Klimagerechtigkeit – Ein Fall für den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte?

#workshopwednesday – Ein Beitrag aus unserem „JuBlog! Workshop zum Bloggen im Öffentlichen Recht

von NORA HERTZ

Der Klimawandel ist ein globales Problem. Dennoch lehnte das BVerfG in seinem Klima-Beschluss die Grundrechtsverletzung der Kläger*innen aus Nepal und Bangladesch durch die deutsche Klimapolitik ab. Auch die historische Urgenda Entscheidung des höchsten niederländischen Zivilgerichts lieferte in der Frage der staatlichen Schutzpflichten gegenüber Personen außerhalb des Staatsgebiets keine Klarheit. Dieser Beitrag beleuchtet, inwiefern das anhängige Verfahren der sechs portugiesischen Kinder und Jugendlichen vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in dieser Hinsicht neue Standards setzen und dazu beitragen könnte, Klimagerechtigkeit nicht nur intergenerationell sondern auch international zu verstehen.

Seit dem Klima-Beschluss des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) richtet sich alle Aufmerksamkeit nach Karlsruhe (z.B. hier und hier). Der Klima-Beschluss ist zweifelsohne historisch und mag ausgeglichen sein, dennoch hat der Beschluss es ausländischen Kläger*innen fast unmöglich gemacht, erfolgreich gegen die Klimapolitik der Bundesrepublik zu klagen (siehe dazu hier, hier, hier).

Klimagerechtigkeit nicht im Blick?

Dieses Ergebnis wirft Fragen der Klimagerechtigkeit auf. Die Folgen des Klimawandels, zu dem vor allem der globale Norden beigetragen hat, wirken sich bereits jetzt deutlich mehr im globalen Süden aus (dazu z.B. hier). Klimagerechtigkeit hat also nicht nur eine intergenerationelle, sondern auch eine internationale Dimension.

Der Klima-Beschluss wird vor allem der intergenerationellen Dimension gerecht, denn die Grundrechtsverletzung der deutschen Kläger*innen wird mit der „eingriffsähnlichen Vorwirkung“ begründet, also der Einschränkung von Freiheitsrechten zukünftiger Generationen in Deutschland (Rn. 132). Für die Erfüllung von Schutzpflichten gegenüber Personen außerhalb des deutschen Staatsgebietes dagegen werden minimale Anforderungen gestellt (Rn. 180). Das Kriterium, wonach die Schutzvorkehrungen nicht erheblich hinter dem Schutzziel zurückbleiben dürfen, sei, anders als bei inländischen Sachverhalten, nicht anwendbar (Rn. 181). Das BVerfG begründet dies damit, dass zur Bekämpfung des Klimawandels nicht nur Emissionsreduktionen, sondern auch Anpassungsmaßnahmen gehören, die der deutsche Staat andernorts nicht vornehmen könne, weshalb nicht bewertet werden könne, ob die Schutzvorkehrungen erheblich hinter dem Schutzziel zurückbleiben (s.a. hier).

Hier unterscheidet sich der Beschluss von der Urgenda Entscheidung. Das niederländische Gericht hat zwar die Verletzung von Schutzpflichten gegenüber Menschen außerhalb der Niederlande nicht thematisiert (Rn. 5.9.2.), jedoch grundsätzlich höhere Anforderung an die Erfüllung der Schutzpflichten gestellt (s.a. hier). Es hat insbesondere auf die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) verwiesen, die effektive Schutzmaßnahmen verlangt (Rn. 5.4.1.). Das Gericht hat daraus geschlossen, dass Anpassungsmaßnahmen nicht ausreichend seien, sondern die vereinbarten Emissionsreduktionen eingehalten werden müssen (Rn. 7.5.2.). Da sich Reduktionen, anders als Anpassungsmaßnahmen, global auswirken, kommen diese Schutzmaßnahmen auch Menschen außerhalb der Niederlande zu Gute.

Das BVerfG dagegen betont zwar die internationalen Verpflichtungen Deutschlands zur Unterstützung anderer Länder (Rn. 179; s.a. hier und hier), räumt aber der Politik einen weiten Entscheidungsspielraum ein und lässt, ebenso wie das Urgenda Urteil, die Frage der Verantwortung für Emissionen, die sich außerhalb des Staatsgebietes auswirken, unbeantwortet.

Youth 4 Climate Justice“ – Sechs Kinder und Jugendliche ziehen vor den EGMR

Vor diesem Hintergrund könnte das anhängige Verfahren vor dem EGMR Claudia Duarte Agostinho and Others v. Portugal and 32 Other States einen wichtigen Beitrag zur Klärung der Pflichten europäischer Staaten gegenüber Personen außerhalb des Staatsgebiets leisten.

Die Beschwerde vor dem EGMR wurde von sechs portugiesischen Kindern und Jugendlichen eingereicht und richtet sich gegen 33 europäische Staaten, darunter auch Deutschland. Sie werfen den Staaten vor, keine ausreichenden Maßnahmen zu treffen, um das im Übereinkommen von Paris vereinbarte Ziel von unter 2 Grad zu erreichen und dadurch ihre Rechte aus Art. 2, 8 und 14 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) zu verletzen. Es geht in dem Verfahren wiederum um Generationsgerechtigkeit, aber in einem transnationalen Kontext, da mehrere Staaten zur Verantwortung gezogen werden sollen.

Extraterritoriale Anwendbarkeit von Menschenrechten und Klimawandel

Es stellt sich daher die Frage, inwiefern die Staaten für die Wahrung der Menschenrechte der Beschwerdeführer*innen verantwortlich sind, also inwiefern sich diese unter der Hoheitsgewalt der Staaten i.S.v. Art. 1 EMRK befinden. Grundsätzlich übt der Staat nur auf seinem Territorium Hoheitsgewalt aus, weshalb er grundsätzlich auch nur für die Wahrung von Grundrechten auf seinem Territorium verantwortlich ist (Banković). Der EGMR hat allerdings verschiedene Ausnahmen von diesem Grundsatz anerkannt. Staatliche Akte, die außerhalb des Territoriums Effekte erzeugen, können zu einer Verantwortung des Staates führen, wenn dieser effektive Kontrolle über das Territorium hat oder sich das Individuum unter der physischen Kontrolle von Amtspersonen befindet. Diese beiden Ausnahmen passen jedoch nicht auf den vorliegenden Fall. Der EGMR hat allerdings in Einzelfällen noch weitere Ausnahmen anerkannt. Hinzu kommt, dass der EGMR das Kriterium der Hoheitsgewalt i.S.v. Art. 1 EMRK kontextabhängig beurteilt, also die jeweiligen Umstände des Einzelfalls berücksichtigt. Die CO2 Emissionen jedes Staates wirken sich global aus und tragen kumulativ zum Klimawandel und den daraus entstehenden Schäden bei. Die innerstaatlichen Maßnahmen haben also direkte und vorhersehbare Effekte außerhalb des Territoriums, weshalb die Staaten eine Art Kontrolle über die dortigen Menschen ausüben, die Hoheitsgewalt und damit die Anwendung der EMRK begründen könnte. Dafür spricht auch, dass sich eine Person in einer Klage gegen den Staat, auf dessen Territorium sie sich befindet, gar nicht gegen alle Emissionen wehren könnte, die sie betreffen (s.a. hier).

Es ist demnach nicht ausgeschlossen, dass der EGMR seine Rechtsprechung zu dieser Frage fortentwickelt, zumal es mehrere internationale Vorstöße in diese Richtung gibt. Der Interamerikanische Gerichtshof für Menschenrechte hat bspw. in einer Stellungnahme klargestellt, dass die Amerikanische Menschenrechtskonvention in Fällen von grenzüberschreitenden Umweltschäden auch extraterritorial Anwendung findet. Zudem plädieren fünf UN-Vertragsorgane in einer gemeinsamen Erklärung zu Klimawandel und Menschenrechten für die extraterritoriale Anwendbarkeit und vor dem UN-Ausschuss für die Rechte des Kindes ist derzeit ein Verfahren anhängig, das sich ebenfalls mit dieser Frage auseinandersetzt.

Alles eine Frage des Willens

Sollte der EGMR die extraterritoriale Anwendbarkeit der EMRK bejahen, müsste er sich mit der Frage befassen, ob die Schutzpflichten verletzt worden sind. Die Beschwerdeführer*innen stützen ihre Argumentation auf die Daten des Climate Action Trackers, der die Maßnahmen eines Staates zur Bekämpfung des Klimawandels bewertet. Die Methode besteht darin, zu simulieren, ob das unter 2 Grad Ziel erreicht werden würde, wenn alle Staaten gleich ambitionierte Maßnahmen wie der bewertete Staat treffen würden. Ist dies der Fall, werden die Maßnahmen als „zufriedenstellend“ bewertet. Es wird also evaluiert, ob jeder Staat das tut, was in seiner Macht steht und wirklich seinen gerechten Anteil („fair share“) an der Bekämpfung des Klimawandels übernimmt (s.a. hier, hier). Wenn dem nicht so ist (wie bei den 33 Beschwerdegegnern), würden diese ihre Schutzpflichten verletzen. Das ist eine deutlich höhere Anforderung an die Erfüllung der Schutzpflichten, als die des BVerfG. Sie könnte jedoch Unterstützung in der Rechtsprechung des EGMR finden, die einen effektiven Schutz verlangt.

Ausblick

Das Verfahren vor dem EGMR bietet eine Gelegenheit, Staaten mehr in die Pflicht zu nehmen, um globale Menschenrechtsverletzungen, die durch den Klimawandel drohen, vorzubeugen und damit der internationalen Dimension von Klimagerechtigkeit gerecht zu werden.

Der EGMR hat den Antrag zugelassen und ihm Priorität eingeräumt, weshalb wahrscheinlich bereits dieses Jahr darüber entschieden wird. Aufgrund der bisherigen Rechtsprechung des EGMR, der Tendenzen zu mehr Klimaschutz sowohl vor nationalen Gerichten, als auch auf internationaler Ebene sowie der Dringlichkeit des Problems, scheint es nicht ausgeschlossen, dass der EGMR den Schritt wagen und positiv über die Sache entscheiden wird.

Der EGMR könnte dadurch dort höhere Standards setzen und Klarheit schaffen, wo die Urgenda-Entscheidung und der Klima-Beschluss, so begrüßenswert die Entscheidungen sind, zu kurz gekommen sind und der globalen Dimension des Klimawandels Nachdruck verleihen.

Zitiervorschlag: Nora Hertz, Klimagerechtigkeit – Ein Fall für den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte? , JuWissBlog Nr. 60/2021 v. 9.6.2021, https://www.juwiss.de/60-2021/.

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