Zweifel unerwünscht: Über den Umgang mit Bedenken bzgl. der Verfassungstreue von Verfassungsrichter*innen

Von OLIVER PIEPER

Gut ein halbes Jahr ist es nun her, dass Barbara Borchardt vom mecklenburg-vorpommerischen Landtag zur Landesverfassungsrichterin gewählt worden ist. Damals wie heute ist ihre Wahl nicht unumstritten. Stellenweise wurde ihre fachliche Qualifikation diskutiert, ferner aber vor allem ihre Mitgliedschaft in der „Antikapitalistischen Linken“, einer Strömung innerhalb der Linkspartei. Diese wird vom Verfassungsschutz (nur) auf Bundesebene als linksextrem eingestuft und beobachtet, weswegen u.a. Frau Borchardts Einstellung zur Eigentumsfreiheit des Grundgesetzes hinterfragt wurde. Selbstredend kann dieser Umstand nicht den unweigerlichen Schluss zulassen, dass es sich bei Frau Borchardt um eine Gegnerin der Verfassung handelt. Doch drängt sich losgelöst von ihrer Personalie die – auch von der SZ gestellte – Frage auf, ob Verfassungsrichter*innen über Zweifel bzgl. ihrer Verfassungstreue erhaben sein müssen.

Die Frage nach der Zulässigkeit von Zweifeln

Wenn man diese Frage nun mit ,,ja“ beantwortet, müsste weiterführend bestimmt werden, welche konkreten Bedenken hierunter zu verstehen sind; welche Gegebenheiten müssen bzw. können als Ausschlussgründe neben den bereits gesetzlich niedergelegten Voraussetzungen für die Wählbarkeit von Verfassungsrichter*innen für Kandidat*innen ausgewiesen werden? Diesen Fragestellungen gilt es umso mehr vor dem Hintergrund nachzugehen, dass zukünftig beiden politischen Rändern aufgrund ihres vermehrt stärkeren Abschneidens bei Wahlen die Möglichkeit offenstehen könnte, Richter*innen für die Verfassungsgerichte von Bund und Ländern zu nominieren (losgelöst von der Frage, ob final auch die erforderlichen politischen Mehrheiten für deren Wahl erreicht werden).

Der Verfasser dieses Textes schließt sich zunächst anderen Stellungnahmen an: Zweifel bzgl. der Verfassungstreue von Richter*innen sind nicht hinnehmbar. Auch wenn es naiv wäre, die Erwartung zu haben, dass Verfassungsrichter*innen durchweg politisch neutral eingestellt sind, zumal sie von Parteien vorgeschlagen werden, so sollten sie dennoch gänzlich erhaben sein bzgl. Vorwürfen, die ihre Verfassungstreue tangieren. Bedenken bei gewählten Richter*innen würden ein nicht hinzunehmendes Risiko für Verfassung und Rechtsstaat bedeuten; unabhängig vom drohenden Vertrauensverlust der Gesellschaft in die Justiz und Verfassungsgerichte. Das Wagnis einer so verursachten bemakelten Besetzung wäre schlichtweg zu groß, vor allem wenn man sich die enorme Tragweite verfassungsgerichtlicher Entscheidungen vergegenwärtigt.

Ein schmaler Grat

Doch liegt hier gleichzeitig die Krux des Ganzen: Derartige Erwägungen dürften sich schließlich schnell dem berechtigten Vorwurf ausgesetzt sehen, vornehmlich Richter*innen der politischen Ränder vorab auszusondern. Sowohl linke als auch rechte Standpunkte stehen aber überwiegend mit der Verfassung in Einklang und lassen das Pendel im Rahmen der Verfassungsauslegung schlicht in die eine oder andere Richtung ausschlagen.

Besonders deutlich lässt sich diese Gefahr beim Umgang mit politisch grenzwertigen Äußerungen potenzieller Kandidat*innen erkennen. Auch extreme bzw. radikale Positionen außerhalb des strafrechtlich relevanten Bereichs fallen unter den Schutz von Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG, ungeachtet deren moralischer oder politischer Bewertung. Beim Auftreten als Privatperson kann und darf nicht von künftigen Verfassungsrichter*innen abverlangt werden, dass sie sich zuvor lediglich in einem politisch mittigen Korridor bewegt haben. Und doch offenbart sich selbst hier unter Umständen das Bedürfnis, Personen für das Verfassungsrichteramt als ungeeignet zu klassifizieren, wie im Fall von antisemitischen oder rassistischen Meinungskundgaben. Ebenso dürfte es sich bei manchen Aussagen bezüglich der Berliner Mauer und den Maßnahmen der DDR-Führung verhalten, wenn man sich bspw. Frau Borchardts Aussage in einem Interview, dass es auf beiden Seiten der Mauer Tote in Form von Mauerschützen gegeben habe sowie ihre Unterzeichnung eines Thesenpapieres ihres Landesverbandes zum 50. Jahrestag der Berliner Mauer, welches den Bau als alternativlos bezeichnete, vor Augen führt. Doch wären gesetzliche Ausschlusstatbestände hier zu vage bzw. dürften sich vor dem Hintergrund von Art. 3 Abs. 1, 3 GG auch verfassungsrechtlichen Bedenken ausgesetzt sehen. Daher muss es zumindest bei politisch wie rechtlich grenzwertigen Äußerungen auch weiterhin ausschließlich dem Parlament überlassen werden, diese bei der Richter*innenwahl zu berücksichtigen. Es handelt sich um eine einzig von der Politik zu tragende Entscheidung, die entsprechend bei den darauf folgenden Wahlen von den Bürger*innen bestätigt oder abgestraft werden kann.

Somit ist es erforderlich, nur solche Zweifel als wahlausschließend aufzufassen, die auf fundierte, objektive Kriterien zurückgeführt werden können. Hierunter könnte u.a. – wie in Frau Borchardts Fall – die Mitgliedschaft in Vereinigungen, die von den Verfassungsschutzämtern als extremistisch eingestuft werden, gefasst werden; oder sogar die darüber hinaus gehenden Fälle, dass die Person selbst vom Verfassungsschutz beobachtet wird oder sie bereits einschlägig straffällig (z.B. Volksverhetzung) geworden ist. Es dürfte niemand bestreiten, dass all diese Beispiele zumindest (!) objektive Zweifel an der Verfassungstreue der Person nach sich ziehen.

Erweiterung des gesetzlichen Ausschlusskataloges

Um Kandidat*innen mit derlei Vorgeschichte von der Wahl auszuschließen, dürfte es wohl am einfachsten sein, Bedenken über die Verfassungstreue als Ausschlusstatbestände in Gesetzesform zu gießen. Als Orientierung verschaffendes Beispiel könnte hier ironischerweise § 3 Abs. 4 Nr. 2 LVerfGG M-V herangezogen werden. Die Norm konstituiert, dass Personen nicht zum/zur Landesverfassungsrichter*in gewählt werden können, die für das frühere Ministerium für Staatssicherheit/Amt für Nationale Sicherheit der Deutschen Demokratischen Republik tätig waren. Angelehnt hieran wäre es ohne Probleme umsetzbar, ebenfalls die Mitgliedschaft in vom Verfassungsschutz des Bundes oder der Länder beobachteten Vereinigungen als Ausschlusskriterium einzuführen. Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit einer solchen Norm können mit dem Ziel des Schutzes der Verfassungsgerichte und deren Integrität sowie durch die hohen gesetzlichen Anforderungen an eine Beobachtung durch den Verfassungsschutz, vgl. §§ 8, 3 BVerfSchG, ausgeräumt werden. Eine willkürliche Verhinderung von Kandidat*innen durch eine bewusst herbeigeführte Beobachtung dürfte deshalb fernliegend sein. Darüber hinaus stehen gegen das Handeln der Verfassungsschutzämter Rechtsmittel zur Verfügung. Gefordert werden müsste allerdings, dass die Mitgliedschaft auch während der Beobachtung bestand, dass bei einer bereits beendeten Beobachtung diese sich nicht als entbehrlich herausstellte und politische Parteien (nicht jedoch deren Strömungen) aufgrund des Vorrangs des Parteiverbotsverfahrens, vgl. Art. 21 Abs. 2 GG, §§ 43 ff. BVerfGG, ausgenommen werden.

Expertengutachten und Modifizierung des Verfahrens

Um aber außerhalb dieser eindeutigen Konstellationen die Wahl abzusichern und gleichzeitig dem Vorwurf der Selektion vorzubeugen, wäre es weiterhin förderlich, eine objektive Expertise bspw. in Form von (obligatorisch vom Landtag einzuholenden) Gutachten über die Verfassungstreue eines/r Kandidat*in einzuholen. Dadurch würden ausschließlich Personen von der Wahl ausgenommen, die klar verfassungsfeindlich eingestellt sind oder zumindest diesbezügliche Vorwürfe nicht zweifelsfrei ausräumen können. Gleichwohl ändert dies natürlich nichts daran, dass Gutachten ignoriert werden können und damit final vor allem eine politische Entscheidung getroffen wird. Darüber hinaus könnte deren Einholen schlichtweg bewirken, dass sich Pro- und Contra-Stellungnahmen der Gutachter*innen je nach politischem Lager gegenüberstehen und die Entscheidungsfindung nicht vorangetrieben wird.
Alternativ sollte deswegen auch über anderweitige Modifizierungen des Verfahrens nachgedacht werden. Die in dem jeweiligen Richterwahlausschuss vorgebrachten Kandidat*innenvorschläge könnten bspw. obligatorisch zuvor publik gemacht werden, damit der Öffentlichkeit und Fachpresse Gelegenheit gegeben wird, auf die Vorschläge zu reagieren. Hierdurch wäre es möglich, den Entscheidungsfindungsprozess indirekt zu beeinflussen. Dies birgt jedoch gleichzeitig die Gefahr in sich, das Umfeld und Privatleben der Person exzessiv durchleuchtet werden (vgl. den Ernennungsprozess der Supreme Court Richter*innen in den USA). Bei einer grundlegenderen Reform bestünde wiederum die Perspektive, die Wahl zu entpolitisieren, indem statt eines Parlamentsausschusses ein Expertengremium – bestehend aus Hochschullehrer*innen, Richter*innen, und auch Politiker*innen – Vorschläge unterbreiten, die dann im Folgenden vom Parlament bestätigt werden müssen. Dem Verfasser ist bewusst, dass es schwierig sein dürfte, für eine derartige systematische Modifizierung den nötigen politischen Rückhalt zu finden, zumal die Parteien ihren eigenen Einfluss beschneiden müssten.

Verantwortung der politischen Parteien

Die vorangegangenen Erwägungen außer Acht lassend verhält es sich ohne eine tiefergreifende Umstrukturierung der Verfassungsrichter*innenwahlen weiterhin so, dass maßgeblich die politischen Parteien in der Pflicht stehen, die Integrität der Verfassungsgerichte zu sichern. Entweder indem sie selbst ausnahmslos Kandidat*innen nominieren, die keinerlei Zweifeln bezüglich ihrer Verfassungstreue ausgesetzt sind, die Wahl nicht tragfähiger Kandidat*innen verhindern oder eben die Gesetzeslage wie oben vorgeschlagen modifizieren. Politische Kompromisse bleiben jedoch so oder so bei einer Verfassungsrichter*innenwahl bezogen auf Zweifel an Kandidat*innen gänzlich deplatziert.

Den hier unterbreiteten Vorschlägen kann natürlich einiges entgegengehalten werden; bspw. die jederzeit offenstehende Möglichkeit Richter*innen nach Erhärten von Vorwürfen abzuwählen (vgl. § 6 Abs. 2 Nr. 8 LVerfGG M-V, § 105 BVerfGG; obwohl der Schaden dann natürlich schon eingetreten wäre und ohnehin die Frage im Raum stünde, inwiefern die Vorschriften auch auf Pflichtverletzungen vor Amtsantritt Anwendung finden), die potenziell breitere Auslegung von bereits vorhandenen Voraussetzungen und Ausschlusstatbeständen sowie zuletzt der Hinweis, dass ,,die Wahl der Verfassungsrichter allein eine Entscheidung der Legislative ist“, das Parlament somit die Verantwortung tragen muss.
Um diesen Gegenargumenten bzgl. der Notwendigkeit einer Gesetzesmodifizierung bereits zuvorzukommen: Klarheit, Entpolitisierung und eine transparentere bzw. fundiertere Wahl können nicht schädlich sein. Die Integrität unserer Verfassungsgerichte ist den damit verbundenen Aufwand allemal wert.

Zitiervorschlag: Oliver Pieper, Zweifel unerwünscht: Über den Umgang mit Bedenken bzgl. der Verfassungstreue von Verfassungsrichter*innen, JuWissBlog Nr. 141/2020 v. 16.12.2020, https://www.juwiss.de/141-2020/

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