von MARCUS BERGMANN
Die Regelungen zur Abschiebungshaft sollen um konkrete gesetzliche Kriterien für das Vorliegen von Fluchtgefahr ergänzt werden. Diese sollen auch für Überstellungen in Dublin-Fällen genutzt werden. Der Gesetzgeber strebt hier offensichtlich möglichst einheitliche Regelungen an – dies gelingt ihm jedoch nur teilweise, große Würfe bleiben aus. Im Detail verzettelt sich der Entwurf in Widersprüchen.
Die bestehenden Regelungen zur Abschiebungshaft in §§ 62 f. AufenthG sollen im Ergebnis nur geringfügig abgeändert werden. Die sog. „Kleine Sicherungshaft“ fällt weg, da § 62 III 2 AufenthG gestrichen werden soll. Die so entstehende „Lücke“ schließt dann in gewisser Weise die angedachte Neuregelung des „Ausreisegewahrsams“ in § 62b AufenthG-E. Wegen Art. 16 I der Rückführungsrichtlinie muss Abschiebungshaft in gesonderten Haftanstalten vollstreckt werden. Nachdem der EuGH im letzten Jahr klargestellt hat, dass bei föderal organisierten Mitgliedstaaten Abschiebungshaft nur in Strafgefängnissen vollstreckt werden darf, wenn im gesamten Bundesgebiet keine gesonderten Abschiebungshaftanstalten verfügbar sind, sieht § 62a AufenthG-E nun eine dementsprechende Anpassung vor.
Neuregelungen zur Fluchtgefahr
Umfangreiche Ergänzungen sind aber für den Haftgrund der Fluchtgefahr geplant. Die bisher recht offene Formulierung, die einen begründeten Verdacht verlangt, dass sich der Abzuschiebende der Abschiebung entziehen will, wird zunächst präzisiert. § 62 III 1 Nr. 5 AufenthG-E verlangt, dass „im Einzelfall Gründe vorliegen, die auf den in § 2 XIV festgelegten Anhaltspunkten beruhen und deshalb der begründete Verdacht besteht, dass er sich der Abschiebung durch Flucht entziehen will (Fluchtgefahr)“. Mit anderen Worten: Lässt sich kein Anhaltspunkt nach dem in § 2 XIV AufenthG-E vorgesehenen Katalog finden, ist nach dem klaren Wortlaut des § 62 III AufenthG-E Abschiebungshaft nicht möglich. Denn der Fluchtverdacht muss auf einem der Katalogpunkte fußen („… und deshalb …“). Blickt man nun in § 2 XIV AufenthG-E, so liest man erstaunt: „Konkrete Anhaltspunkte im Sinne von § 62 Abs. 3 Satz 1 Nummer 5 könnensein […]“. Der dann folgende Katalog wird also hier nur als Beispielsammlung („können“) verstanden, nicht als abschließende Aufzählung obligatorischer Voraussetzungen. Systematisch lässt sich dieser Widerspruch nicht auflösen. Die Gesetzesbegründung geht darauf nicht ein.
In der Begründung zum Gesetzentwurf (S. 38) wird betont, dass die einzelnen Katalogumstände des § 2 XIV AufenthG-E nur Indizien seien, die der bisherigen Rechtsprechung nachgebildet und im Einzelfall zu prüfen seien. Blickt man zunächst auf die abschließende Nr. 6 des Katalogs, so soll ein solches Indiz darin liegen, dass der Ausländer, „um sich der bevorstehenden Abschiebung zu entziehen, sonstige konkrete Vorbereitungshandlungen von vergleichbarem Gewicht vorgenommen“ hat, „die nicht durch Anwendung unmittelbaren Zwangs überwunden werden können“. Die Entwurfsbegründung stellt dabei auf einen unmittelbaren zeitlichen Zusammenhang zur Abschiebung ab und hebt hervor, dass dem Verhalten ein vergleichbares Gewicht wie den in Nummer 1 bis 5 beschriebenen Fallgruppen zukommen muss. Regelungstechnisch steht eine solche offene Auffangklausel ebenfalls im Widerspruch dazu, dass § 62 III 1 Nr. 5 AufenthG-E eine enumerative Aufzählung ankündigt. Welche konkreten Anhaltspunkte es zudem neben einer solch offenen Formulierung noch geben „kann“, wie es einleitend in § 2 XIV AufenthG formuliert ist, ist außerdem fraglich.
Schaut man sich nun die übrigen Nummern des Katalogs an, stellt man verblüfft fest, dass dort gar keine Vorbereitungshandlungen für eine Flucht aufgeführt sind. Stattdessen ist davon die Rede, dass sich der Ausländer bereits in der Vergangenheit entzogen hat (Nr. 1), dass er über seine Identität täuscht (Nr. 2), gesetzlich vorgeschriebene Mitwirkungshandlungen unterlassen hat (Nr. 3), sich hat unter hohen Kosten einschleusen lassen (Nr. 4) oder erklärt hat, sich entziehen zu wollen (Nr. 5). Hohe Schleuserkosten, so mutmaßt die Entwurfsbegründung(S. 40), wolle der Ausländer doch nicht vergeblich getätigt haben. Hieraus wie auch aus einem früheren Untertauchen (Nr. 1) oder einer früheren Mitwirkungsverweigerung (Nr. 3) wird quasi auf eine „Neigung“ geschlossen, sich der Abschiebung zu entziehen. Hinsichtlich der Identitätstäuschung weist die Entwurfsbegründung zwar darauf hin, dass diese im Zusammenhang mit einer bevorstehenden Abschiebung erfolgt sein muss. Schade ist aber, dass sich das im geplanten Gesetzeswortlaut nicht wiederfindet. Im Zusammenhang lesen sich die Nrn. 1 bis 4 vielmehr als eine Ansammlung von Beispielen für einen in der Vergangenheit gegenüber der Verwaltung geübten Ungehorsam. Dazu passt dann auch die Ankündigung, sich der Abschiebung entziehen zu wollen. Eine solche wirkt sich allerdings eher nachteilig auf die tatsächlichen Chancen aus, unterzutauchen. Auch die übrigen, in der Vergangenheit abgeschlossenen Handlungen – von der zeitnahen Identitätstäuschung einmal abgesehen – bereiten eine Flucht weder vor noch bieten sie einen tatsächlichen Hinweis darauf, aktuell einen diesbezüglichen Willen zu verfolgen. Das sind also keine konkreten Anhaltspunkte für Fluchtgefahr, sondern z. T. beliebig weit in der Vergangenheit liegende Verhaltensweisen ohne Bezug zur etwaigen Abschiebung.
Überstellungshaft in Dublin-Fällen
Fragt man sich nun, warum diese vermeintlichen Anhaltspunkte für Fluchtgefahr nicht in einen weiteren Absatz von § 62 AufenthG, sondern in den allgemeinen Begriffsbestimmungen geregelt werden sollen, so liefert der ebenfalls neue § 2 XV AufenthG-E die Antwort. Diesem zufolge gelten die Anhaltspunkte des Abs. 14 entsprechend für die Annahme einer Fluchtgefahr nach Art. 2 lit. n der Dublin-III-Verordnung. Diese verlangt „das Vorliegen von Gründen im Einzelfall, die auf objektiven gesetzlich festgelegten Kriterien beruhen und zu der Annahme Anlass geben, dass sich ein Antragsteller […] durch Flucht entziehen will“. Der Gesetzgeber hat die europarechtliche Notwendigkeit, Verdachtskriterien gesetzlich normieren zu müssen, zum Anlass genommen, diese in § 2 XIV AufenthG-E sowohl für Abschiebungshaft nach § 62 III AufenthG als auch über § 2 XV AufenthG-E für die Überstellungshaft in Dublin-Fällen zu normieren.
Allerdings ergeben sich feine, aber doch zu beachtende Unterschiede. § 62 III 1 Nr. 5 AufenthG-E lässt „Fluchtgefahr“ ausreichen und verweist auf die Kriterien des § 2 XIV AufenthG-E. Art. 28 II der Dublin-III-Verordnung verlangt hingegen eine „erhebliche Fluchtgefahr“. Da „einfache“ Fluchtgefahr nach § 2 Abs. XV AufenthG-E mit den Kriterien des § 2 XIV AufenthG-E beschrieben wird, stellt sich nun die Frage, unter welchen Voraussetzungen diese Gefahr „erheblich“ ist. Eine einfache Fluchtgefahr, wie sie für die Abschiebungshaft in § 62 IIII AufenthG-E ausreicht, genügt jedenfalls für Dublin-Fälle nicht. Da der Katalog des § 2 XIV AufenthG-E überwiegend keine überzeugenden objektiven Kriterien beinhaltet, um Fluchtgefahr annehmen zu können, ist es zudem zweifelhaft, ob dieser Katalog den Anforderungen der Dublin-III-Verordnung genügt.
Problempunkt Richtervorbehalt
Freiheitsentziehungen müssen in Deutschland nach Art. 104 II GG von einem Richter angeordnet werden. Art. 28 II der Dublin-III-Verordnung enthält zwar eine Ermächtigungsgrundlage für die Abschiebungshaft. Die Verordnung schweigt aber zu der Frage, wer diese anordnet. § 2 XV AufenthG-E erklärt zwar die Verfahrensvorschriften des FamFG für entsprechend anwendbar. § 1 FamFG verlangt aber ebenfalls, dass ein Bundesgesetz eine Zuweisung an die Gerichte vorgenommen haben muss. Im AufenthG sucht man vergeblich nach einer Norm, die diese Entscheidung dem Richter vorbehält. Sucht man weiter, so wird man über Art. 28 IV der Dublin-III-Verordnung auf die Verfahrensgarantien der Aufnahmerichtlinie verwiesen. Dort findet sich in Art. 9 II die Vorgabe, dass Haft „von einer Justiz- oder Verwaltungsbehörde schriftlich angeordnet“ werden muss. Art. 9 III der Aufnahmerichtlinie verlangt zudem dann, wenn eine Verwaltungsbehörde die Haftentscheidung getroffen hat, dass „von Amtswegen und/oder auf Antrag“ ein Gericht die Rechtmäßigkeit der Entscheidung zügig überprüft. Eine nachträgliche Überprüfung auf Antrag ist aber etwas anderes als eine richterliche Anordnung. Der Gesetzentwurf geht mit keinem Wort auf diese verworrene Verweisungskette oder das Problem des Richtervorbehalts ein. Eine widerspruchsfreie und für die Rechtspraxis handhabbare Regel sieht anders aus.
Fazit
Abschiebungshaft soll bei Fluchtgefahr, Überstellungshaft in Dublin-III-Fällen aber nur bei erheblicher Fluchtgefahr möglich sein. Die vermeintlichen konkreten Anhaltspunkte für das Vorliegen von Fluchtgefahr haben mit dieser unmittelbar nur wenig zu tun. Der Gesetzgeber droht, sich zu verzetteln.
Dabei liegen die drängenden Fragen doch an ganz anderer Stelle. Über denkbare Alternativen zur Abschiebungshaft wurde nicht nachgedacht. Und das, obwohl die Abschiebungshaft mit hohen Kosten verbunden ist, während die Fallzahlen deutschlandweit drastisch gesunken sind. Mitte 2014 befanden sich zumindest zeitweilig nach Medienberichten unter 100 Personen in Abschiebungshaft. Höchste Zeit also, ernsthaft über die Verabschiedung der Abschiebungshaft nachzudenken, anstatt sich in sinnlosen Detailregelungen zu verzetteln! Höchste Zeit, das Abschiebungsrecht grundlegend zu reformieren! Das wäre politisch mutig, ist aber nötig.
Dieser Beitrag ist Teil der Schwerpunktwoche „Bleiberecht und Aufenthaltsbeendigung“.