Der Ausschluss Russlands vom UN-Sicherheitsrat? – Zur ukrainischen Forderung

von TJORBEN STUDT

„There is nothing in the Charter of the United Nations about continuity as a sneaky way to get into the organization. […] Pass these responsibilities on to a legitimate member of Security Council. A member that is respectful of the Charter“. Bereits in den ersten Minuten des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine zweifelte der ukrainische UN-Botschafter mit diesen Worten die Legitimität Russlands als UN-Mitglied und insbesondere als ständiges Mitglied des UN-Sicherheitsrates an.     
Doch sind diese Zweifel auch berechtigt?

Funktion des UN-Sicherheitsrats v. Vetomacht Russlands

Dies ist deshalb für die Ukraine von maßgeblicher Bedeutung, weil der UN-Sicherheitsrat als Hauptaufgabe die Wahrung und Sicherung des Weltfriedens wahrnehmen soll. Diese Funktion wird allerdings dann maßgeblich beeinträchtigt, wenn – wie im „Fall Russland“ – eine der Kriegsparteien ständiges Mitglied des UN-Sicherheitsrates ist, welches jede nicht verfahrensbezogene Entscheidung mit seinem Vetorecht blockieren kann.

Wege, Russlands Vetorecht zu schwächen

Damit ist die Frage, ob Russland daran gehindert werden kann, sein Veto-Recht auszuüben, von entscheidender Bedeutung für die Ukraine. Im Hinblick auf die in der UN-Charta vorgesehenen Mechanismen ist die Frage schnell zu verneinen. Sowohl eine Änderung der UN-Charta (Art. 108, 109 UN-Charta) als auch Maßnahmen gemäß Art. 5, 6 UN-Charta sind aufgrund der hohen Voraussetzungen unwahrscheinlich. Dagegen könnte aber ein anderer Weg erfolgsversprechender sein, welcher die verfahrensrechtlichen Gegebenheiten der UN aufgreift: Die ständigen Mitglieder des UN-Sicherheitsrates können zwar jegliche Entscheidungen und Beschlüsse mit ihrem Veto verhindern. Verfahrensrechtliche Fragen können jedoch nicht blockiert werden. Wie hilft das nun aber der Ukraine in Bezug auf das russische Vetorecht weiter?

Ein Blick in die Vergangenheit der UN – der „Fall Südafrika“

Auf den ersten Blick lässt die UN-Verfahrensordnung keine Beschränkung der Vetoausübung zu. Der zweite Blick lenkt den Fokus allerdings auf die Historie der UN, wonach Russland durch eine erzwungene Abwesenheit möglicherweise an der Ausübung seines Vetorechts gehindert werden könnte. Im Jahr 1974 verweigerte der Beglaubigungsausschuss und daraufhin auch die UN-Generalversammlung die Legitimation der südafrikanischen UN-Botschafter gemäß der Rule 27 der Verfahrensordnung der UN anzuerkennen. Dadurch war den Vertretern Südafrikas die Teilnahme an der Sitzung der Generalversammlung verwehrt. Ausgangspunkt für das damalige Vorgehen war die Apartheid in Südafrika, welche von den UN als Verletzung der in der Charta niedergelegten Grundsätze und der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte angesehen wurde. Zudem wurde durch die Apartheid der größte Teil der Bevölkerung von Wahlen abgehalten. Es wurde daher angenommen, dass die von der südafrikanischen Regierung gesandten Vertreter nicht legitimiert waren, das ganze südafrikanische Volk bei den UN zu vertreten.         

Übertragbarkeit?

Das Vorgehen im Falle Südafrikas ist zwar nicht mit der heutigen Situation in Russland vergleichbar. Der „Präzedenzfall Südafrika“ belegt jedoch, dass die UN-Generalversammlung durchaus in der Lage ist, ohne Beteiligung des UN-Sicherheitsrates Anliegen durchzusetzen, die die Verletzung der in der UN-Charta niedergelegten Grundsätze ahnden. Das Handeln Russlands stellt zwar einen anderen Verstoß gegen Prinzipien der UN und des Völkerrechts dar. Dies allerdings in einem Ausmaß, dass der UN-Generalversammlung ein Einschreiten angemessen erscheinen könnte. Denn durch den begonnenen Krieg besteht nicht nur eine abstrakte Gefahr für den Weltfrieden (s. Südafrika). Diese hat sich durch den Krieg vielmehr bereits realisiert. Allerdings ist nicht eindeutig zu klären, ob eine erzwungene Abwesenheit der Vertreter Russlands im UN-Sicherheitsrat auch als Nichteinlegung des Vetos gewertet werden kann. Anhaltspunkte, die für eine solche Wertung sprechen könnte, liefert zwar das Vorgehen im Rahmen des Koreakrieges 1950 und im Vorfeld des Zustandekommens der „Uniting-for-peace-resolution“ vom Oktober 1950. Diese Vorgehensweise wurde allerdings bisher nur einmal gewählt und kann damit nicht als ständige Übung des UN-Sicherheitsrates angesehen werden. Dabei darf ebenso nicht übersehen werden, dass Südafrika kein ständiges Mitglied des UN-Sicherheitsrates war. Daher kann durchaus bezweifelt werden, dass ein solches Vorgehen bei einem solchen ebenso erfolgen würde. Ansonsten könnte die Generalversammlung die Zusammensetzung und Arbeit des UN-Sicherheitsrates bestimmen.

Eine neue Aufgabe der UN-Generalsversammlung?

Es ist jedoch abschließend ebenfalls zu konstatieren, dass der UN-Sicherheitsrat durch das Veto Russlands seine friedenswahrende Funktion nicht ausüben kann. Auch in der Zukunft wird der UN-Sicherheitsrat diese Aufgabe voraussichtlich nur sehr eingeschränkt wahrnehmen können, wenn ein ständiges Mitglied ein nicht ständiges Mitglied militärisch angreift. Es bleibt daher abzuwarten, inwiefern sich nun die Generalversammlung, angesichts der Paralyse des UN-Sicherheitsrates, dazu berufen fühlt, die friedenswahrende Funktion auszuüben.

Hat Russland überhaupt ein Vetorecht?

Neben der Frage der Repräsentation Russlands bei den UN, wird nun durch die ukrainische Forderung aber noch ein weiterer Weg fokussiert: Die Frage, ob Russland berechtigt „ständiges Mitglied“ des UN-Sicherheitsrates ist. Wäre diese Frage zu verneinen, hätte Russland auch kein Vetorecht, sodass Entscheidungen im UN-Sicherheitsrat nicht blockiert werden könnten. Art. 23 I UN-Charta sieht dem Wortlaut nach nur die UdSSR als ständiges Mitglied vor – nicht Russland. Allerdings existiert die UdSSR in ihrer damaligen Form nicht mehr. Die Ukraine argumentiert nun, dass Russland nicht der rechtmäßige Nachfolger der UdSSR im UN-Sicherheitsrat ist und daher auch – was zutrifft – keinen demzufolge notwendigen Beitrittsnachweis vorlegen kann. Dabei wird diese Ansicht im Wesentlichen auf das Belowscher-Abkommen und der anschließenden Alma-Ata-Deklaration von 1991 gestützt. Darin wurde festgeschrieben, dass „die Sowjetunion als Subjekt internationalen Rechts und geopolitischer Realität […] aufgehört [hat] zu existieren.“

Nachfolgefrage zur UdSSR in der Praxis geklärt

Dieser Ansicht steht jedoch der Umstand entgegen, dass Russland faktisch die Rechte und Pflichten der UdSSR übernahm – auch die Mitgliedschaft in den UN sowie dem UN-Sicherheitsrat. Im Zusammenhang mit dem Alma Ata-Abkommen war zudem beschlossen worden, dass die Staaten der GUS Russland darin unterstützen, die ständige Mitgliedschaft im Sicherheitsrat fortzusetzen. In dieser Formulierung wird ebenfalls das Selbstverständnis Russlands als legitimer „Fortsetzerstaat“ der UdSSR deutlich. Russland geht der UdSSR allerdings existenziell voraus. Aus Sicht der Staatenlehre reicht die russische Geschichte weit bis vor Entstehung der UdSSR in die Zeit des Zaren- und Kaiserreiches zurück. Die nach der Oktoberrevolution 1917 gegründete RSFSR gehörte zu den Gründungsmitgliedern der UdSSR. Russland existierte damit schon vor der Gründung der UdSSR als eigenständiger Staat und war nie mit dieser identisch, sodass eine „Fortsetzung“ staatsrechtlich nicht ohne weiteres möglich wäre. Vielmehr wäre Russland wieder in den „präsowjetischen Zustand zurückgefallen“. Ungeachtet dieser staatsrechtlichen Einordnung des Zerfalls der UdSSR, sprechen die letzten 30 Jahre in denen Russland den Sitz im UN-Sicherheitsrat ohne ernsthaften Protest eingenommen hat, allerdings für die rechtliche Verfestigung dieses Vorgangs im Sinne des Völkergewohnheitsrechts. Die fehlende Beanstandung des Vorgehens sowie die einheitliche Staatenpraxis auf Grund einer einheitlichen Rechtsüberzeugung im Sinne des Art. 38 I lit. b) IGH-Statut zeugen von der konkludenten Anerkennung in Form des Völkergewohnheitsrecht – beziehungsweise entsprechen innerhalb der UN einer einheitlichen Übung der Mitglieder nach Art. 31 III lit. b) WVK. Aufgrund der daraus erwachsenden rechtlichen Verbindlichkeit, wird es für die Ukraine sehr unwahrscheinlich die vorgebrachten Legitimitätszweifel auch völkerrechtlich zu manifestieren.

Ausblick

Es erscheint damit schlussendlich unrealistisch, dass Russland in der Ausübung seines Vetorechts eingeschränkt werden kann. Das heißt im Ergebnis jedoch nicht, dass durch die ukrainische Forderung keine Zweifel gesät worden sind, die die Stellung Russlands in den UN nachhaltig schwächen könnten.

Abzuwarten bleibt zudem, ob und wie die UN in der Zukunft auf ähnliche Geschehen reagieren wird – insbesondere wenn sich die Verdachtsmomente auf schwerwiegende Kriegsverbrechen durch Russland in der Ukraine verdichten sollten.

 

Zitiervorschlag: Tjorben Studt, Der Ausschluss Russlands vom UN-Sicherheitsrat? – Zur ukrainischen Forderung, JuWissBlog Nr. 21/2022 v. 12.4.2022, https://www.juwiss.de/21-2022/

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1 Kommentar. Hinterlasse eine Antwort

  • Sehr saubere aber trotzdem unzufriedenstellende Aussicht. Da drängt sich besser eine UN 2.0 auf, und wer wie RU und CH will, der bleibt in der 1.0.

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