#workshopwednesday – Ein Beitrag aus unserem „JuBlog! Workshop zum Bloggen im Öffentlichen Recht“
Von Michael Cremer
Indien und Südafrika fordern, den Schutz geistigen Eigentums während der COVID-19-Pandemie weitestgehend auszusetzen, um den Zugang zu Arzneimitteln und medizinischen Produkten zu erleichtern. Die EU verweigert ihre Zustimmung und wird dafür heftig kritisiert. Doch die Sache ist komplizierter, als man denkt.
Die beiden Staaten haben am 2. Oktober 2020 im Rahmen der Welthandelsorganisation (WTO) vorgeschlagen, bestimmte Vorschriften des TRIPS-Abkommens (Agreement on Trade-Related Aspects of Intellectual Property Rights)zeitweise außer Kraft setzen. Durch das Abkommen haben sich die 164 WTO‑Staaten selbst verpflichtet, in ihren nationalen Gesetzen einen gewissen Mindestschutz für Geistiges Eigentum vorzusehen. Beschließt die WTO die Vorschriften auszusetzen, können alle Staaten ihre nationalen Gesetze ändern und den Schutz modifizieren oder streichen, ohne dass sie Internationales Handelsrecht verletzen. Wie viele Staaten das wirklich tun würden, ist unklar. Die derzeit vorgeschlagene Aussetzung soll für mehrere Jahre gelten, der genaue Zeitraum bleibt aber bisher offen. Der Vorschlag ist sehr allgemein formuliert und erfasst nicht nur Patente, sondern auch Urheberrechte, Designs, und Geschäftsgeheimnisse, die in irgendeiner Verbindung mit der Vorbeugung, Eindämmung oder Behandlung von COVID-19 stehen. Betroffen sind also eine Reihe von Schutzrechten für alle Produkte zur Pandemiebekämpfung (z.B. Tests, Masken oder Handschuhe). Da sich die Debatte aber primär um Patente und Impfstoffe dreht, sollen diese hier im Mittelpunkt stehen.
Ungerechte Impfstoffverteilung
Unter Ländern des globalen Südens hat der Vorschlag Zustimmung, in denen des globalen Nordens Ablehnung gefunden. Im öffentlichen Diskurs sind die Rollen klar verteilt: Einerseits die profitgierige Pharmaindustrie, über die die Regierungen der Industrieländer ihre schützende Hand halten. Andererseits strukturell, insbesondere bei der Impfstoffverteilung benachteiligte Schwellen- und Entwicklungsländer sowie Nichtregierungsorganisation, die den „Business-as-usual-Ansatz der Profitmaximierung“ der Pharmaindustrie anprangern. Tatsächlich ist die globale Verteilung der Impfstoffe ungerecht. Um die Gefahr der Pandemie und weiterer Mutationen von SARS-CoV-2 zu bannen, müssen alle Menschen möglichst rasch geimpft werden. Hilft der Vorschlag dabei?
Das Dilemma des Patentrechts
Hinter dem Patentrecht steht ein ökonomischer Gedanke: Patente sollen Marktversagen für Innovation beheben und ökonomische Anreize setzen. Eine Idee kann jeder nutzen, es sei denn, man hält sie geheim. Für ErfinderInnen ist es schwierig (wirtschaftliche) Vorteile aus Ideen zu ziehen, wenn Wettbewerber sie schnell und kostenlos imitiert können. Denn die Konkurrenz muss nur die Herstellungskosten, nicht aber die Innovationskosten einpreisen. Wenn die Innovationskosten sehr hoch sind, weil Forschung und Entwicklung langwierig, risikoreich und teuer sind, bestehen kaum Anreize zu forschen. Hier setzt das Patentrecht an: Wer etwas Neues erfindet, erhält für 20 Jahre das Recht diese Erfindung ausschließlich zu nutzen (§§ 9, 16 PatG). Mittels dieser Monopolstellung lassen sich die Innovationskosten amortisieren. Zudem wird Geheimhaltung zwecklos, da ein Patent nur erteilt wird, wenn die Erfindung detailliert offengelegt wird.
Das Patentrecht steht aber vor einem Dilemma. Die Monopolstellung verhindert nämlich gleichzeitig, dass Wissen optimal genutzt wird. Das Patentrecht muss also die Vorteile der Innovationsanreize und die Nachteile der Monopolisierung ausbalancieren. Wie gut das Patentrecht das schafft, ist unter ÖkonomInnen sehr umstritten und lässt sich allenfalls für bestimmte Märkte feststellen. Gerade der Pharmabereich gilt aber regelmäßig als Paradebeispiel für einen Sektor, in dem Patentschutz sinnvoll ist. Die Entwicklung neuer Arzneimittel ist sehr aufwändig und teuer, aber viele entwickelte Produkte sind mittels biochemischer Analyse sehr einfach zu rekonstruieren und die Innovation kaum geheim zu halten. Ohne Patentschutz fehlen Anreize zu Forschung und Entwicklung, da Generikahersteller die einmal gefundenen Stoffe für einen Bruchteil der Kosten herstellen könnten. Andererseits ist die künstliche Verteuerung von lebenswichtigen Medikamenten, war die Forschung erstmal erfolgreich, auch besonders umstritten.
Eine Pandemie ist eine Pandemie ist eine Pandemie?
Mittlerweile sind der COVID-19-Pandemie mehr als 3 Millionen Menschen zum Opfer gefallen. Keine Frage: der Schutz von Menschenleben kann und soll Ausnahmen vom Internationalen Handelsrecht und ökonomischen Theoriegebilden rechtfertigen. Jedenfalls, wenn sie für die Pandemiebekämpfung mehr nützen als schaden. Genau daran bestehen aber erhebliche Zweifel.
Die Aussetzung der TRIPS-Regeln kann das Dilemma des Patentrechts nur auf den ersten Blick klar zum Guten auflösen: Die Hoffnung ist, dass sie die künstlichen Fesseln des Patentrechts sprengt und den Schalter zur ungehinderten Impfstoffproduktion umlegt. Doch dieser Schalter existiert nicht. Einen Impfstoff zu produzieren ist extrem kompliziert und nicht mit der Herstellung eines einfachen Medikaments zu vergleichen. Nur wenige Unternehmen sind dazu überhaupt in der Lage. Das gilt insbesondere für die neuen mRNA-Impfstoffe (BioNTech/Pfizer und Moderna). Den verfügbaren Informationen nach werden bestehende Produktionskapazitäten durch Lizenzverträge zwischen den Pharmaunternehmen weitgehend genutzt; auch in Indien, das wegen seiner starken Generikaindustrie als „Apotheke der Welt“ gilt. Neue Produktionskapazitäten können weder Länder des globalen Nordens noch jene des globalen Südens über Nacht aufbauen. Die Impfstoffe sind nicht wegen der künstlichen Verknappung durch das Patentrecht Mangelware, sondern weil es insgesamt an Fachwissen, Rohmaterialien, technischen Geräten, Personal und tragfähiger Logistik hapert. Keines dieser Probleme lässt sich durch die Aussetzung des Patentschutzes beheben.
Sollte im Einzelfall doch ein Patent zum entscheidenden Hindernis werden, wofür es bisher keine Hinweise gibt, bietet das TRIPS-Abkommen den Staaten Instrumente, um den Patentschutz in Ausnahmesituationen zu überwinden. Insbesondere erlaubt Art. 31 TRIPS unter bestimmten Voraussetzungen die Erteilung von Zwangslizenzen. In der COVID-19-Pandemie sind diese Voraussetzung klar erfüllt und dennoch hat bisher kein Staat in Bezug auf COVID-Impfstoffe davon Gebrauch gemacht (ein kleines kanadisches Unternehmen könnte aber bald den Anfang machen). KritikerInnen führen an, dass das Verfahren aufwändig und langsam sei und in einigen Staaten erst die rechtlichen Voraussetzungen geschaffen werden müssten. Tatsächlich müssen die Behörden erst mit den PatentinhaberInnen über eine Lizenz verhandeln; darauf kann im Fall eines nationalen Notstandes aber verzichtet werden (Art. 31 (b) TRIPS). Zudem würde auch die Aussetzung der TRIPS-Vorschriften das Patentrecht nicht automatisch verändern. Die einzelnen Staaten müssten erst ihr nationales Recht umgestalten, was ebenfalls einige Zeit in Anspruch nehmen dürfte.
Gleichzeitig ist die Aussetzung des Patentrechts kein risikoloser Schritt. Die Gefahr ist, dass das Vertrauen in das Immaterialgüterrecht ausgehöhlt wird, und langfristig weniger Anreize bestehen, in Forschung und Entwicklung zu investieren. Wenn die Pharmaunternehmen fürchten müssen, ihr Geistiges Eigentum zu verlieren (und damit die Fähigkeit ihre Innovationskosten zu amortisieren), werden sie bei der Anpassung der Impfstoffe an neuen Virus-Varianten oder gar bei der nächsten Pandemie vielleicht weniger Ressourcen in Forschungsprojekte investieren.
Wie geht es weiter?
Letztlich ist abzuwägen: die geringe Chance, dass die Aussetzung die Produktion von Impfstoffen kurzfristig mehr beschleunigt, als das durch Zwangslizenzen ohnehin möglich wäre, gegen das Risiko, Investitionsbereitschaft und Innovationsfähigkeit auf lange Sicht zu schwächen. Nur wenn man die geringe Chance der Produktionssteigerung – unter Verweis auf die pandemische Gefahrenlage – extrem hoch gewichtet, fällt die Abwägung für die TRIPS-Aussetzung aus.
Auch dann sollte man sich von der Maßnahme aber nicht zu viel erwarten. Die momentanen Ungleichverteilung entsteht, weil die vorhandenen Produktionsstätten in wenigen Staaten liegen und sich in der Krise jeder selbst am nächsten ist. Die USA, die EU und auch Indien verzögern oder verweigern den Export von Impfstoffen bevor nicht die eigene Bevölkerung immunisiert ist. Um die Produktionskapazitäten langfristig zu erhöhen, bleibt die freiwillige Kooperation zwischen den Pharmaunternehmen mittels Lizenzverträgen die beste Lösung. Nur so lässt sich ein umfassender Technologietransfer sicherstellen, der über die bloße technische Information, die ein Patent enthält, hinausgeht. Die Staatengemeinschaft könnte diesen Prozess durch Investitionen entlang der gesamten Produktionskette sinnvoller unterstützen, als durch eine Aussetzung des Patentschutzes.
Zitiervorschlag: Michael Cremer, Kein Patentrezept in der Pandemie, JuWissBlog Nr. 41/2021 v. 05.05.2021, https://www.juwiss.de/41-2021/.
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