von LENA ZAGST
In den ersten Monaten dieses Jahres waren für einen erheblichen Anteil der geretteten MigrantInnen auf der Migrationsroute im Mittelmeer NGOs verantwortlich. Zunehmend wurden im Jahresverlauf allerdings Vorwürfe von verschiedenen Seiten laut, dass NGOs mit Schleppern kooperierten und Anreize für MigrantInnen setzten. Obwohl derartige Vorwürfe wahrscheinlich nicht haltbar sind, erließ Italien in diesem Kontext im Sommer einen Verhaltenskodex für NGOs in der Seenotrettung, woraufhin einige ihre Aktivitäten (vorerst) einstellten.
NGOs zur Seenotrettung im Mittelmeer wurden im europäischen Raum überwiegend seit Ende 2014 gegründet (z.B. Sea-Watch, Sea-Eye, Jugend Rettet), wobei sich auch etablierte Organisationen wie Médecins Sans Frontières und Save the Children dafür engagieren. Schon 2014 begann die Zahl der Ankünfte in der EU über das Mittelmeer zu steigen, bis auf über eine Million Menschen in den Jahren 2015/2016, außerdem lief die italienische Seenotrettungsmission Mare Nostrum am 31. Oktober 2014 aus. In den Jahren 2014 und 2015 wurden über 3.000 Todesfälle sowie im Jahr 2016 über 5.000 Tote berichtet, die Dunkelziffer wird deutlich höher sein.
Dilemma: keine Aufnahmepflicht der Staaten
Obwohl die NGOs rechtlich nicht zur Unterzeichnung des italienischen Kodexes verpflichtet sind, kann Italien sie politisch in eine Zwangslange bringen. Sie sind auf die Zusammenarbeit und das Wohlwollen der italienischen Behörden angewiesen, denn es gibt grundsätzlich keinen Anspruch darauf, mit den Geretteten in einen Hafen einzulaufen. Eindeutige völkerrechtliche Regeln, was mit geretteten MigrantInnen nach Beseitigung der unmittelbaren Notlage dauerhaft geschehen soll, fehlen. Die seerechtlichen Regelungen haben die Rückkehr der Personen in ihre jeweiligen Heimatländer vor Augen. Das Übereinkommen über den Such- und Rettungsdienst auf See (SAR) – dessen Vertragsstaat Italien ist – beinhaltet lediglich allgemeine Vorschriften, dass Staaten für eine schnelle Ausschiffung an einem sicheren Ort sorgen sollen (Ziffer 3.1.9 Annex), ohne diesen näher zu konkretisieren.
Grundsätzlich gilt zwar das völkergewohnheitsrechtlich anerkannte Refoulement-Verbot, das die Zurückweisung von Flüchtlingen in Länder, in denen ihnen Verfolgung bzw. Folter, unmenschliche oder erniedrigende Strafe oder Behandlung drohen würde, verbietet (für Flüchtlinge Art. 33 GFK, unabhängig vom Flüchtlingsstatus z.B. Art. 3 EMRK und Art. 7 des Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte). Es ist ziemlich eindeutig, dass danach Zurückweisungen nach Libyen unzulässig sind: Nach Berichten von Organisationen wie UNHCR und Ärzte ohne Grenzen werden MigrantInnen willkürlich verhaftet, in Lagern gefangen gehalten und müssen unter extrem schlechten hygienischen Bedingungen ausharren. Die Vereinten Nationen untersuchen zudem Berichte über Sklavenhandel, der westafrikanische MigrantInnen betreffen soll. Schließlich ist Libyen auch keine Vertragspartei der GFK und völkerrechtlich nicht zu besonderem Schutz gegenüber Flüchtlingen verpflichtet.
Ein Staat ist jedoch nur gegenüber den Personen, die seiner Hoheitsgewalt unterstehen, an das Zurückweisungsverbot gebunden. Nach Art. 92 Seerechtsübereinkommen (SRÜ) untersteht zwar ein Schiff der Hoheitsgewalt des Staates, dessen Flagge es führt. Angesichts dessen hat der EGMR in der Rechtssache Hirsi et.a. gg. Italien entschieden, dass das Refoulement-Verbot jedenfalls dann Anwendung findet, wenn Gerettete unter „Kontrolle der Behörden“ stehen, z.B. an Bord eines Kriegsschiffes. Auf einem privaten Schiff mit privater Crew dürfte der Fall aber anders gelagert sein, weil die staatlichen Behörden hierüber keine unmittelbare Kontrolle ausüben. Insoweit dürfte die Crew nur an das jeweilige nationale Recht des Flaggenstaates gebunden sein. In einer solchen Situation würde nach überwiegender, nicht unumstrittener Ansicht kein unmittelbares Recht auf Einreise in den jeweiligen Flaggenstaat entstehen, sondern zunächst nur die Verpflichtung zur Prüfung bestehen, ob im Herkunftsstaat die o.g. Gefahren drohen. Da es dann aber ineffektiv wäre, Gerettete in den jeweiligen Flaggenstaat, z.B. nach Deutschland, zurückbringen, hängt es insbesondere dann, wenn sich die Geretteten an Bord eines privaten Schiffes unter fremder Flagge befinden, praktisch von dem jeweiligen Küstenstaat ab, ob er die Einfahrt von aus Seenot geretteten Personen zulässt oder nicht, solange sich diese nicht in unmittelbarer Gefahr befinden (Art. 18 SRÜ).
Unklar ist darüber hinaus, welche Folgen ein Verstoß gegen den Kodex für die NGOs, die ihn unterzeichnet haben, nach sich ziehen könnte. Zwar sieht sein Text Sanktionen vor, die Rechtsnatur ist jedoch ungeklärt. Die Bezeichnung „Code of Conduct“ spricht eher für eine unverbindliche Richtlinie, die zumindest nach deutschem Verständnis keine Rechtsgrundlage für staatliche Anordnungen oder Verbote darstellen würde. Ob Italien einem NGO-Schiff mit Geretteten tatsächlich die Einfahrt wegen der fehlenden Unterschrift unter den Verhaltenskodex verweigern würde, ist offen.
Verhaltenskodex erschwert Rettungseinsätze durch NGOs
Während einige der Regeln des Verhaltenskodex nicht besonders kontrovers sein dürften – wie die Zusammenarbeit mit dem italienischen Maritime Rescue Coordination Centre, welches aus Rom alle Rettungseinsätze koordiniert – können andere zu einem Konflikt mit Verhaltensgeboten für NGO-Schiffe führen:
Zum einen gilt auf Hoher See die Freiheit der Schifffahrt (Art. 87 SRÜ). Gleichzeitig gilt die Pflicht zur Hilfeleistung gegenüber in Seenot geratenen Schiffen (Art. 98 SRÜ). Diese Regelungen werden durch das SAR ergänzt, dessen Regelungen auf eine effiziente Kooperation zwischen den Vertragsstaaten zu Rettungszwecken abzielen. Gerettete Personen sind danach an einen „sicheren Ort“ zu bringen, was nicht unbedingt Festland sein muss, sondern auch ein entsprechend ausgestattetes Schiff sein kann. In Übereinstimmung damit führen bisher viele kleinere Schiffe nur Notsicherungsmaßnahmen aus und warten auf größere Schiffe, welche die Geretteten dann an Land bringen.
Allerdings untersagt der unterbreitete Verhaltenskodex diese Arbeitsaufteilung für den Normalfall, und verlangt, dass NGO-Schiffe, die Gerettete aufnehmen, den Rettungseinsatz durch Ausschiffung beenden sollen (Punkt 6), die Geretteten also selbst an Land bringen sollen. Welchen Vorteil dies bei der Bekämpfung des Menschenhandels mit sich bringen soll, ist unklar. Selbst wenn sich unter den Geretteten ein Schmuggler befände, ist nicht ersichtlich, wie das Verbot der Arbeitsteilung z.B. dessen Identifikation und strafrechtliche Verfolgung erleichtern könnte. Stattdessen würde die Regelung die Effizienz der bisherigen Arbeitsweise untergraben: Die kleineren Schiffe besitzen nicht die Kapazitäten, alle Personen auf einem schiffbrüchigen Boot, was manchmal mehrere hundert Personen umfasst, aufzunehmen. Außerdem stehen Schiffe in der Zeit der ungefähr eintägigen Fahrt an die europäischen Küsten für weitere Rettungseinsätze nicht zur Verfügung, was bei kleineren Schiffen ineffizient ist. Dies steht im Widerspruch zu den o.g. Zielen des SAR.
Ganz grundsätzlich ist in diesem Zusammenhang die Regelungskompetenz Italiens fraglich. Der Verhaltenskodex soll nicht nur für Schiffe gelten, die unter italienischer Flagge fahren. Der geregelte Sachverhalt – der Rettungsvorgang – spielt sich regelmäßig auf Hoher See ab, die kein Staat seiner Souveränität unterstellen darf (Art. 89 SRÜ). Andererseits unterliegt die Frage, welche Schiffe in italienische Häfen einfahren dürfen, sehr wohl der italienischen Jurisdiktion.
Weiterhin ist Punkt 9 des Verhaltenskodexes, der vorsieht, dass NGO-Schiffe Polizisten an Bord nehmen müssen, die dort Beweise und Informationen im Rahmen von Ermittlungen gegen Menschenhandel durchführen sollen, aus rechtsstaatlicher Sicht bedenklich. Derartige Ermittlungsmaßnahmen sollten sich nach förmlichen Rechtsgrundlagen und den dort festgelegten Voraussetzungen richten. Für die Crew eines solchen Schiffes dürfte auch nicht ersichtlich sein, ob sie selbst unter Verdacht geraten sind oder dies aufgrund der Maßnahmen an Bord der Fall sein könnte.
Fazit
Die Kritik an dem Verhaltenskodex hat dazu geführt, dass jedenfalls zwei NGOs in Verhandlungen mit den italienischen Behörden getreten sind. Diese konnten für ihre Organisationen jeweils „Addendums“ erreichen, welche einige der hier aufgeführten Kritikpunkte widerspiegeln und insbesondere klarstellen, dass die bestehende Praxis der Übergabe von Geretteten an größere Schiffe weiterhin fortgeführt werden darf. Dadurch existieren nun aber unterschiedliche Verhaltenskodizes für unterschiedliche Organisationen, da einige schon den ursprünglichen Entwurf unterzeichnet hatten. Es bleibt abzuwarten, welche Bedeutung die enthaltenen Regelungen in den nächsten Monaten für die Rettungspraxis haben und wie die italienischen Behörden bei möglichen Verstößen vorgehen werden.
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Veröffentlicht unter CC BY NC ND 4.0.