von MATTHIAS K. KLATT
Am Bundesverfassungsgericht ist ein machtvoller Posten zu besetzen. Ferdinand Kirchhof, bisher Vizepräsident und Vorsitzender des Ersten Senats, hat die Altersgrenze erreicht und ist bereits nur noch im Amt, weil kein Nachfolger gefunden worden ist. Der nächste Richter wird also nicht nur einer der 16 Richter, sondern auch automatisch Vizepräsident und – nach bisheriger ständiger Übung – beim Ausscheiden des aktuellen Präsidenten Voßkuhle im Jahr 2020 automatisch Präsident des mächtigen Gerichts. Aussichtsreichste Kandidaten sind wohl zwei CDU-Politiker, was die alte und unlösbare Frage aufwirft, wie man es eigentlich mit der Politik am Verfassungsgericht hält.
Das Vorschlagsrecht liegt derzeit bei der Union. Glaubt man aktuellen Presseberichten, ist der Favorit für das Amt der derzeitige Parlamentarische Staatssekretär (PStS) im Bundesinnenministerium Günter Krings. Seine fachliche Eignung wird nicht bestritten, als promovierter („Grund und Grenzen grundrechtlicher Schutzansprüche“) und auch in den USA ausgebildeter Jurist mit Lehrauftrag an der Universität Köln besitzt er einen blitzblanken Lebenslauf. Ebenfalls öffentlich gehandelte Kandidaten sind der CDU-MdB und Anwalt Stephan Harbarth und die deutsche Richterin am EGMR, Angelika Nußberger.
Politische Vergangenheit als Problem?
Insgesamt hat es bisher 16 Richter mit einer Politiker-Vergangenheit am BVerfG gegeben. Gemessen an bisher 108 am BVerfG tätigen Richtern stellen sie eine Minderheit dar (etwa 15 %). Zudem sind Personen wie Roman Herzog, Jutta Limbach und Wolfgang Hoffman-Riem als bekannte Staatsrechtslehrer keine Politiker im eigentlichen Sinne, auch wenn sie einmal für eine gewisse Zeit Regierungsverantwortung übernommen haben. Derzeit sind Peter Müller (ehem. Ministerpräsident des Saarlandes) und Peter M. Huber als ehemalige Politiker am BVerfG aktiv, wobei Huber in die genannte Kategorie Staatsrechtslehrer mit Ausflug in die Politik gehört (ein Jahr Thüringer Innenminister).
Politiker sind also am Verfassungsgericht nicht unüblich. Sie machen sich dabei nicht immer bei ihren vorherigen Unterstützern beliebt, etwa Huber, der öffentliche Kritik dafür einheimsen musste, dass er trotz CDU-Mitgliedschaft die Aufhebung der Europawahl-Sperrklausel mittrug. Selbst das Entscheidungsverhalten des offen konservativ auftretenden ehemaligen Richters Herber Landau lässt sich nach einer politikwissenschaftlichen Studie nicht pauschal bewerten. Und fielen nicht etwa die ersten Emanzipationsversuche des Gerichts von der Regierung Adenauers unter die Präsidentschaft Gebhard Müllers, ehemaligem CDU-Ministerpräsidenten von Baden-Württemberg? Die bisherigen Erfahrungen lassen also nicht den Schluss zu, dass ehemalige Politiker gegenüber aktuellen Regierenden besonders zurückhaltend wären. Mindestens lässt sich aber sagen, dass sich einfache Antworten – etwa: ehemalige Politiker bleiben auf Parteilinie – verbieten.
Mehr noch: Das BVerfG selbst hat gegen die Ausrichtung auch auf politische Kandidaten offenbar nichts einzuwenden: „Den Bestimmungen über die Wahl von Richtern des Bundesverfassungsgerichts (…) liegt als selbstverständlich, sogar als erwünscht, zugrunde, dass auch Personen, die als Repräsentanten von Parteien politische Funktionen (…) bekleidet haben, zu Mitgliedern des Bundesverfassungsgerichts gewählt und ernannt werden können, um ihre politischen Erfahrungen für die Verfassungsrechtsprechung fruchtbar zu machen“ (Rn. 18).
Das Gericht, nicht der Richter
Es gibt darüber hinaus insbesondere zwei Schutzmechanismen, die dafür sorgen, dass diese Instution überparteilich und ohne gespaltene Lager arbeiten kann. Von dieser Struktur profitieren auch ehemalige Politiker bei ihrem Wechsel an das Gericht:
Erstens ist institutionell dadurch vorgesehen, dass für jede Richterbestimmung eine 2/3-Mehrheit im Bundestag oder Bundesrat notwendig ist. Einen strack-konservativen CDUler wird die SPD dadurch ebenso wenig mittragen, wie sie einen linkaußen Kandidat durchsetzen könnte. Dadurch wird auch politischer Extremismus im Verfassungsgericht verhindert; extreme Richtungswechsel sind dieser Institution fremd, schon gar durch einzelne Richterbestellung. Das wird erst recht im aktuellen Bundestag deutlich, indem für eine Richterwahl angesichts der Mehrheitsverhältnis nun vier Fraktionen zusammenkommen müssen (Union, SPD, FDP, Grüne).
Zweitens ist die Arbeit des Gerichts sehr stark auf Kollegialität ausgerichtet. Die Beratung im Senat ist geheim und intensiv (dazu ausführlich Kranenpohl). Viele ehemalige Richter betonen die ausgeprägte Suche nach dem Konsens – dissenting opinions, die seit 1971 veröffentlich werden dürfen, sollen nach Möglichkeit vermieden werden. Und dies funktioniert auch in der Regel, insbesondere im letzten Jahrzehnt haben die Richter des BVerfG sehr wenig Gebrauch von diesem Instrument gemacht. All dies heißt letztlich: gerade in der Öffentlichkeit wird nicht die Stellung eines Richters, sondern des Gerichts als ganzen betont (Oder können ihre nicht-juristischen Freunde neben Voßkuhle einen weiteren Richter des BVerfG nennen?). Diese strukturelle Ausrichtung des Gerichts ist eine völlig andere als in den USA, was nicht zuletzt am sehr publikumswirksamen Berufungsprozess des Richters Kavanaugh offenbar wird und Ruth Bader Ginsburg, Heldin der Liberalen, einen eigenen biographischen Doku-Film erhält.
Besonderheit Präsidentenamt
Nun geht es im aktuellen Fall nicht nur um die Bestellung eines neuen Richters, sondern den zukünftigen Vizepräsidenten und bald (voraussichtlich 2020) Präsident des BVerfG. Ergibt sich aus dieser besonderen Stellung ein anderes Bild, als bisher gezeichnet? Im internen Bereich ist er als Vorsitzender des Senats, insbesondere für eine konstruktive und integrative Beratung zuständig. Dennoch darf seine Macht hier nicht überschätzt werden; er ist eben nur einer von acht Mitgliedern und kann leicht überstimmt werden. Extern ist er Repräsentant und wird damit als Sprachrohr des gesamten Gerichts in der Öffentlichkeit gesehen. Hier ist Zurückhaltung zu verlangen, da das Gericht nun mal ein objektiver „Hüter der Verfassung“ ist. Ob für diese Rolle ehemalige Politiker ungeeigneter sind als etwa Professoren? Der aktuelle Präsident Voßkuhle interpretiert seine Rolle doch recht offensiv und äußert sich auch zu aktuellen politischen Geschehnissen und wird dafür zum Teil scharf angegriffen. Ohne diese Praxis zu bewerten, zeigt sie, dass auch vermeintlich auf Sachlichkeit gepolte Staatsrechtslehrer sich nicht automatisch in Zurückhaltung üben. Zudem wäre er auch nicht der erste Präsident des BVerfG, der vorher politische Ämter bekleidete: Benda, Herzog und Limbach sind hier weitere Beispiele. Das alles ist also keine Revolution. Die Institution und die Republik sind an starke Persönlichkeiten an seiner Spitze gewöhnt.
Falsches Signal an Ungarn und Polen?
Erstaunlich sind Äußerungen, dass gerade angesichts der Rechtsstaatskrisen in osteuropäischen Ländern den deutschen Parlamentariern zu denken geben sollten, eine Besetzung des BVerfG mit ranghohen Regierungsvertretern zu unterlassen. Die polnische Situation etwa, die geprägt ist von einer systematischen und rechtsstaatswidrigen Entmachtung und Umgestaltung der Gerichtsbarkeit, lässt sich doch nur schwer mit den dargestellten Rechtsfragen in einen Kontext bringen. Angesichts dieser evidenten Rechtsstaatskrise in diesen Ländern, besitzt Deutschland ein absolutes Luxusproblem.
Zitiervorschlag: Matthias K. Klatt, „Wie hältst du es mit der Politik?“ – Karlsruher Gretchenfragen, JuWissBlog Nr. 83/2018 v. 04.10.2018, https://www.juwiss.de/83-2018/
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