#workshopwednesday – Ein Beitrag aus unserem „JuBlog! Workshop zum Bloggen im Öffentlichen Recht“
von LUKAS MÄRTIN
Im Zuge der Covid-19-Pandemie haben fast alle europäischen Staaten erhebliche Ausgaben getätigt, um die Folgen der Pandemiemaßnahmen auszugleichen. Da diese meist mit starker Neuverschuldung einhergingen, wurden die beschlossenen Ausgaben (europa-)rechtlich jedoch nur durch die Aussetzung der derzeitigen europäischen Fiskalregeln zulässig. Die erheblichen wirtschaftlichen und sozialen Konsequenzen der Pandemie haben gezeigt, wie wichtig staatliche Handlungsfähigkeit in Krisen ist. Weitere Herausforderungen wie die Klimakrise, die zunehmende soziale Ungleichheit oder die Digitalisierung machen es notwendig, die derzeit geltenden Fiskalregeln grundlegend zu reformieren.
Die anstehende Reform der Fiskalregeln sollte die Fiskalpolitik in Europa re-politisieren und demokratisieren, um staatliche Handlungsfähigkeit zu fördern, anstatt diese wie bisher zur Aussetzung der Fiskalregeln zu zwingen.
Die Geburtsstunde der 60%: „Etwas Handfestes“ statt wissenschaftlicher Begründungen
Um zu verstehen, inwiefern die derzeitige europäische Fiskalarchitektur eine Ent-Politisierung der Fiskalpolitik bewirkt, ist es hilfreich, sich ihre Geburtsstunde vor Augen zu führen. 1992 beschlossen die Mitgliedstaaten der EU die sogenannten „Maastricht-Kriterien“. Danach darf die Staatsschuldenquote eines Mitgliedstaats höchstens 60% des BIP und das jährliche Haushaltsdefizit höchstens 3% des BIP betragen. Diese Werte wurden 1997 im Stabilitäts- und Wachstumspakt verankert, der Teil des europäischen Primärrechts ist. Die Kriterien waren geleitet von dem Ziel, Staatsverschuldung zu vermeiden, die als ausschließlich gefährlich für demokratische Selbstgestaltungsfähigkeit und abträglich für die wirtschaftliche Entwicklung verkannt wurde.
Weiterhin sollen die Mitgliedstaaten durch die Regeln eine höhere wirtschaftliche Konvergenz erreichen. Wirtschaftswissenschaftlich gibt es für die 60%-Grenze jedoch keinen Grund. Weder lässt sich sagen, dass eine Staatsverschuldung über 60% des BIP per se schädlich ist, noch lässt sich dies über ein jährliches Haushaltsdefizit über 3% behaupten. Vielmehr orientierten sich die Grenzwerte an der damaligen durchschnittlichen Staatsverschuldung in Europa, die in den damaligen Mitgliedstaaten bei ungefähr 60% des BIP lag. Wie es Hans Tietmeyer, einer der deutschen Verhandler:innen des Maastricht-Vertrags, ausdrückte, ging es bei der 60%-Grenze gar nicht um „wissenschaftliche Begründungen“, sondern vielmehr um etwas Handfestes, das man messen könne.
Die Ent-Politisierung fiskalpolitischer Entscheidungen
Auf diesen ersten – eher willkürlich an historischen Zufälligkeiten als wirtschaftswissenschaftlichen Begründungen orientierten – Schritt folgten eine Vielzahl an Anpassungen der Fiskalregeln. Wie bereits bei Einführung der „Maastricht-Kriterien“ galt dabei meist als Leitmotiv, Staatsverschuldung zu begrenzen und Sanktionsmöglichkeiten durchsetzungsfähiger zu machen. Beispielhaft dafür ist der Europäische Fiskalpakt von 2013. Dieser sieht vor, dass EU-weite Grenzwertregelungen für das strukturelle Haushaltsdefizit auf nationaler Verfassungsebene einzuführen sind. Die im Grundgesetz seit 2009 verankerte, mittlerweile höchst umstrittene, Schuldenbremse galt dafür als Vorbild.
Abgesehen davon, dass die meisten Mitgliedstaaten die Fiskalregeln nur selten einhalten (auch Deutschland bspw. hielt sich seit 1992 fast nie an die 60%-Grenze), zeigt besonders das Ziel des Europäischen Fiskalpakts von 2013, europaweit nationale Regelungen zur Schuldenbegrenzung auf Verfassungsebene einzuführen, wie Fiskalpolitik der politischen Gestaltungsfreiheit entzogen wird. Während die Fiskalregeln in der Öffentlichkeit oft als ökonomisch rational und objektiv richtig wahrgenommen werden, verankern sie (verfassungs-)rechtlich tatsächlich nur eine der möglichen ökonomischen Betrachtungen von Fiskalpolitik. Dabei unterwerfen diese Regeln die Mitgliedstaaten einem engen fiskalpolitischen Regelkorsett mit wenig bis keinem Handlungsspielraum. Dies gilt insbesondere für schon verschuldete Staaten. Sie können in Zeiten wirtschaftlicher Krisen kaum nachhaltig zusätzliche Ausgaben tätigen, um ihre Wirtschaft zu stützen, sondern sind im Gegensatz darauf festgelegt, zu sparen.
Vor allem erschweren die Fiskalregeln durch ihren einseitigen Blick auf Staatsverschuldung die Bewältigung gesellschaftlicher Herausforderungen. So lassen sich bspw. für den Klimaschutz notwendige Investitionen kaum umsetzen, da einseitig auf Schuldenbegrenzung ausgerichtete Fiskalregeln stärkere (auch investive) Ausgaben nicht bzw. nur unzureichend ermöglichen.
Die Paradoxie der fehlenden Handlungsfähigkeit
Daraus resultiert folgende Paradoxie: Während die nach EU-Recht für Fiskalpolitik zuständigen Mitgliedstaaten aufgrund des fehlenden Handlungsspielraums de facto keine Fiskalpolitik machen können, besitzt auf EU-Ebene wiederum keine Institution die Kompetenz für Fiskalpolitik. Dies führt dazu, dass letztlich kein:e Akteur:in aktive und koordinierte Fiskalpolitik ausführen kann. Diese politische Selbstentmachtung wird in Wirtschaftskrisen (wie der Eurokrise oder der Corona-Pandemie) dadurch auf die Spitze getrieben, dass aufgrund der fehlenden Handlungsmöglichkeiten auf nationaler und supranationaler Ebene die demokratisch schwach legitimierte EZB durch expansive Geldpolitik einspringen muss, um die Stabilität der Eurozone zu gewährleisten. Diese fehlende Handlungsfähigkeit mag auch eine der Ursachen dafür sein, dass die EZB nun als Klimaretterin ins Spiel gebracht wird – die dafür eigentlich zuständigen politischen Institutionen sind aufgrund ihrer eigenen Regeln dazu nicht mehr hinreichend imstande.
Die so entstehende politische Handlungsunfähigkeit durch fehlende Kompetenz auf supranationaler und fehlenden Handlungsspielraum auf nationaler Ebene ähnelt mehr dem Traum ordo- und neoliberaler Vordenker:innen, wie es der auf neoliberale Theorie spezialisierte Politikwissenschaftler Thomas Biebricher kürzlich herausstellte, als einer handlungsfähigen Politik, die gesellschaftliche Herausforderungen bewältigen kann.
Wege zur Re-Politisierung durch differenzierte Betrachtung von Staatsverschuldung
Nun könnte man anführen, dass es für gewisse Bereiche sinnvoll ist, diese dem politischen Prozess zu entziehen und sie entweder einer unabhängigen Institution zu übertragen oder enge (verfassungs-)rechtliche Schranken für die politischen Institutionen einzuziehen. Die Fiskalpolitik eignet sich dafür jedoch weniger als oftmals angenommen. Dies liegt einerseits am erheblichen demokratietheoretischen Problem, welches sich daraus ergibt, dass die Parlamente durch die Fiskalregeln eines ihrer „Königsrechte“ beraubt werden. Anstelle der Parlamente setzen demokratisch nicht bis schwach legitimierte Institutionen einschneidende fiskalpolitische Entscheidungen durch, oftmals gegen den Willen der demokratisch legitimierten Parlamente und Regierungen. Beispielhaft ist hier das Handeln der „Troika“ aus Europäischer Kommission, EZB und IWF in Griechenland in der ersten Hälfte des letzten Jahrzehnts zu nennen.
Vor allem aber ist die derzeitige Fiskalarchitektur nicht zweckmäßig. Sie wendet zum einen dieselben Regeln für unterschiedliche Volkswirtschaften an, die sich in ihrer Strukturierung stark unterscheiden. Darüber hinaus implementiert sie eine Betrachtung von Staatsverschuldung als einseitig negativ.
Die rein negative Betrachtung von Staatsverschuldung ist gerade ökonomisch zu einfach gedacht. Gerade die kluge Nutzung von Staatsverschuldung ermöglicht staatliche Handlungsfähigkeit. So sind, wie oben angemerkt, bspw. für einen hinreichenden Klimaschutz oder eine zukunftsfähige Infrastruktur schuldenfinanzierte Investitionen unabdinglich. Obwohl Staatsverschuldung nicht als komplett unbedenklich betrachtet werden muss, ist es dringend notwendig, diese differenziert zu betrachten. Das Hauptanliegen der Fiskalregeln sollte nicht darin liegen, Staatsverschuldung unbedingt begrenzen und abbauen zu wollen. Sie sollten vielmehr den Staaten ermöglichen, Krisen zu bewältigen und demokratisch definierte Ziele zu erreichen. Staatsverschuldungsquoten können in diesen Regeln dann ein Kriterium, aber nicht das einzig entscheidende darstellen.
Vorschläge wie die Anhebung der zulässigen Staatsschuldenquote von 60 % auf 90 %, wie bspw. von EU-Haushaltskommissar Johannes Hahn vorgebracht, wären grundsätzlich näher an der fiskalischen Realität der meisten Mitgliedstaaten. Als alleinige Maßnahme würde sie aber die Fehler von 1992, der Geburtsstunde der 60%-Grenze, wiederholen: eine solche Maßnahme würde sich erneut bloß an derzeitigen durchschnittlichen Schuldenständen orientieren, die dann nicht mehr steigen sollen. Dies ist aufgrund der starken wirtschaftlichen Konsequenzen der Pandemie jedoch schwer möglich, vor allem aber ökonomisch, wie oben beschrieben, generell nicht wünschenswert.
In Abwesenheit realistischer politischer Möglichkeiten, europäische Institutionen und Instrumente zu erschaffen, die eine Fiskalpolitik auf supranationaler Ebene betreiben können, sollte der Fokus der anstehenden Reform der Fiskalregeln also folgender sein: Die rechtlich zuständigen und demokratisch legitimierten nationalen Parlamente und Regierungen müssen ermächtigt werden, fiskalpolitische Entscheidungen zu treffen. Diese Re-Politisierung und Demokratisierung bedeutet, staatliche Handlungsfähigkeit zur Krisenbewältigung zu ermöglichen, anstatt holzschnittartig Staatsverschuldung zu verteufeln. Bestenfalls könnten so ökonomisch veraltete Dogmen einer Re-Politisierung und Demokratisierung der Fiskalpolitik in Europa weichen, die der Erreichung dringender gesellschaftlicher Ziele dient.
Vielen Dank an Dr. Ruth Weber, Carl Mühlbach und die Mitwirkenden des JuWiss-Seminars für hilfreiche Anmerkungen zu früheren Versionen des Beitrags.
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Zitiervorschlag: Lukas Märtin, Willkürliche Grenzwerte und politische Selbstentmachtung: Über die notwendige Re-Politisierung der europäischen Fiskalarchitektur, JuWissBlog Nr. 61/2021 v. 9.6.2021, https://www.juwiss.de/61-2021/.
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