Gedanken anlässlich des Weltflüchtlingstags am 20. Juni

Von SARAH RÖDIGER und FELIX WÜRKERT

Foto-roedigerfoto-wuerkertAm 20. Juni fand der Weltflüchtlingstag statt, den die UN-Generalversammlung 2001 anlässlich des 50-jährigen Bestehens des UNHCR ins Leben rief. Und so bietet dieser Tag Anlass, sich über die rechtliche Behandlung von Flüchtlingen Gedanken zu machen. Aufbauend auf der persönlichen Erfahrung und der politischen Theorie Hannah Arendts lässt sich die Enge des Flüchtlingsbegriffs kritisieren. Als Antwort hierauf kann das Rechtsprinzip der Solidarität angeboten werden, welches bereits im Flüchtlingsrecht angelegt ist und in Zukunft stärker handlungsleitend sein sollte.

Das rechtliche Problem: Der Tatbestand

Die Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) definiert in Art. 1 Abs. A UAbs. 2 „Flüchtling“ als Person, die „aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Überzeugung sich außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzt“. Diese ursprünglich nur für Sachverhalte vor 1951 geltende Definition wurde durch Art. 1 Abs. 2 des Protokolls über die Rechtsstellung der Flüchtlinge auf nachfolgende Sachverhalte ausgeweitet. Der Tatbestand der GFK war insoweit ein Gewinn, als er anerkannte, dass es keines Akts der Dissidenz bedurfte, um zur Flucht gezwungen zu sein. Damit wurden die traurigen Erfahrungen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts verarbeitet, dass bereits die Zuschreibung einer Gruppenzugehörigkeit genügt, um zum Flüchtling zu werden.

Gleichzeitig birgt dieser Tatbestand, der so oder so ähnlich in allen folgenden Regelungen auftaucht, ein genuin juristisches Problem. Schon 1943 formulierte Hannah Arendt in ihrem Text We Refugees, in dem sie auch aus ihrer eigenen Fluchterfahrung schöpft, eine neue Definition des Flüchtlings: „Now refugees are those of us who have been so unfortunate as to arrive in a new country without means and have to be helped by Refugee Committees.“ Diese Definition kommt also letztlich ohne echten Tatbestand aus. Und so hält Arendt später auch fest, dass die „Juristen, die daran gewohnt sind, das Gesetz durch die Strafe zu definieren […], es vielleicht noch schwerer als der Laie verstehen […]. Absolute Rechtlosigkeit hat sich in unserer Zeit als die Strafe erwiesen, die auf absolute Unschuld steht.“ (H. Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, Band 2, 1975, S. 244 f.) Man könnte sagen, dass Flüchtling ist, wer flüchtet und dass flüchtet, wer in Not ist. Dagegen dient ein Tatbestand, der vermeintlich legitime Fluchtgründe der Verfolgung von vermeintlich illegitimen Gründen wie wirtschaftlicher Not abgrenzen will, letztlich nur der Abwehr. Dabei übersieht eine solche Differenzierung zum einen, dass wirtschaftliche Not das Ergebnis struktureller Diskriminierung sein kann (Bsp. „sichere Herkunftsländer“) und ignoriert zum anderen das wachsende Phänomen der Klimaflüchtlinge. Den Tatbestand des Flüchtlings aufzugeben oder zumindest nachhaltig zu reformieren, würde jedoch bedeuten, sich unbewaffnet den fast 60 Millionen Flüchtenden auf dieser Welt stellen zu müssen. Doch Hannah Arendt aufgreifend musste Giorgio Agamben Anfang der 90er konstatieren: „Jedes Mal, wenn Flucht nicht länger auf individuelle Fälle beschränkt ist, wenn sie also, wie zwischen den beiden Weltkriegen und jetzt erneut, als Massenphänomen auftritt, erweisen sich diese Organisationen wie auch die einzelnen Staaten – ungeachtet all der feierlichen Beschwörungen unveräußerlicher Menschenrechte – als absolut unfähig, das Problem zu lösen oder es auch nur adäquat zu stellen. Stattdessen überließ man die Frage der Flüchtlinge humanitären Organisation – und der Polizei.

Die Polizei war es auch schon bei Arendt, die des Nachts jenseits der Legalität Flüchtlinge außer Landes schaffte, wobei sich die Staaten allnächtlich diese Entrechteten gegenseitig zuschoben, bis diese wegen illegaler Einreise eingesperrt wurden. (H. Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, Band 2, 1975, S. 244 f.) Insofern hat sich Europa in all den Jahrzehnten traurigerweise nicht merklich verändert.

Die falsche Lösung: Gewalt

Mit Blick auf den Umstand, dass auch damals auf Mittel jenseits der Legalität zurückgegriffen wurde, verwundern die strafrechtlichen, seerechtlichen (vgl. beide nachfolgende Links), verfassungsrechtlichen, menschenrechtlichen, europarechtlichen und völkerrechtlichen (hier und hier) Zweifel an der gegenwärtigen und der geplanten Praxis im Mittelmeer nicht. Neu ist allerdings, dass nicht mehr die Polizei, sondern nunmehr die Streitkräfte zuständig seien sollen und dass der Versuch unternommen wird, zumindest Teile der Legalitätszweifel durch ein Mandat des Sicherheitsrats zu überschreiben. Ein Mandat, das falsch wäre, weil sonst hinsichtlich des in der Konstitutionalisierung befindlichen Völkerrechts wiederum Arendt recht behalten müsste: „Es ist durchaus denkbar und im Bereich praktisch politischer Möglichkeiten, dass eines Tages […] ein Menschengeschlecht […] durch Majoritätsbeschluss entscheidet, dass es für die Menschheit im ganzen besser ist, gewisse Teile derselben zu liquidieren.“ (H. Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, Band 2, 1975, S. 263 f.) Denn dieser auf Abwehr ausgerichteter Militäreinsatz befreit keinen einzigen Flüchtling aus seiner Not, sondern belässt sie alle darin. Und indem er ihnen eine – wenn auch noch so unsichere – Fluchtmöglichkeit nimmt, entrechtet er sie noch weiter. So liegt es vielleicht daran, dass bis dato noch keine Sicherheitsratsresolution nach Kapitel 7 UNCh vorliegt. Möglicherweise war es dann doch zu offensichtlich, dass mit den „Schleppern“ nicht der hierfür erforderliche „threat to peace“, sondern lediglich ein threat to peace of mind bekämpft werden sollte.

Ein Lösungsansatz: Solidarität als Rechtsprinzip des Völkerrechts

Das Völkerrecht hat einen Wandel vollzogen, der in weiten Teilen von einem staatenzentrierten Völkerrecht hin zu einem wertebasierten Völkerrechtssystem geführt hat, in dessen Vordergrund das Individuum gerückt ist. Zudem wurde erkannt, dass globale Herausforderungen, wie Terror, Klimawandel oder Flüchtlingsströme, ausschließlich durch eine Zusammenarbeit der Staaten gelöst werden können. Flüchtlingsströme sind nicht isoliert zu betrachten, sie haben grenzüberschreitende Auswirkungen und führen zu Spannungen und humanitären Katastrophen weltweit. Solche Katastrophen sind als eine Bedrohung von Frieden und Sicherheit anzusehen, demzufolge ist der Schutz dieser Rechtsgüter von der Staatengemeinschaft abhängig.

Dies bewirkt, dass zunehmend völkerrechtliche Normen existieren, die konkrete Ausprägungen von Solidarität im Völkerrecht darstellen. Solidarität tauchte zunächst innerhalb von Staaten auf, z.B. war es in dem französischen Konzept der „fraternité“ enthalten. Grundlage des Konzepts war und ist die gegenseitige Unterstützung in Notsituationen in der Gemeinschaft. Inzwischen lassen sich zahlreiche Normen im Völkerrecht auf den Solidargedanken zurückführen, da auch, wie schon Emer de Vattel betonte, Staaten eine Pflicht zur gegenseitigen Unterstützung haben: “Un Etat doit à tout autre Etat ce qu´il se doit á soi-même, autant que cet autre a un véritable besoin, de son sécours, & qu´il peut le lui accorder sans négliger ses devoirs envers soi-même.“ (E. de Vattel, Le droit de gens ou principes de la loi naturelle, Appliqués à la conduit et aux affaires des Nations et de Souverains, LIV. II, 1758, S. 258, § 3) Für die Einordnung als Prinzip muss Solidarität ein fundamentales Element sein, das die Rechtsordnung kennzeichnet. Solidaritätselemente finden sich primär im Bereich des Menschenrechtsschutzes. Zum einen kann angenommen werden, dass aufgrund der menschenrechtlichen Überlegungen zur Würde und Gleichheit der Menschen, Solidarität sich zumindest als ein Akt der Mit-menschlichkeit darstellt. Zum anderen gefährden Menschenrechtsverletzungen auch die internationale Sicherheit, wodurch der Schutz und die Förderung von Menschenrechte gleichzeitig dem Frieden dienen und Solidarität dann zur Erreichung der gemeinsamen Ziele fungiert. Die Entwicklung des Menschenrechtsschutzinstrumentariums war wesentlich vom Solidaritätsgedanken geprägt und kommt z.B. in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte zum Ausdruck (oder z.B. in Art. 23 AChHPR). Der Schutz des Einzelnen dient gleichzeitig dem Schutz der gesamten Staatengemeinschaft. Solidaritätssituationen gibt es auch neben Konflikten genug: Der Sicherheitsrat der UN hat im vergangenen Jahr „Ebola“ als Bedrohung für Frieden und Sicherheit erklärt. Die Sondersitzung zeigte deutlich das Solidaritätskonzept, wonach kein Staat solche Katastrophen alleine bewältigen kann und sie eine gemeinsame Verantwortlichkeit hervorrufen. Es sind nicht allein altruistische Gründe, die zu der Zunahme von Solidarität geführt haben, sondern es ist das Interesse der Staatengemeinschaft. UN-Dokumente (hier und hier) betonen, dass es sich bei Solidarität um einen „fundamentalen Wert“ handelt und dieser verbunden ist mit den Prinzipien „fairness, equity and social justice“. Die Tendenz der Verrechtlichung ist steigend und die Pflichten gehen über eine lediglich moralische Solidarpflicht hinaus. Solidarität ist ein völkerrechtliches Prinzip und damit ein fundamentales Element geworden, welches das Völkerrechtssystem kennzeichnet.

Die GFK ist Ausdruck der Solidarität, da durch sie die Bereitschaft der Staaten zu sehen ist, bei Bewältigung der Flüchtlingsströme zusammenzuarbeiten (vgl. „joint efforts of states“ in der Präambel). Der GFK liegt die Erkenntnis zugrunde, dass der effektive Flüchtlingsschutz, wie z.B der Non-Refoulement-Grundsatz, nur durch die solidarische Unterstützung der Staatengemeinschaft gewährleisten wird. Praktisch erfolgt Unterstützungsleistung in Form von „burden-sharing“ und ist somit vom Gerechtigkeitsgedanken geprägt. Darüber hinaus wurde in zusätzlichen Konventionen, die weitere Fluchtgründe abdecken, Solidarität explizit aufgenommen (Art. 2 (4) OAU Convention Governing the Specific Aspects of Refugee Problems in Africa, Art. 2 (2) UN Declaration on Territorial Asylum). Soweit ein Staat die Situation nicht mehr bewältigen kann, sollen die anderen Staaten alle notwendigen Maßnahmen treffen, um die Staaten zu unterstützen (Vienna Declaration and Programme of Action, 25 June 1993, Art. 23). Das völkerrechtliche Solidaritätsprinzip bewirkt im Flüchtlingsrecht, dass Flüchtlinge Belange der Staatengemeinschaft sind, Staaten die Pflicht haben sie zu schützen und gemeinsam Lösungen zu finden. Konkret geht es darum, den erleichterten Zugang für Flüchtlinge oder einen Schutzort zu gewährleisten. Daneben kann Solidarität als Prinzip zur Interpretation von Normen herangezogen werden. Dabei kann vor allem die weite Interpretation des Flüchtlingsbegriffs und des Non-Refoulement-Grundsatzes einen Fortschritt im Sinne der Solidarität bedeuten.

Grundgedanke von allen Bestimmungen des Flüchtlingsrechts ist die internationale Solidarität. Im Flüchtlingsrecht können Staaten daher angehalten sein aufgrund des Solidaritätsprinzips den vertraglichen Verpflichtungen ein höheres Schutzniveau zukommen zu lassen. Insbesondere eine Rechtsordnung wie die EU, die die Verrechtlichung von Solidarität massiv vorangetrieben hat (Art. 2, Art. 3 EUV, Art. 222 Abs. 1 AEUV, Titel IV EU Grundrechtecharta) sollte hierbei – entgegen gegenwärtiger Praxis – Solidarität üben.

Fazit

Für den Bereich des Flüchtlingsrechts kann festgehalten werden, dass sich das völkerrechtliche Prinzip der Solidarität durch das gesamte Flüchtlingsrecht zieht und eine Verrechtlichung teilweise stattgefunden hat. Insgesamt sind knapp 60 Millionen Menschen weltweit auf der Flucht, eine Zahl, die uneingeschränkte Solidarität der Staatengemeinschaft erforderlich macht. Solidarität dient letztlich der Funktionsfähigkeit der Staatengemeinschaft und der Durchsetzung des Menschenrechtsschutzes – “only in such a world is the political survival of humankind today thinkable“ (Agamben).

Felix Würkert, Migrationsrecht, Sarah Rödiger, Solidarität, Völkerrecht, Weltflüchtlingstag
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