Polens langer Weg zurück zum Rechtsstaat

Leitplanken nach EGMR, Urt. v. 23.11.2023, 50849/21 – Wałęsa v. Poland

von JULIAN JANSEN

Nach dem Regierungswechsel in Polen macht sich die neue Regierung um Donald Tusk an den Abbau von Rechtsstaatsdefiziten. Hierfür bestehen neben dem polnischen Recht weitere Wegmarker, welche besonders durch die europäische Einbindung Polens gesetzt werden. Dazu hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte zuletzt ein Piloturteilsverfahren (Urt. v. 23.11.2023, 50849/21 – Wałęsa v. Poland) eröffnet, das für dieses Ziel Maßstäbe enthält. Diese überzeugende und in der Rechtsprechungslinie gegenüber Polen fast zwangsläufige Entscheidung richtet sich nach einem Rundumschlag auf positive Veränderungen und zeigt damit einen Weg in die Zukunft auf – und kann damit auch im nationalen Clinch mit der nun oppositionellen PiS-Partei die Regierungsentscheidungen stärken.

Der Fall Wałęsa

Lech Wałęsa hat mit seinem Individualbeschwerdeverfahren die Rechtsstaatsdefizite in Polen erneut ans Tageslicht gebracht. Nach seiner ersten Präsidentschaft kandidierte der Friedensnobelpreisträger erneut für die Wahl 2000 und gab in diesem Zuge eine sogenannte Lustrationserklärung ab, mit der eine Zusammenarbeit mit staatlichen Sicherheitsdiensten in Zeiten des Kommunismus offengelegt werden muss (Rn. 9). Wałęsa verneinte eine solche Kollaboration, was im Nachhinein gerichtliche Bestätigung fand. Gleichwohl sah er sich mit dem öffentlichen Vorwurf der Kollaboration konfrontiert. Wałęsa gewann gegen diesen gerichtete Gerichtsverfahren. Und dennoch kam es zu einem Verfahren gegen das Urteil des Berufungsgerichts vom 24.03.2011, angeregt vom Generalstaatsanwalt Zbigniew Ziobro, der in Personalunion auch das Amt des Justizministers in der letzten PiS-Regierung bekleidete. Dieser außerordentliche Rechtsbehelf wurde 2017 geschaffen und an der Chamber of Extraordinary Review and Public Affairs of the Supreme Court (CERPA) angesiedelt. Die CERPA erfuhr dabei eine komplette Neubesetzung, und zwar durch den ebenfalls in der Zusammensetzung von der PiS geprägten National Council of the Judiciary (NCJ). 2021 entschied eben diese Kammer, dass das zugunsten Wałęsas ergangene Urteil von 2011 aufgehoben wird.

Eine „Justizreform“ und ein „Gericht“

Dieser Sachverhalt veranlasste das Straßburger Gericht, sich – erneut – mit der „so-called“ (Rn. 2) Justizreform von 2017 auseinanderzusetzen. Die Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK fußt auf mehrere Säulen.

Zunächst räumt der EGMR mit der CERPA in Anknüpfung an das bereits ergangene Urteil Dolińska-Ficek and Ozimek auf. Die Legitimität der Kammer leide aufgrund des irregulären Verfahrens der Richterbesetzung durch den NCJ und dessen politischer Beeinflussung so sehr, dass die gesamte Rechtsprechung der CERPA diesem Mangel unterliege. Dies führt nach den im Ástráðsson-Verfahren aufgestellten Kriterien zu dem Ergebnis, dass das Gericht diesen Namen im Konventionssinne nicht mehr verliehen bekommt – es sei vielmehr kein auf Gesetz beruhendes, unabhängiges und unparteiisches Gericht (Rn. 176).

Doch nicht nur der Spruchkörper selbst, auch die Wege dorthin sind mit voller Wucht politisiert: Der Generalstaatsanwalt – als Justizminister zugleich politisch, auch mit starkem Einfluss auf den NCJ, aktiv – stößt statistisch die meisten außerordentlichen Überprüfungen an. Die dafür ausreichenden Gründe sind vage und unbestimmt. Der Rechtsbehelf erwächst dadurch zu einem Mittel politischer Aufsicht über Gerichtsentscheidungen (Rn. 231). Dies eröffnet, wie auch der EMGR erkennt, Tür und Tor für Missbrauch (Rn. 232-235). Zeitlich dehnt sich die Zuständigkeit zudem im Extremfall auf Entscheidungen bis 1997 aus (Rn. 236 f.). Es fehlt den Gerichtsentscheidungen schlicht an Rechtskraft.

Diese allgemein wahrzunehmenden Defizite werden im Fall Wałęsas geradezu exemplarisch Realität. Das Verfahren ist gleichzusetzen mit einer gerichtlichen Durchsetzung einer politisch durch die PiS gebilligten Meinung (Rn. 254). Der ebenfalls gerügte Eingriff in Art. 8 EMRK ist schon allein deshalb nicht im Einklang mit dem Gesetz (Rn. 284-293). Eine dogmatische Beobachtung, die nun auch in einem weiteren Fall greift.

Der EGMR hat genug gesehen – und eröffnet das Pilotverfahren

Der EGMR statuiert ein generelles Strukturproblem innerhalb des polnischen Justizsystems (Rn. 239). Dieses wird dadurch vertieft, dass dieses „Gericht“ Teil eines Justizsystems ist, welches nach dem polnischen Verfassungsgericht (No. K 6/21 und 7/21) der EMRK die Befolgung versagt. Dies flankiert den bislang fehlenden Befolgungswillen der Regierung.

Auf die durch die systemischen Probleme des Justizsystems drohenden, weiteren Verstöße wies der EGMR nämlich bereits zuvor hin (Dolińska-Ficek and Ozimek), was in der Entscheidung Advance Pharma in generellen Richtlinien mündete. Schon hier zündete der EGMR in gewisser Weise die nächste Stufe und machte deutlich, dass zwar verschiedene Optionen offen stünden; es sei aber unausweichlich, dass weitere Aktivitäten des NCJ ohne Rechtsänderung zu weiteren potenziellen Verletzungen führten. Die polnische Regierung ließ Reaktionen darauf jedoch vermissen. Deshalb kommt es nun zum Höhepunkt: Die Kammer wendet das Piloturteilsverfahren an, Art. 46 EMRK, Art. 61 VerfO (Rn. 327). Demnach ist der beklagte Staat aufgerufen, die Verletzungen für die Zukunft durch allgemeine Maßnahmen möglichst schnell und effektiv zu beseitigen (Rn. 316, 318).

Dabei werden die Ziele und Maßnahmen ganz konkret adressiert. Der EGMR geht in der inhaltlichen Granularität mit dem Pilotverfahren über die bisherigen Hinweise hinaus. Die angeregten Punkte zielen auf die Behebung der systemischen Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK (Rn. 328-331). Die vielzähligen Individualbeschwerden addieren sich somit zu einem Gesamtbild und bekommen systemisches Gewicht. Der Gerichtshof versucht folglich, auf die Struktur des Justizsystems – in seiner Gesamtheit – einzuwirken.

Der EGMR setzt sich dabei in gewisser Weise von der Überwachungsrolle des Ministerkommitees nach Art. 46 Abs. 2 EMRK sowie der Freiheit des Konventionsstaates bei der Umsetzung ab. Mit dem Pilotverfahren trägt der EGMR aktiv zur legislativen Entwicklung in Polen bei. Denn die verschiedenen Vorstufen der Einwirkung haben ihrerseits keine Reaktion hervorgerufen. Polen hat, wie auch nach dem 23.11.2023 festgestellt, weiterhin die Umsetzung der EGMR-Rechtsprechung verweigert. Hier kündigt sich nun allerdings eine Abkehr von Polens Politik an, will die neue Regierung doch das EGMR-Urteil befolgen. Damit betritt sie das Feld der Korrektur der entstandenen Rechtsstaatsdefizite.

Letztlich ist diese Ankündigung jedoch erst das, was dem Pilotverfahren Aussicht auf Erfolg verspricht. Ohne den demokratisch legitimierten Regierungswechsel in Polen und den damit nun aufgekommenen politischen Willen, die rechtsstaatlichen Defizite anzugehen, stünde auch dieses Instrumentarium der Ignoranz der PiS-Regierung gegenüber. Die EGMR-Urteile blieben bislang weitgehend folgenlos. Dieses Schicksal teilen sie mit den supranationalen Rechtsstaatlichkeitsinstrumenten der EU.

Außer Frage steht, dass die Wiederherstellung der rule of law ihrerseits dieser entsprechen muss. Nun kann sie aber sogar von der Vielzahl von festgehaltenen Missständen profitieren: Auf jene Berichte und Entscheidungen europäischer Organe kann die Tusk-Regierung verweisen – und ihre Wiederherstellungsmühen damit jedenfalls legitimatorisch auf breitere Füße stellen. Die Bemühungen der EU können nun Hand-in-Hand gehen mit der Entscheidung des EGMR, ist doch die Auszahlung von EU-Geldern konditional an rechtsstaatliche Meilensteine geknüpft.

Europäische Leitplanken für Polens Weg zur Rechtsstaatlichkeit

Der EGMR urteilt damit – womöglich ganz bewusst – zu Beginn der Amtszeit Donald Tusks und zeigt der neuen Regierung aktiv Wege auf, systemische Schritte (zurück) zu einer Stärkung des Rechtsstaats zu gehen. Adäquate Maßnahmen in Reaktion auf die konkret ausgewiesenen Ziele des EGMR haben das Potenzial, zukünftige Verurteilungen zu verhindern. Damit steigen auch die Chancen, dass entsprechende Tranchen aus dem Wiederaufbaufonds der EU freigegeben werden. Die Tusk-Regierung zeigt den dafür nötigen politischen Willen, schnelle Erfolge in Richtung der Stärkung europäischer Werte zu vermelden. Die Einbindung in das institutionelle Europa kann ihr dabei helfen.

 

Zitiervorschlag: Jansen, Julian, Polens langer Weg zurück zum Rechtsstaat – Leitplanken nach EGMR, Urt. v. 23.11.2023, 50849/21 – Wałęsa v. Poland, JuWissBlog Nr. 5/2024 v. 23.01.2024, https://www.juwiss.de/5-2024/.

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Chamber of Extraordinary Review and Public Affairs of the Supreme Court (CERPA), EGMR, Piloturteilsverfahren, Polen, Rechtsstaatlichkeit
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