von SARAH GEIGER
Seit einigen Tagen fordert Jean-Luc Mélenchon, Drittplatzierter im ersten Durchgang der französischen Präsidentschaftswahl, die Wählerschaft dazu auf, für ihn als Premierminister bei den kommenden Parlamentswahlen zu stimmen. Allerdings steht es im freien Ermessen des Präsidenten, einen Premierminister zu ernennen. Dieses Ermessen ist nur dann eingeschränkt, wenn die Parlamentsmehrheit einer anderen politischen Richtung als derjenigen des Präsidenten entspricht. Doch selbst wenn der Präsident sein politisches Programm dann mit einem Regierungschef aus der Opposition abstimmen muss, ist er in seiner Ernennungsentscheidung an keine Personalie gebunden. Was bezweckt Mélenchon mit seiner Wahlaufforderung, die im Widerspruch zum Verfassungstext steht?
Nach der Wahl ist vor der Wahl
Gerade erst wurde der Sieg des amtierenden Präsidenten Emmanuel Macron in der Stichwahl verkündet, schon mobilisieren die unterlegenen Kandidaten ihre Anhängerschaft für die nächsten Wahlen. Nicht nur die rechtsextreme Marine Le Pen hat sich nach ihrer Niederlage in der Stichwahl kampflustig mit Blick auf die bevorstehenden Parlamentswahlen gezeigt. Auch die im ersten Wahldurchgang unterlegenen Kandidaten haben sich auf die bevorstehenden Wahlen konzentriert.
Inhalt und Bedeutung der bevorstehenden Wahlen
Die Wahlen zur Nationalversammlung (Assemblée Nationale) finden am 12. und 19. Juni statt. Die Abgeordneten werden im Unterschied zu den Senatoren direkt vom französischen Volk gewählt. Seit einer Verfassungsreform aus dem Jahr 2001 finden die Parlamentswahlen wenige Wochen nach der Präsidentschaftswahl statt. Die Legislaturperiode wurde angeglichen, um sicherzustellen, dass der neu gewählte Präsident über eine Mehrheit in der Nationalversammlung verfügt und um eine sogenannte „cohabitation“ (vgl. sogleich) zu vermeiden. Diese Logik ist besser zu verstehen, wenn man die Besonderheiten des parlamentarischen Systems der fünften Republik im Blick hat.
So sieht die französische Verfassung zwar vor, dass die Regierung – geführt von einem Premierminister – die Politik der Nation „bestimmt und leitet“ (Art. 20 Abs. 1). Die politische Realität ist häufig jedoch anders. Verfügt der Präsident, der aufgrund seiner Direktwahl auf eine bedeutende demokratische Legitimation verweisen kann, über eine Parlamentsmehrheit, so gibt dieser der Regierung seinen politischen Willen vor. Das funktioniert ohne großen Widerstand innerhalb der Regierung, denn die Regierungszusammensetzung orientiert sich an der Parlamentsmehrheit. Beide Organe sind dann vollständig oder überwiegend mit Mitgliedern der Partei des Präsidenten besetzt. Eine derartige Homogenität sorgt für politische Stabilität und einen starken Präsidenten. Das Regierungssystem gleicht in dieser Hinsicht einem Präsidialsystem, was den Begriff des „semipräsidentiellen“ Regierungssystems geprägt hat, um die Verfassungswirklichkeit der von Charles de Gaulle als parlamentarisches System vorgestellten fünften Republik zu beschreiben.
Andersherum verliert der Präsident an Durchsetzungskraft, wenn die Parlamentsmehrheit einer anderen politischen Richtung entstammt. Die Regierung, einschließlich des Premierministers, entspricht dann der politisch entgegengesetzten Parlamentsmehrheit. Nur so ist ausreichende Stabilität gesichert, da die Regierung gegenüber der Nationalversammlung politisch verantwortlich ist (die Nationalsammlung kann die Regierung mittels Misstrauensvotums stürzen, vgl. Art. 49 Abs. 2 der Verfassung).
Jean-Luc Mélenchon als „Spitzenkandidat“ der Linken?
Genau auf diese zweite Konstellation (man spricht im Französischen von „cohabitation“) hoffen nun die unterlegenen Kandidaten der Präsidentschaftswahl. Besonders markant äußert sich Jean-Luc Mélenchon, der als stärkster linker Kandidat im ersten Wahldurchgang knapp hinter Le Pen landete. Er bezeichnet die Parlamentswahl als „dritte Runde“ der Präsidentschaftswahlen und fordert die Wählerschaft dazu auf, für ihn als Premierminister zu stimmen.
Doch gibt es in der fünften Republik überhaupt ein „Spitzenkandidaten“-System, wie es etwa von den deutschen Bundestagswahlen bekannt ist? Nein. Entscheidend ist, wer den Regierungschef formell bestimmt. In Deutschland wählt der Bundestag den Bundeskanzler. Man kann bei den Bundestagswahlen also durchaus von einer indirekten Wahl des Bundeskanzlers sprechen. In Frankreich wählt nicht die Nationalversammlung den Premierminister. Nach Artikel 8 Abs. 1 der Verfassung ernennt der Präsident den Premierminister und ist in dieser Ernennungsentscheidung völlig frei. Mélenchon scheint das französische Verfassungsrecht durchaus zu kennen, denn er verweist regelmäßig auf die formelle politische Durchsetzungskraft des Premierministers gegenüber dem Präsidenten. So möchte er als künftiger Premierminister seine politische Linie umsetzen. Den ausdrücklichen Wortlaut des Art. 8 Abs. 1 lässt er dabei jedoch unerwähnt.
Zwar haben drei Verluste der parlamentarischen Mehrheit unter den Präsidenten François Mitterand (1986 und 1993) und Jaques Chirac (1997) zu einer de facto Begrenzung der präsidialen Entscheidungsfreiheit im Ernennungsprozess geführt, sodass Mitterand und Chirac sich jeweils gezwungen sahen, einen Premierminister aus der Opposition zu benennen. Der Kohabitationsmechanismus ist damit Ausdruck einer Verfassungspraxis unter Art. 8.
Keine Pflicht des Präsidenten zur Ernennung eines bestimmten Oppositionsführers
Allerdings hat die Verfassungspraxis nicht zu einer Begrenzung der präsidialen Entscheidungsfreiheit derart geführt, dass der Präsident an einen konkreten Oppositionsführer gebunden wäre. Ein bekanntes Beispiel hierfür ist die Ernennung Édouard Balladurs als Premierminister unter Mitterand. Oppositionsführer war zu diesem Zeitpunkt Chirac. Um sich auf den Wahlkampf für die nahenden Präsidentschaftswahlen zu konzentrieren, ließ Chirac jedoch seinem langjährigen Parteifreund Balladur den Vortritt als Premierminister. Dieser unvorhergesehene Personenwechsel bedurfte keinerlei Absegnung durch die Parlamentsmehrheit. Seitdem gilt: Sofern die Wähler bei den Parlamentswahlen mehrheitlich für eine andere politische Partei als bei den Präsidentschaftswahlen stimmen – und so ihre Unzufriedenheit mit der politischen Linie des Präsidenten ausdrücken – muss dieser zwar durch die Ernennung eines oppositionellen Regierungschefs einen politischen Richtungswechsel vornehmen. Die Person, die schlussendlich vom Präsidenten ernannt wird, muss jedoch nicht in concreto vom Parlament gebilligt werden.
Eine neue Verfassungspraxis?
Was möchte Mélenchon also mit seiner Wahlaufforderung und dem wiederholten Verweis, dass nicht die Person des Präsidenten, sondern diejenige des Premierministers in den kommenden politischen Jahren entscheidend sein wird, erreichen?
Wie soeben gesehen, ist das politische Leben in der fünften Republik von mehreren „Verfassungsbräuchen“ bestimmt, die sich über den Wortlaut der Verfassung hinwegsetzen.
Mélenchons Wahlkampfführung könnte auf die Begründung einer neuen Verfassungspraxis abzielen. Seit mehreren Jahren ist es ein zentrales Anliegen des ehemaligen Präsidentschaftskandidaten, das häufig kritisierte politische System der fünften Republik mit der präsidialen Omnipräsenz fundamental zu ändern. Ohne den Willen des Präsidenten ist eine Verfassungsänderung allerdings nicht möglich (vgl. Art. 89 der Verfassung). Nach seiner Niederlage bei den Präsidentschaftswahlen bleibt Mélenchon nunmehr die Möglichkeit, über eine cohabitation ein echtes Parlamentssystem voranzubringen. Voraussetzung hierfür ist, dass er sich in der öffentlichen Wahrnehmung als einzig tragbare Person für dieses Vorhabens positioniert. Dann wären die Parlamentswahlen tatsächlich ein Barometer über die Zustimmung zum politischen Programm eines meinungsstarken künftigen Premierministers. Ginge Mélenchons Partei als stärkste Kraft aus den Parlamentswahlen hervor, wäre die Wahrscheinlichkeit groß, dass der Präsident gezwungen ist, in seiner Ernennungsentscheidung den Volkswillen zu berücksichtigen. Mélenchon dürfte dabei selbstsicher auf das von ihm wiederholte Dogma „vox populi, vox dei“ verweisen. Tatsächlich gibt es keine beständigere Verfassungsauslegung in der fünften Republik als die von de Gaulle bis zum eigenen Rücktritt vertretene Ansicht, dass kein Präsident über dem unmittelbar demokratisch geäußerten Volkswillen steht.
Ausblick
Bisher war in allen Diskussionen von einem dritten Wahlgang („3ème tour“) im Juni die Rede. Das ändert bislang allerdings nichts daran, dass Macron erst einmal bis spätestens Mitte Mai einen neuen Premierminister ernennen wird, der dann eine neue Regierung bildet. Für diese Rolle war bereits unter anderem EZB-Präsidentin Christine Lagarde im Gespräch.
Jedoch kann der von Macron ernannte Premierminister nach den Parlamentswahlen nur dann im Amt bleiben, wenn er die Abgeordnetenmehrheit hinter sich hat. Dass auch in den kommenden fünf Jahren Macrons „République en Marche“ diese Mehrheit bilden wird, ist zum aktuellen Zeitpunkt keinesfalls sicher. Tatsächlich hat Mélenchons Partei „La France insoumise“ in den letzten Tagen mehrere Abkommen mit linken Parteien geschlossen, um eine gemeinsame Liste bei den Parlamentswahlen zu bilden und so je Wahlkreis denjenigen Kandidaten zu stellen, der die größten Gewinnaussichten hat. Die Abkommen wurden mit der kommunistischen Partei, den Grünen und gestern sogar mit den Sozialisten (die Validierung durch die Parteibasis steht aktuell aus) geschlossen. Sofern sich die neue Mehrheit aus Parteien des linken Spektrums zusammensetzen sollte, kann – Stand jetzt – Macron immer noch frei entscheiden, eine andere Personalie als Mélenchon zum Premierminister zu ernennen. Es sei denn, der Beginn einer neuen Verfassungspraxis zeichnet sich bis dahin ab. Dann sähe die Politik der kommenden fünf Jahre allerdings deutlich anders aus als von Macron angekündigt.
Zitiervorschlag: Sarah Geiger, Und nun zur Wahl eines linken Premierministers?, JuWissBlog Nr. 26/2022 v. 5.5.2022, https://www.juwiss.de/26-2022/
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