Ist Unabhängigkeit im Rahmen der Ermittlungspflicht der EMRK kompensierbar?

Was dagegensprechen könnte am Beispiel Hentschel und Stark gegen Deutschland

von Lilli Tautorus

Das Ziel der sich aus der EMRK ergebenden Ermittlungspflicht ist die Identifikation und Bestrafung der Verantwortlichen. Bei der Prüfung durch den EGMR, ob die Ermittlungen unabhängig, angemessen, unverzüglich, öffentlich überprüfbar und unter Einbeziehung des Opfers erfolgten, kann nach der Ansicht des EGMR das Scheitern einer der Voraussetzungen grundsätzlich durch andere Ermittlungsmaßnahmen ausgeglichen werden. Der vorliegende Beitrag setzt sich mit der Frage auseinander, welche Auswirkungen die oben genannte Handhabung auf das Erfordernis der Unabhängigkeit hat und ob diesbezüglich ein abweichendes Vorgehen wünschenswert wäre.

Die Anwendung der Unabhängigkeit als gleichwertig

Zur Präzisierung der Verfahrenspflicht aus Art. 2 und 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte fünf Grundsätze (s. S. 3) entwickelt. Danach hat eine Ermittlung im Falle einer vermuteten Menschenrechtsverletzung unabhängig, angemessen, unverzüglich, öffentlich überprüfbar und unter hinreichender Einbeziehung des Opfers stattzufinden. Zur Erreichung des Ziels, die Verantwortlichen zu identifizieren und bestrafen zu können, stehen diese fünf Voraussetzungen gleichwertig nebeneinander und können sich gegebenenfalls gegenseitig ersetzen. Das heißt, dass wenn eine der Voraussetzungen nicht (hinreichend) erfüllt ist, dieser Mangel durch höhere Anstrengung in einem anderen Bereich ausgeglichen werden kann (vgl. Rz. 98 f.). Dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte geht es letztlich darum, die konkrete Ermittlung insgesamt als effektiv oder ineffektiv werten zu können.

Hinsichtlich der Voraussetzung der Unabhängigkeit stellt sich jedoch die Frage, ob diese tatsächlich als gleichwertig und somit ersetzbar angesehen werden sollte. In der Entscheidung des EGMR vom 9. November 2017 in der Sache Hentschel und Stark gegen Deutschland, 47274/15, wurde die Unabhängigkeit der Ermittlungen unter fragwürdigen Umständen angenommen. Siehe hierzu auch ausführlich die beigefügte Meinung des Richters Hüseynov (s. ganz am Ende).

In dem Fall ging es darum, dass zwei Fußballfans eine Beschwerde zum EGMR eingereicht hatten, die sich auf den Vorwurf unverhältnismäßiger Polizeigewalt im Zusammenhang mit einem Fußballspiel am 9. Dezember 2007 in München bezog. Die zwei Beschwerdeführer beschwerten sich unter anderem darüber, dass ihrer Ansicht nach die Ermittlungen gegen die betroffene Münchner Polizeieinheit nicht hinreichend unabhängig erfolgten. Ermittelt wurde durch eine Einheit der Münchner Polizei, die darauf spezialisiert ist Vorwürfen gegen Beamte nachzugehen (s. unter anderem: LTO, Süddeutsche Zeitung auch hier, TAZ, TZ und AZ, etc.).

Der Begriff der Unabhängigkeit wird nach der Rechtsprechung des EGMR so definiert: „for an investigation to be effective, the institutions and persons responsible for carrying it [the investigation] out must be independent from those targeted by it. This means not only a lack of any hierarchical or institutional connection but also practical independence” (s. Rz. 79). Zur Begründung der Unabhängigkeit im vorliegenden Fall führte der EGMR lediglich aus:

Dass das Gericht zwar feststellen konnte, dass die Ermittlungen nicht von einer separaten Polizeieinheit ausgeführt wurden, jedoch von einer Münchner Polizeieinheit, die auf Ermittlungen gegen Beamte spezialisiert war und unter der Kontrolle der Staatsanwaltschaft stand. Auch stellte das Gericht fest, dass die Beamt:innen der Ermittlungseinheit und der betroffenen Einheit keine direkten Kolleg:innen waren, da die einzigen Verbindungen der Einheiten darin bestanden, dass Sie den selben Vorgesetzten hatten und zur Münchner Polizei gehörten. Zwar erachtet der Gerichtshof es als Wünschenswert, wenn Ermittlungen gegen Polizist:innen von einer freistehenden und unabhängigen Einheit ausgeführt werden, sieht im vorliegenden Fall aber keine hinreichende hierarchische, institutionelle oder praktische Verbindung zwischen den Einheiten, die die Ermittlungen insgesamt als unglaubwürdig oder ineffektiv erscheinen ließen (s. Rz. 85 und hier).

Eine Verletzung der Verfahrenspflicht wurde letztlich bezüglich mangelnder Kennzeichnung der am Vorfall beteiligten Polizist:innen festgestellt (s. Rz. 99 und hier). Betrachtet man die Feststellungen des EGMR hinsichtlich der Angemessenheit der Ermittlungen insgesamt (vgl. Rz. 84-99), erwecken diese den Anschein, dass durch die Verletzung der Verfahrenspflicht aufgrund mangelnder Kennzeichnung die Ansprüche an die Unabhängigkeit der für die Ermittlung zuständigen Polizeieinheit in den Hintergrund getreten sind.

Die Wirkungen dieser Handhabung

Nach der bisherigen Anwendung der Kriterien als gleichwertig, ist an diesem Ergebnis somit nichts auszusetzen. Durch die Gesamtbetrachtung der konkreten Ermittlungen konnte von Seiten des EGMR eine Feststellung über die Effektivität der Ermittlungen getroffen werden.

Überlegt man sich jedoch die Wirkungen, die von einer solchen Gesamtbetrachtung ausgehen, stellt sich die Frage, ob das Erfordernis der Unabhängigkeit tatsächlich als gleichwertig gegenüber den restlichen Anforderungen angesehen werden kann.

Urteile des EGMR sind für die Vertragspartei bindend (vgl. Art. 46 EMRK), dienen der Auslegung der EMRK und haben dadurch Wirkung über den Einzelfall hinaus.

Nimmt man jetzt, wie im vorliegenden Fall die Unabhängigkeit vorschnell an, weil anderweitig eine Verletzung der Verfahrenspflicht offensichtlicher erscheint, wird Deutschland dadurch attestiert, dass die erfolgten Ermittlungen einen hinreichenden Grad an Unabhängigkeit aufwiesen. Das heißt vorliegend, wenn eine Münchner Polizeieinheit gegen eine andere Münchner Polizeieinheit ermittelt, besteht, nach dem Urteil des EGMR, zwischen den Ermittler:innen und den von der Ermittlung betroffenen Polizist:innen weder eine institutionelle noch eine hierarchische Verbindung und das sowohl theoretisch wie auch praktisch (s. Definition auf S. 3).

Diese Feststellung ist insofern problematisch, als die Unabhängigkeit im Vergleich zu den restlichen vier Grundsätzen das einzige Merkmal ist, das auf die Beschaffenheit einer für Ermittlungen zuständigen Institution Bezug nimmt. Die Beschaffenheit einer Institution ist Garant für die Einhaltung der ihrer Arbeit zugrunde gelegten Grundsätze, namentlich die Angemessenheit, Unverzüglichkeit, öffentliche Zugänglichkeit und Einbeziehung des Opfers.

Betrachtet man nun den Weg, der bis zur Zulässigkeit einer Beschwerde vor dem EGMR, beschritten werden muss (vgl. Art. 35 EMRK), wird klar, dass nur ein Bruchteil der Fälle, in denen es um die Verletzung von Art. 2 und 3 der EMRK und der sich daraus ergebenden Ermittlungspflicht geht, dem EGMR zur Entscheidung vorgelegt werden. Daher ist es umso wichtiger, dass die Beschaffenheit der ermittelnden Institution separat und nicht kompensierbar festgestellt wird, um somit auch eine rein innerstaatliche unabhängige Ermittlung in der Zukunft zu garantieren.

Fazit

Grundsätzlich ist an der Handhabung der Voraussetzungen der Ermittlungspflicht durch den EGMR im jeweiligen Einzelfall nichts auszusetzen. Die durch den EGMR angestrebte Feststellung wird erreicht. Betrachtet man jedoch die sich daraus ergebenden Wirkungen, sollte hinsichtlich der Unabhängigkeit als Garant für die restlichen Voraussetzungen darüber nachgedacht werden, ob bezüglich deren Prüfung eine Ausnahme von der eigentlichen Handhabung angebracht wäre. Wünschenswert wäre, dass dem Erfordernis der Unabhängigkeit als Voraussetzung eine Sonderstellung zukommt, deren Nichterfüllung nicht kompensierbar ist.

Zitiervorschlag: Lilli Tautorus, Ist Unabhängigkeit im Rahmen der Ermittlungspflicht der EMRK kompensierbar?, JuWissBlog Nr. 84/2021 v. 4.9.2021, https://www.juwiss.de/84-2021/

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EGMR, EMRK, Ermittlungspflicht, JuWiss, Lilli Tautorus, Menschenrecht, Unabhängigkeit
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