs. 3 UN-Zivilpakt bzw. Art. 7 Abs. 1 UN-KRK) auseinander zu setzen. Der Ausschuss hat sich dabei für eine sehr extensive Auslegung entschieden. Zwar folgt aus dem Recht auf eine Nationalität keine Verpflichtung, jedem Kind, das auf dem eigenen Staatsgebiet geboren wird, die entsprechende Staatsangehörigkeit zu verleihen. Sehr wohl müssen Staaten aber die Staatsangehörigkeit (bzw. eine etwaige Staatenlosigkeit) von Kindern in gesonderten Verfahren ermitteln und bestimmen, damit diese keinen unklaren Status behalten. Hier besteht eine zentrale menschenrechtliche Herausforderung: Es gibt Kinder, die noch weniger geschützt sein können als staatenlose Kinder – nämlich Kinder mit einer andauernden ungeklärten Staatsangehörigkeit. In diesem Beitrag möchte ich der Frage nachgehen, was diese Entscheidung des UN-Menschenrechtsausschusses für die innerstaatliche Rechtsanwendung in Deutschland bedeuten sollte.

Ungeklärte Staatsangehörigkeit in Deutschland

Der Status der „ungeklärten“ Staatsangehörigkeit ist – anders als der Status der Staatenlosigkeit – in Deutschland nicht mit besonderen Rechtspositionen verbunden, hat aber durchaus rechtsförmlichen Charakter: Er taucht vereinzelt in gesetzlichen und untergesetzlichen Regelungen auf (vgl. bspw. Art. 5 Abs. 2 EGBGB), zudem ist er jedenfalls so geläufig, dass es für die ungeklärte Staatsangehörigkeit sogar einen eigenen Staatsangehörigkeitsschlüssel gibt: 998. In einer Verwaltungsvorschrift zum Bundesmeldegesetz ist festgehalten, wie schnell man in diese Kategorie fallen kann: Nämlich bereits dann, wenn die eigene Mitwirkung bei der Aufklärung der Staatsangehörigkeit als nicht ausreichend gilt oder die Aufklärung unzumutbar ist (vgl. 3.1.10). Hier deutet sich bereits vorsichtig an, dass die Feststellung der eigenen Staatsangehörigkeit nicht immer im alleinigen Verantwortungsbereich der betroffenen Person liegt – Konstellationen wie der niederländische Fall vor dem UN-Menschenrechtsausschuss, in dem die Feststellung der Staatsangehörigkeit am Unwillen eines anderen Staates scheiterte, gibt es auch in Deutschland.

Wie viele Fälle der andauernden ungeklärten Staatsangehörigkeit es in Deutschland gibt, kann man nicht exakt sagen: Die GENESIS-Datenbank des statistischen Bundesamts weist für den Staatsangehörigkeitsstatus „ungeklärt / ohne Angabe“ 91.490 Personen zum Stichtag 31.12.2020 aus, davon 36.925 Personen unter 18 Jahren und damit Kinder im Sinne der UN-Kinderrechtskonvention (GENESIS-Code: 12521-0002). Diese Zahlen muss man aber mit einer gewissen Vorsicht betrachten, weil hier zwei unterschiedliche Staatsangehörigkeitsschlüssel zu einer statistischen Größe zusammengeführt wurden: Die „ungeklärte“ Staatsangehörigkeit sowie die Staatsangehörigkeit „ohne Angabe“. Zudem ist zu bemerken, dass die ungeklärte Staatsangehörigkeit durchaus auch eine bloße statistische Momentaufnahme sein kann und es sich nicht notwendigerweise in allen Fällen um einen andauernden Zustand handeln muss. Vor diesen Hintergründen bleiben diese Statistiken für diesen Kontext reine Näherungswerte – die man aber mit Sorge zur Kenntnis nehmen sollte.

Kein gesondertes Verfahren, komplizierte Beweislast

Auch in Deutschland existiert kein gesondertes Verfahren zur Feststellung der Staatenlosigkeit. Die Klärung der Staatenlosigkeit ist in Deutschland insofern immer eine inzidente Rechtsfrage, die etwa im Zusammenhang mit Asylanträgen, Einbürgerungen, Abschiebungen oder der Erteilung eines Reiseausweises für Staatenlose aufkommen kann. Das ist bereits für sich genommen problematisch: Die dadurch ausgelöste Verwaltungspraxis gilt als unübersichtlich und langwierig. Zudem entfaltet die inzidente Feststellung oder behördliche Annahme einer bestimmten Staatsangehörigkeit bzw. der Staatenlosigkeit nicht zwingenderweise eine Konzentrationswirkung für andere Verfahren, in denen diese Rechtsfrage inzident entscheidungserheblich ist (vgl. zu denkbaren Konfusionen bspw. das Verfahren vor dem VG München, Urt. v. 26.01.2017, M 24 K 16.4668).

Schließlich ist zu bedenken, dass die Frage der Beweislast in Konstellationen möglicher Staatenlosigkeit komplex sein kann: Nach der Rechtsprechung tragen betroffene Menschen für den Nachweis ihrer Staatsangehörigkeit bzw. der Staatenlosigkeit grundsätzlich die Beweislast (vgl. hierzu erst kürzlich OVG Schleswig, Urt. v. 20.04.2021, Az. 4 LB 7/20, Rn. 35) und umfassende Mitwirkungspflichten. Relativierungen von diesem Grundsatz kommen – in Ermangelung gesonderter Regelungen – nur im Falle einer Beweisnot in Betracht (etwa, weil es im jeweiligen Herkunftsland kein oder ein nur unzureichend funktionierendes Personenstandswesen gibt, oder aus sonstigen zwingenden Gründen, die die Person nicht zu vertreten hat, vgl. OVG Schleswig, Rn. 36), und dies in Form eines Stufenmodells: Je schwieriger bzw. weniger zumutbar der Nachweis, desto geringer sind die Anforderungen an die zu berücksichtigenden Beweismittel. Dieses Stufenmodell – das zunächst amtliche Identitätsdokumente erwartet, und stufenweise absteigend auch andere geeignete amtliche Urkunden oder Dokumente, dann nichtamtliche Urkunden und Dokumente, dann Zeugenaussagen sowie schließlich als ultima ratio das eigene Vorbringen des Betroffenen genügen lässt – ist grundsätzlich ein angemessener Ausgleich zwischen öffentlichen Interessen und den Interessen der betroffenen Person in Beweisnot, und steht im Hinblick auf die abgesenkten Beweismaßstäbe auch im Einklang mit den Empfehlungen von UNHCR sowie den Auffassungen des UN-Menschenrechtsausschusses (D.Z. v Netherlands, Rn. 8.3).

Gemeinsame Verantwortung und der Faktor Zeit

Die Situation in Deutschland stellt sich insoweit anders dar als in den Niederlanden – und trotzdem sollte das Verfahren D.Z. v Netherlands für Deutschland alarmierend sein: D.Z. v Netherlands offenbart nicht nur menschenrechtliche Gefährdungslagen, die durch unangemessene Beweislastregelungen entstehen können – das Verfahren zeigt zudem, wie langwierig der Kampf um die Klärung der Staatenlosigkeit sein kann (von der Geburt des Beschwerdeführers bis zur Entscheidung des UN-Menschenrechtsausschusses sind mehr als zehn Jahre vergangen) und wie schnell Betroffene auf sich allein gestellt sind. Die Einführung eines gesonderten Verfahrens zur Feststellung der Staatenlosigkeit würde die Möglichkeit zur Vermeidung solcher Problemlagen in Deutschland bieten: In einem solchen Verfahren könnten (neben der Kodifizierung der bereits in der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze zur Beweisführung, die keineswegs in allen Behörden immer bekannt sind und angewendet werden) vor allem klare staatliche Aufklärungspflichten, eine optionale Einbindung des UNHCR im Verfahren sowie Verfahrensbearbeitungsfristen eingeführt werden. Das legen auch die von UNHCR zusammengestellten good practices nahe.

Klare staatliche Aufklärungspflichten sind schon alleine deshalb erforderlich, weil Betroffene vielfach nicht bloß Mitwirkungspflichten tragen, sondern ihr Schicksal faktisch oft allein von ihrem eigenen Bemühen, sich mit ihren Herkunftsstaaten ins Benehmen zu setzen, abhängig ist: Das wird durch die Darstellung der Tatbestände in den einschlägigen Gerichtsentscheidungen mehr als deutlich indiziert. Im Hinblick auf möglicherweise staatenlose Personen sind fehlende (scharf konturierte) staatliche Aufklärungspflichten besonders fatal, weil Staaten dazu neigen, nur auf Anfrage von amtlichen Stellen anderer Staaten, nicht aber auf Anfragen von (vermeintlich) staatenlosen Einzelpersonen zu reagieren – genau diese rechtlich wie faktisch schwache Stellung von (vermeintlich) staatenlosen Einzelpersonen ist schließlich der Grund, dass Staaten völkerrechtlich zu besonderer Unterstützung verpflichtet sind.  Auch eine optionale Einbindung von UNHCR könnte in bestehenden Gemengelagen ein vermittelnder Ansatz sein, und eine aktive Rolle von UNHCR ist dem deutschen Ausländerrecht auch nicht völlig fremd.

Eine feste Frist (bspw. sechs Monate), innerhalb derer über Anträge auf Feststellung der Staatenlosigkeit entschieden werden muss, wäre ein wichtiges Instrument, um überlange Verfahren, und insbesondere die damit verbundenen negativen Rechtsfolgen, zu verhindern: Ist die Staatenlosigkeit nicht festgestellt, greifen bspw. die Erleichterungen beim Einbürgerungsanspruch nicht und es besteht nicht die Möglichkeit, einen Reiseausweis für Staatenlose zu bekommen. Vor allem aber kann die ungeklärte Staatsangehörigkeit dazu führen, dass der aufenthaltsrechtliche Status nicht bestimmt werden kann – und Betroffene lange in Gemeinschaftsunterkünften leben müssen. Damit können besonders weitreichende menschenrechtliche Gefährdungslagen verbunden sein, gerade auch für Kinder – und hier zeigt die Situation in Deutschland eine deutliche Parallele zu D.Z. v Netherlands. Deutschland sollte aktiv auf diese Entscheidung reagieren und nicht darauf warten, dass ähnliche Fälle wie D.Z. v Netherlands in Deutschland auch deutsche Gerichte oder bspw. UN-Vertragsorgane beschäftigen werden. Denn das dürfte nur eine Frage der Zeit sein.

 

Zitiervorschlag: Stephan Gerbig, Staatsangehörigkeitsschlüssel 998: Weniger als staatenlos?, JuWissBlog Nr. 56/2021 v. 27.05.2021, https://www.juwiss.de/56-2021/.

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