Seniorinnen gegen den Klimawandel? – Über einen neuen Umgang des EGMR mit Klimaklagen

von ARNE STORZER

Wir sind zuversichtlich, dass wir mit diesem Fall Geschichte schreiben […] könnenkommentierte Anne Mahrer, Co-Präsidentin des klagenden Vereins, den Prozessbeginn der Klimaklage vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR). Wer vor Gericht Geschichte schreiben will, muss dazu befugt sein. Zwischen epochalem Geschichteschreiben und nüchterner Klageabweisung herrscht daher ein schmaler – prozessrechtlicher – Grat. Der Beitrag geht auf das geltende Korsett der Beschwerdebefugnis in der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) ein und wie daraus möglicherweise ausgebrochen werden könnte.

Der Status quo der Beschwerdebefugnis

Die Klimaseniorinnen, Mitglieder des gleichnamigen Schweizer Vereins, legten die Individualbeschwerde vor dem EGMR gemäß Art. 34 EMRK ein. Diese ist erst nach Erschöpfung aller innerstaatlichen Rechtsbehelfe zulässig (Art. 35 Abs. 1 EMRK). Durch das abweisende Urteil des Schweizer Bundesgericht vom 5. Mai 2020 war der innerstaatliche Rechtsweg erschöpft. Um nun vor dem EGMR beschwerdebefugt zu sein, müssen die Klimaseniorinnen eine Verletzung eines in der Konvention oder den Protokollen anerkannten Rechts behaupten. Die Klimaseniorinnen sehen sich durch unzureichenden Klimaschutz der Schweiz in ihren Rechten auf Leben (Art. 2 Abs. 1 EMRK) und Achtung des Privat- und Familienlebens (Art. 8 Abs. 1 EMRK) verletzt. Da in der englisch-, respektive französischsprachigen Fassung der Konvention die beschwerdeführende Partei „victim“ respektive „victime“ sein muss, verlangt der EGMR für die Beschwerdebefugnis eine Opferstellung. Opfer sind gemäß der Rechtsprechung des EGMR die Personen, die von der behaupteten Verletzung direkt oder indirekt betroffen sind. Direktes Opfer ist, wer unmittelbar betroffen ist. Hierfür wird ein ausreichender Zusammenhang zwischen den Beschwerdeführenden und der verletzenden Maßnahme verlangt (HK-EMRK/Meyer-Ladewig/Kulick, EMRK, Art. 34 Rn. 26). Indirekt betroffen können beispielsweise sein: nahe Angehörige eines verstorbenen mutmaßlichen Opfers. Für die Klimaseniorinnen kommt also die direkte, unmittelbare Opfereigenschaft in Betracht.

Der Opferbegriff kann anhand aktueller Umstände ausgelegt werden. Die Auslegung des Opferbegriffs ist nämlich im Lichte der Bedingungen der heutigen Gesellschaft zu entwickeln und ohne „exzessiven Formalismus“ zu handhaben (EGMR, Leitfaden, S. 12 Rn. 19). Dabei entscheidet der EGMR grundsätzlich unabhängig von den nationalen, rechtlichen Maßstäben. Das in Deutschland herrschende subjektiv-rechtliche Verständnis der Beschwerdebefugnis ist damit für den EGMR nicht maßgebend. Vielmehr berücksichtigt er die Ziele sowie die Wirksamkeit der Garantien aus der Konvention (EGMR, 34491/97, Rn. 83). Gerade die Individualbeschwerde will die Effektivität des Konventionssystems garantieren und fungiert daher als „Schlüsselkomponente“ des Menschenrechtsschutzes (EGMR, 46827/99 und 46961/99, Rn. 100, 122). Durch diese Gedankenbrille geschaut, sperrt sich das Klagesystem vor einer zu restriktiven Handhabe der Beschwerdebefugnis.

Individualität für Beschwerdebefugnis entscheidend

Dennoch soll die Beschwerdebefugnis die Anzahl der Individualbeschwerden begrenzen. So entschied der EGMR, dass das System der Individualbeschwerde aus Art. 34 EMRK eine actio popularis ausschließt (EGMR, 22277/93, Rn. 52). Individualklagende sollen Individualinteressen geltend machen. Allgemeininteressen sind im Rahmen der Staatenbeschwerde nach Art. 33 EMRK justiziabel. Ein Unterschied des Art. 34 EMRK zu den nationalen Rügebefugnissen, wie etwa aus § 90 Abs. 1 BVerfGG oder § 42 VwGO, ist allerdings, dass der Wortlaut auch nichtstaatliche Organisationen und Personengruppen erfasst. Diese auf den ersten Blick für den Schweizer Verein fruchtbare Passage, ist auf den zweiten Blick jedoch nicht geeignet, dem Verein Erfolg zu bringen. Der Leitfaden betont nachdrücklich, dass Organisationen und Gruppen nicht als Opfer im Sinne der Beschwerdebefugnis betrachtet werden, wenn sie zu dem einzigen Zweck gegründet sind, die Rechte der mutmaßlichen Opfer zu verteidigen (S. 16, Rn. 35). Der EGMR hat dahingehend entschieden, dass ein Verein zwar über Art. 34 EMRK das Recht auf ein faires Verfahren aus Art. 6 Abs. 1 EMRK hinsichtlich der Beteiligungsrechte an umweltrechtlichen Entscheidungsprozessen geltend machen kann (vgl. EGMR, 75218/01). Er kann indes nicht selbst eine Verletzung der anthropozentrischen Rechte, wie zum Beispiel aus Art. 8 EMRK, einklagen (vgl. EGMR, 29121/95).

Rechtsschutz nur bei gänzlicher Ungeeignetheit oder Untätigkeit

Über das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens aus Art. 8 EMRK wird bislang nur eine umweltschützende Teilgewährleistung begründet, die sich aber lediglich auf schwerwiegende Fälle von Umweltbeeinträchtigungen beschränkt (EGMR, 16798/90, Rn. 51).

Die EMRK verleiht im status quo nur ein ökologisches Existenzminimum (so auch Calliess, ZUR 2021, 323 (328)). Auch im Recht auf Leben aus Art. 2 Abs. 1 EMRK sind ökologische Schutzpflichten inhärent (EGMR, 15539/02 et al., Rn. 133). Klimaschützer:innen werden in Deutschland bei der Konnexität von Schutzpflichten und Klimaschutz regelmäßig enttäuscht. Denn in Deutschland aktiviert die Evidenzkontrolle die klimarelevanten Schutzpflichten aus dem Grundgesetz nur in Ausnahmefällen. Danach kommt der Staat seiner Schutzpflicht nicht nach, wenn er klima- oder umweltschützende Schutzvorkehrungen entweder überhaupt nicht trifft, wenn die getroffenen Regelungen und Maßnahmen offensichtlich ungeeignet oder völlig unzulänglich sind, oder wenn sie erheblich hinter dem Schutzziel zurückbleiben. Auf Ebene der EMRK könnte sich ein ähnliches Bild zeichnen. Beschert die Evidenzkontrolle in Deutschland schwerlich einklagbare Schutzpflichten, so sind es im Anwendungsbereich der EMRK derweilen die vertragsstaatlichen Autonomien, die den Rechtsschutz erschweren. Bisweilen vertritt der EGMR, dass ihm wegen der Komplexität der umweltrechtlichen Fragen nur eine subsidiäre Rolle zukomme und seine Überprüfungsbefugnis wegen der Ermessensspielräume der Vertragsstaaten zwangsläufig eingeschränkt sei (EGMR, 55723/00, Rn. 105; 18215/06; 30499/03, Rn. 141).

Die Schweizer Klimaseniorinnen müssen vor Gericht also nachweisen, dass die Wahrscheinlichkeit einer Rechtsverletzung wegen unzureichender staatlichen Schutzpflichten hinreichend groß ist. Im status quo der Rechtsprechung kann nur unter ganz außergewöhnlichen Umständen und unter Beibringung überzeugender Beweise die Gefahr einer künftigen Verletzung den Status eines Opfers gemäß Art. 34 EMRK begründen; bloße Vermutungen reichen nicht aus. Der Schutzstandard ist nach dem EGMR also regelmäßig nur dann unterschritten, wenn gar keine Maßnahmen ergriffen wurden und die Beschwerdeführenden dies substantiiert beweisen können. Ein Nachweis, dass die Schweiz im Klimaschutz gänzlich untätig gewesen ist, wird den Klimaseniorinnen voraussichtlich nicht gelingen.

Keine extraterritoriale Reichweite der EMRK

Wären diese eingefahrenen Strukturen nicht schon Hürden genug, lehnt der EGMR zuweilen die extraterritoriale Reichweite der EMRK ab. Der Gerichtshof hat zwar anerkannt, dass Handlungen von Vertragsstaaten, die außerhalb ihres Hoheitsgebiets Auswirkungen haben, ausnahmsweise als Ausübung ihrer Hoheitsgewalt i.S.d. Art. 1 EMRK gewertet werden können (EGMR, 52207/99, Rn. 67). Trotz unzähliger Ausnahmen des Territorialitätsprinzips ist aber noch keine Rechtsprechung hinsichtlich der extraterritorialen Verantwortung der Staaten im Bereich des Klimaschutzes ergangen. Auch wenn die Schweizer Klimaseniorinnen gegen unzureichenden Klimaschutz in der Schweiz Rechtsschutz begehren und damit der Klagegenstand grundsätzlich intraterritorial ist, schwingt die Frage beim Klimaschutz naturgemäß mit. Der EGMR könnte bereits in diesem Verfahren Präzedenzen für andere anhängige Klimaklagen schaffen.

Der Status quo post der Beschwerdebefugnis?

Der EGMR könnte sich mit der Resolution 48/13 des Menschenrechtsrats der Vereinigten Nationen (UNHRC) vom 8. Oktober 2021 behelfen. Dort wurde erstmalig das Recht auf eine sichere, saubere und nachhaltige Umwelt als Menschenrecht anerkannt. Der UNHRC erkannte das Recht in der Erkenntnis an, dass die Ausübung der Menschenrechte einschließlich des Rechts auf einen wirksamen Rechtsbehelf von entscheidender Bedeutung für den Schutz einer sauberen, gesunden und nachhaltigen Umwelt ist (UNHRC, A/HRC/RES/48/13, S. 2). Auch die UN-Generalversammlung erkannte Ende Juli 2022 die Resolution an. Allerdings ist die Resolution völkerrechtlich unverbindlich und fungiert als symbolische und politische Absichtserklärung. Dem kann der EGMR entgegenwirken. Der EGMR steht vor der Chance, aus dem prozessualen Formalismus auszubrechen und sich von der restriktiven Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshof (EuGH) im Klimaschutz deutlich abzugrenzen.

Durch das strikte Beharren auf der „Plaumann“-Formel wandelte der EuGH im sog. Peoples-Climate-Case die individuelle Betroffenheit zu einer exklusiven Betroffenheit. Klagende vor dem EuGH müssen nachweisen, wie sie sich von allen anderen vom Klimawandel betroffenen Personen individuell unterscheiden. Bei einem ubiquitären Problem, wie es der Klimawandel unfraglich ist, stellt dies eine nahezu unlösbare Aufgabe dar. Individualität durch Exklusivität im Rechtsschutz zu ersetzen, schlägt im Klimaschutz damit die falsche Entwicklungsrichtung ein. Der Rechtsschutz aus Art. 34 EMRK muss auch hier bestehen.

Ausblick

Es bleibt daher abzuwarten, wie der EGMR mit der Justiziabilität umgeht. Das Menschenrecht auf eine saubere und nachhaltige Umwelt lässt eine Fortentwicklung erwarten, da es andernfalls in seinem Schutzgehalt leerliefe. Der Druck auf den EGMR erhöht sich neben der ungebrochenen gesellschaftlichen Mobilisierung im Klimaschutz durch die internationalen Entwicklungen in Rechtsprechung und Gesetzgebung. Nicht nur der Erfolg nationaler Klimaklagen, sondern auch die Aktivitäten anderer Gerichtshöfe für Menschenrechte könnte den Gerichtshof zu mehr Justiziabilität im Klima- und Umweltschutz bewegen. So hatte bereits 2018 der Interamerikanische Gerichtshof für Menschenrechte ein „autonomes“ Recht auf eine gesunde Umwelt und die extraterritorialen Wirkungen der Amerikanischen Menschenrechtskonvention anerkannt. Schon im Jahr 1988 wurde dort in Art. 11 des Zusatzprotokolls ein Individualrecht auf eine gesunde Umwelt statuiert. Auch die Afrikanische Menschenrechtskonvention enthält in Art. 24 ein Recht auf eine Umwelt, die insgesamt zufriedenstellend und für die Entwicklung der Völker günstig ist.

Bislang wurden diesen Rechten in den anderen Völkerrechtsgemeinschaften zwar keine Justiziabilität zugeschrieben. Die Stellungnahme des Interamerikanischen Gerichtshof und die Resolution 48/13 könnten dies aber ändern. So obliegt es nun dem EGMR, durch eine weite prozessuale und extraterritoriale Handhabe das Umweltmenschenrecht mit global einheitlichem Schutzstandard im Bereich des extraterritorialen Umwelt- und Klimaschutzes zu füllen. Dies hätte zur Folge, dass dem Gemeinschaftsrecht und den Vertragsstaaten ein verbindlicher Rahmen gegeben werden könnte. Meistert die Klimaklage also durch einen mutigen und fortschrittlichen EGMR die prozessuale Hürde der Beschwerdebefugnis, könnte der Klimaschutz weitreichenden Erfolg erzielen.

 

Zitiervorschlag: Storzer, Arne, Seniorinnen gegen den Klimawandel? – Über einen neuen Umgang des EGMR mit Klimaklagen, JuWissBlog Nr. 12/2023 v. 04.04.2023, https://www.juwiss.de/12-2023/.

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Beschwerdebefugnis, EGMR, EMRK, Klimaklagen, Klimaschutz, Prozessrecht, Umweltschutz
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