Während einer Fachtagung der Deutschen Gesellschaft für die Vereinten Nationen vor einigen Wochen, von der ich mit Kollegen hier berichtet habe, startete VN-Sonderberichterstatter Heiner Bielefeldt sein Impulsreferat zum menschenrechtlichen Panel mit einem Zitat Michael Ignatieffs: „Human rights…ha[ve] become the lingua franca of global moral thought.“ Bielefeldt ging gleich einen Schritt weiter: Menschenrechte sollten mehr sein als nur eine lingua franca of global moral thought, man dürfe Menschenrechte nicht auf ihre Semantik reduzieren. Denn nutze man nur Worte, statt tatsächlich tätig zu werden, dann stehe die Menschenrechtssemantik sogar einer Durchsetzung menschenrechtlicher Standards entgegen. Diese Haltung, so meine ich, unterschätzt das, was Bielefeldt etwas abschätzig „Menschenrechtssemantik“ nennt. Vor allem wird unterschätzt, welches Eigenleben ein Begriff entwickeln kann, wenn man ihn nur lässt.
Von traditionellen Werten und Russlands Resolution
Der VN-Sonderberichterstatter für Religions- und Weltanschauungsfreiheit wandte sich in seinem Vortrag vor allem gegen einen rein semantischen Gebrauch menschenrechtlichen Vokabulars ohne tatsächlichen normativen Wert. Dabei arbeitete er mit einem konkreten Beispiel: der Resolution 21/3 des Menschenrechtsrates zu traditionellen Werten, die Russland eingebracht hatte. Mit der Resolution, so Bielefeldt, gehe es Russland nicht darum, Menschenrechte zu schützen, sondern nur darum, menschenrechtliches Vokabular einzusetzen, um damit Menschenrechtsverletzungen unter dem Deckmantel „traditioneller Werte“ zu verbergen oder gar zu rechtfertigen. Dies nehme der Resolution ihren normativen Wert. Mit dieser Haltung reiht sich Bielefeldt ein in die kritischen Stimmen, die die Resolution im letzten Jahr begleitet haben (zum Beispiel hier, hier, hier und hier). „Und zu Recht!“ möchte man rufen, angesichts des Prozesses gegen Pussy Riot, angesichts der Ausschreitungen gegen Homosexuelle in Russland, gegen die die Regierung nichts unternimmt, sondern die sie durch entsprechende Rechtsanwendung sogar indirekt befördert, und die von radikalen Gruppierungen gerade auch mit traditionellen Werten gerechtfertigt werden.
Ob laut geäußerte Zweifel an der Redlichkeit Russlands und die Diskreditierung eines Texts den Menschenrechten zuträglich sind, scheint mir allerdings fragwürdig. Kann die Autorenschaft einer Resolution maßgeblich sein für deren Annahme oder Ablehnung in der menschenrechtlichen Debatte? Nach jahrelanger Kritik an den Menschenrechten als neo-imperialistisches Konstrukt des Westens, der anderen Kulturen seine Werte aufzwingen wolle (eine knappe Zusammenfassung dieser Argumente mit klarem Gegenplädoyer findet sich hier) wurde hier immerhin eine Resolution vom Menschenrechtsrat als Organ verabschiedet: zwar deutlich kontroverser als manch andere Resolution (25 Ja-Stimmen standen 15 Nein-Stimmen gegenüber, 7 Staaten enthielten sich), aber doch mit einer deutlichen Mehrheit.
Zur Vermeidung von Missverständnissen: Ich teile die Kritik an den Menschenrechtsverletzungen, die gerade in Russland durchaus an der Tagesordnung sind und zuletzt eindrucksvoll ihren Ausdruck in gewalttätigen Ausschreitungen gegen Homosexuelle fanden. Hier soll es aber nicht um die Verletzung menschenrechtlicher Standards gehen, sondern um die Frage: Ist der von Russland eingebrachte Text, weil er von Russland eingebracht wurde, menschenrechtsverachtend und die Resolution als solche deswegen der menschenrechtlichen Sache abträglich? Denn die Resolution selbst lässt erst einmal keinen Rückschluss darauf zu, dass menschenrechtliche Standards unterwandert werden sollen. Sie betont im Gegenteil die Unteilbarkeit der Menschenrechte und die Ideale der Weltmenschenrechtskonferenz in Wien 1993 und sagt explizit: „[T]raditions shall not be invoked to justify practices contrary to human dignity and violating international human rights law.“ (Präambel)
Von Begriffen und ihrem Eigenleben
Kritische Stimmen zeigen vor allem auf den Begriff „traditional values“. Dieser sei unbestimmt und vage und deswegen der Manipulation besonders leicht zugänglich. Tatsächlich hat der beratende Ausschuss des Menschenrechtsrats, der durch eine frühere Resolution mit dem Ziel eingesetzt wurde, mögliche Beiträge traditioneller Werte zu einer Umsetzung der Menschenrechte zu ermitteln, keine Definition geliefert. In seinem Abschlussbericht weist der Ausschuss lediglich darauf hin, dass weder der Menschenrechtsrat noch der Ausschuss selbst eine gemeinsame Definition hätten erarbeiten können (Ziff. 7). Allerdings ist ein unbestimmter Rechtsbegriff für sich genommen doch noch kein Problem. Mag Russland den Begriff „traditional values“ mit einer bestimmten Vorstellung eingebracht haben: Wenn der Begriff einmal in die Debatte eingeführt wurde, dann verliert ein einzelnes Land die Deutungshoheit. Dann ist es an den bereits bestehenden oder neu etablierten Institutionen (wie dem beratenden Ausschuss), mit dem Begriff weiter zu arbeiten, ihn auszulegen und mit Inhalt zu füllen. Damit hat der beratende Ausschuss zumindest begonnen. Er führt die drei Konzepte Würde, Freiheit und Verantwortung, die bereits in der früheren Resolution des Menschenrechtsrates als Grundpfeiler traditioneller Werte genannt worden waren, weiter. Dabei wird vor allem das Konzept der Würde eng mit Gleichheit verbunden: Würde kann nach Ansicht des Ausschusses nur als gleiche Würde gesichert werden (Ziff. 15, 17, 18). Es werden außerdem Beispiele für positive Traditionen und Werte benannt, ebenso wie Fälle, in denen die Menschenrechte unter Berufung auf traditionelle Werte verletzt wurden (Teil III). Der Bericht schließt mit einer Reihe von Beobachtungen und endet mit der Empfehlung, verstärkt den Dialog zwischen verschiedenen Akteuren zu positiven wie auch negativen Traditionen und deren Widerspruch oder Unterstützung menschenrechtlicher Standards zu suchen (Ziff. 80). Einen ersten Schritt in diese Richtung unternahm just die gescholtene Resolution 21/3, die das Büro der Hochkommissarin für Menschenrechte dazu aufforderte, Stimmen von Mitgliedsstaaten und anderer Stakeholder zur Anwendbarkeit traditioneller Werte bei gleichzeitigem Schutz der Menschenrechte einzuholen (Ziff. 6). Die Zusammenfassung, in der auch eine Reihe kritischer Stimmen prominent zu Wort kommen, wird Grundlage für weitere Diskussionen im Rahmen der 24. Regulären Sitzung des Menschenrechtsrats sein. Der Begriff der traditionellen Werte hat ein Eigenleben erfahren.
Diskussion statt Konfrontation?
Damit wird dem Vorwurf der Menschenrechtssemantik jedenfalls in Bezug auf diese konkrete Resolution des Menschenrechtsrates die Brisanz genommen. Autorenschaft hin, ursprüngliche Intentionen her: Klar ist, dass die Resolution und die aufgrund der Resolution stattfindenden Dialoge vor allem für eine offene Diskussion über den Begriff der „traditionellen Werte“ gesorgt haben. Deswegen sollte man die Resolution, so meine ich, nicht einfach als Menschenrechtssemantik abtun. Sondern es ist eine Errungenschaft des internationalen Menschenrechtssystems, dass Russland überhaupt dazu gezwungen wird, sein Verhalten in menschenrechtlichen Kategorien zu denken und zu beschreiben. Gleichzeitig verlangt der Gebrauch einer bestimmten Sprache, dass eine Forderung erst einmal als legitim angesehen wird. Deswegen sollte man die Resolutionen als Chance begreifen und um die Deutungshoheit über den Begriff „traditionelle Werte“ ringen, den Begriff in einen menschenrechtlichen Kontext einfügen. Harmonisierung durch Auslegung und Weiterentwicklung statt voreiligem Ausschluss und Diskreditierung bestimmter Begriffe oder bestimmter Texte aufgrund äußerer Faktoren. Oder, pragmatischer, in den Worten des beratenden Ausschusses: „If the ultimate aim of human rights diplomacy is to persuade others of the value of human rights, then this is an argument more likely to be won if it builds on, rather than challenges, local cultural traditions.“ (Ziff. 45)
Eine frühere Version dieses Beitrags erschien als Editorial im AjV-Newsletter 10/13.
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Ihr hier veröffentlichtes „Ringen um Worte“, Hannah Birkenkötter, verdient öffentliche Anerkennung. Es ist ein Ringen mit dem herrschenden Verständnis, welches Worte wie „Menschenrechte“, „Würde“, „Freiheit“, „Werte“ als Begriffe verwendet, die aber nur scheinbar Begriffe sind.
Die „menschenrechtliche Debatte“ offenbart ein unterschiedliches beliebiges Verstehen dieser Worte. Daran ist nichts auszusetzen. Dass sie aber als Begriffe bezeichnet werden, schon. Denn das Wort „Begriff“ ist kein Synonym von „Wort“.
Sie werden aber nicht nur als Begriffe bezeichnet, sondern damit als Norm, als Regel, als „normativer Wert“ verstanden und in diesem herrschenden Verständnis verwendet. Jeder wisse doch, was mit diesen zu verstehen sei. Und bestimmte Abweichungen im Verstehen könnten mit „Harmonisierung durch Auslegung und Weiterentwicklung“ (was immer das sein mag) überwunden werden.
Ihr „Ringen um Worte“, Hannah Birkenköter, muss deshalb mit der Verwendung des Wortes „Begriff“ beginnen, mit welchem Begreifen eines Wortes es zum Begriff wird, es mit ihm kein beliebiges Ver-stehen zum Ausdruck kommen kann.
Allein aus der Gegenüberstellung der Worte „Menschenrechte“ und „Menschenpflichte“ wird die Not-wendigkeit dieses „Ringens“ deutlich. Denn die Hoffnung vieler Menschen, mit der Durchsetzung von „Menschenrechten“ ein besseres Leben zu erhalten, darf nicht sterben.
Setzen Sie dafür Ihr „Ringen“ fort!