von IRENE GROHSMANN
Sowohl gemäss der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) als auch gestützt auf die Schweizerische Bundesverfassung dürfen Frau und Mann nicht aufgrund traditioneller Rollenverteilungen und Geschlechterstereotypen unterschiedlich behandelt werden. Trotzdem haben in der Schweiz nach der Geburt eines Kindes nur Frauen einen Anspruch auf Mutterschaftsurlaub; Vaterschaftsurlaub gibt es nicht. Diese Regelung ist vor dem Hintergrund des gesellschaftlichen und rechtlichen Wandels in Europa und der Schweiz nicht mehr tragbar.
Aktuelle Regelung basiert auf überkommener traditioneller Rollenverteilung
Anders als in mehr als der Hälfte aller Europaratsstaaten steht Vätern in der Schweiz nach der Geburt ihres Kindes kein gesetzlich geregelter Vaterschaftsurlaub zur Verfügung. Vielmehr dürfen Väter zur Geburt ihres Kindes bloss einen bis zwei „übliche freie Tage“ nach Art. 329 Abs. 3 Obligationenrecht beziehen, welche allen Arbeitnehmenden zur Erledigung von persönlichen Angelegenheiten oder bei Familienereignissen (z.B. Umzug, Hochzeit, Beerdigung) zustehen.
Zur Kinderbetreuung nach dieser kurzen Zeit sieht die schweizerische Rechtsordnung nur noch die Mutter vor und geht erstens davon aus, dass diese das Kind ab dem dritten Tag hauptsächlich alleine betreuen und eine soziale Bindung mit dem Kind aufbauen soll und zweitens, dass der Vater kein vergleichbares Interesse hat.
Diese Einschätzung beruht auf einer traditionellen Rollenverteilung zwischen Frau und Mann, welche die Frau als Kinderbetreuerin und den Mann als Ernährer der Familie sieht; diese Rollenteilung ist heute aber überholt (siehe diese und diese Umfrage und Positionspapier Arbeitnehmenden-Dachverband).
Der EGMR, ein russischer Soldat und Geschlechterstereotypen
Der EGMR hat 2012 mit Leiturteil im Falle eines russischen Soldaten, dem der Bezug von Vaterschaftsurlaub verweigert wurde (Markin gegen Russland), festgehalten, dass Regelungen, welche eine unterschiedliche Behandlung von Frauen und Männer zur Folge haben, nicht auf Geschlechterstereotypen basieren dürfen. Staaten, die einen Urlaub zur Betreuung von Kindern vorsehen, müssen diesen beiden Eltern unter den gleichen Voraussetzungen gewähren und sind damit in ihrem Ermessen nicht mehr so frei wie noch in den 1990-er Jahren.
1998 hatte der EGMR im Fall Petrovic gegen Österreich die Klage eines Vater auf Bezug von nur Frauen zustehendem „Karenzurlaubsgeld“ noch abgewiesen und befunden, dass kein den Ermessensspielraum Österreichs einschränkender europäischer Konsens bestehe, da in einer Mehrzahl der Europaratsstaaten der Bezug von bezahltem Elternurlaub für Väter nicht vorgesehen war. Seither haben sich die sozialen Gegebenheiten und mit ihr die Rechtsordnungen der Mehrheit der europäischen Staaten jedoch gewandelt. Die meisten Europaratsstaaten gewähren heute sowohl Frauen als auch Männern den Bezug von Elternurlaub, während Staaten, die Elternurlaub nur für Frauen vorsehen, in der Minderheit sind.
Im Markin-Entscheid hielt der Gerichtshof nun fest, dass sich Männer und Frauen im Zusammenhang mit Elternurlaub in vergleichbaren Situationen befinden. Es muss unterschieden werden zwischen der Zeit nach der Geburt, welche die Frau biologisch bedingt zur Erholung von den Strapazen der Geburt benötigt, und der Zeit, welche beiden Elternteilen zur Pflege und Herstellung einer persönlichen Beziehung mit dem Kind dient. In dieser zweiten Phase kann der auf dem Geschlecht basierende Ausschluss der Väter nicht mehr mit biologischen Gründen gerechtfertigt werden, sondern bedarf objektiver und vernünftiger Gründe. Diese können in geschlechterstereotyper Rollenaufteilung eben nicht erblickt werden (Markin gegen Russland, § 131/132).
Zulässigkeit geschlechtsbezogener Regelungen in der Schweiz
Wie die Europäische Menschenrechtskonvention kennt auch die Schweizerische Bundesverfassung (BV) ein Verbot der Diskriminierung aufgrund des Geschlechts (Art. 8 Abs. 2 BV). Ausserdem verpflichtet Art. 8 Abs. 3 BV alle staatlichen Behörden, Mann und Frau gleichberechtigt zu behandeln und neben der rechtlichen auch für die soziale Gleichstellung der Geschlechter zu sorgen. Gemäss bundesgerichtlicher Rechtsprechung müssen Frau und Mann in allen Bereichen gleich behandelt werden, ohne Rücksicht auf gesellschaftliche Verhältnisse und Vorstellungen (BGE 129 I 265 „Familienzulagen Fribourg“). Geschlechtsbezogene Regelungen sind nur im absoluten Ausnahmefall erlaubt, wenn zwingende biologische Unterschiede keine andere Wahl lassen. Traditionelle Geschlechterrollen und Geschlechterstereotypen alleine können eine ungleiche Behandlung von Frau und Mann nicht rechtfertigen.
Schliesslich verpflichtet auch Art. 5 CEDAW die Schweiz als Vertragsstaat, geeignete Massnahmen zur Beseitigung von stereotypen Rollenverteilungen zu treffen (mehr zu CEDAW und der Schweiz siehe CEDAW-Leitfaden für die Praxis).
Die zwei Phasen des Mutterschaftsurlaubs
Gemäss Art. 16 ff. Erwerbsersatzgesetz haben Frauen unmittelbar nach der Geburt ihres Kindes einen Anspruch auf Urlaub von 14 Wochen, um sich erholen zu können und um eine Bindung mit dem Kind aufzubauen. Die ersten acht Wochen,während sich die schwangerschafts- und geburtsbedingten Veränderungen des weiblichen Körpers zurückbilden (Stichwort Wochenbett), werden aus zwingenden biologischen Gründen gewährt und die sog „Wöchnerinnen“ unterstehen einem gesetzlichen Arbeitsverbot (Art. 35a Abs. 3 Arbeitsgesetz). Die übrigen sechs Wochen dienen dem Aufbau einer sozialen Bindung mit dem Neugeborenen sowie der Organisation des Familienalltags. Allerdings kann die Mutter auf diese sechs Wochen Mutterschaftsurlaub auch verzichten und ihre Erwerbstätigkeit wieder aufnehmen, verliert dann aber ihren Entschädigungsanspruch (Art. 35a Abs. 3 Arbeitsgesetz und Art. 16d Erwerbsersatzgesetz).
Und der Vater?
Dass es nun zwischen der 9. und 14. Woche alleine Sache der Frau sein soll, sich um das Kind zu kümmern, beruht nicht auf biologischen Gründen, sondern auf traditionellen gesellschaftlichen Vorstellungen der Aufgaben von Frauen und Männern in der Familie und verkennt die Rolle des Vaters. Auch der Vater muss eine soziale Beziehung zu seinem Kind aufbauenund sich bei der Organisation des Familienalltags engagieren können. Dies ist nicht nur ein Wunschanliegen der sog. „neuen Väter“, sondern ein rechtlich gestütztes Interesse, sieht doch das Schweizerische Zivilgesetzbuch (ZGB) ein partnerschaftliches Verhältnis der Eltern vor und differenziert nicht zwischen den Rechten der Mütter und Väter (Art. 270 ff. ZGB). Die heutige Regelung stellt daher eine Geschlechterdiskriminierung der Väter dar. Aber nicht nur.
Denn es drängt sich ausserdem die Frage auf, ob der Zweck der ersten acht Wochen des Mutterschaftsurlaubs, nämlich die Erholung und Regeneration der Mutter, ohne die Hilfe des Vaters erreicht werden kann. Da biologisch bedingt die Frauen die Schwangerschaft und die Geburt übernehmen, benötigen Männer nach der Geburt keine Erholungszeit. Soll sich jedoch die Frau von der Geburt erholen können, benötigt sie zwingend Hilfe. Es sollte ausser Frage stehen, dass der Vater des Kindes diese Hilfe leisten muss, schulden sich Vater, Mutter und Kind doch gegenseitigen Beistand (Art. 273 ZGB). Dazu brauchen Väter die Möglichkeit, vom Arbeitsplatz abwesend zu sein. Darüber verfügen aktuell jedoch nur Väter, welche sich dies finanziell leisten können.
Auswirkungen auf die Organisation des Familienlebens
Wie der EGMR zutreffend feststellte (Markin gegen Russland, § 141-143), hat die Gewährung oder Verweigerung von Urlaub nach der Geburt eines Kindes auch Einfluss auf die aktuelle und zukünftige Organisation des Familienlebens. Hier ist ein zentraler Ansatzpunkt zur Verwirklichung der Geschlechtergleichstellung in Familie und Beruf auszumachen; Regelungen, welche diese Organisation in das Korsett traditioneller Rollenaufteilungen zwängen, dürfen nicht mehr zulässig sein. Jedoch werden Frauen zurzeit rechtlich und tatsächlich dazu gezwungen, sich hauptsächlich um die familiären Angelegenheiten zu kümmern, da sich in den Wochen des Mutterschaftsurlaubs bereits die Zuständigkeiten einpendeln. Aufgrund der starren Ordnung der Arbeitswelt lassen sich diese Zuständigkeiten im Nachhinein nicht mehr oder nur schwer ändern. Während Frauen damit stets in die Rolle der Familienbetreuerin gedrängt werden, werden Väter aus dieser Rolle herausgedrängt und damit die traditionelle Rollenaufteilung perpetuiert.
Neuordnung der traditionellen Rollenverteilung
Studien (siehe z.B. ILO Maternity and Paternity at Work und Erin Rehel, When dad stays home too) gehen davon aus, dass ein Zusammenhang besteht zwischen Vaterschaftsurlaub, der Übernahme von Familienarbeit durch Männer und der Entwicklung eines Kindes. Väter, welche unmittelbar nach der Geburt ihres Kindes, insbesondere während zwei oder mehr Wochen, eine berufliche Auszeit nehmen, sind auch später mehr in das Leben ihrer Kinder involviert. Dies kann insbesondere positive Auswirkungen auf die Geschlechtergleichstellung zu Hause, auf die Geschlechtergleichstellung im Erwerbsleben und damit auch positive Auswirkungen für Mütter haben. Zudem leistet Vaterschaftsurlaub einen Beitrag zur besseren Vereinbarkeit von Familie und Beruf für Väter und Mütter (siehe Bericht des Bundesrates).
Ein gesetzlich verankerter, bezahlter Vaterschaftsurlaub würde Vätern nicht nur einen allgemein anerkannten und gesellschaftlich akzeptierten Anspruch auf Achtung ihrer familiären Interessen geben, sondern trüge auch zu einer egalitären Aufteilung der Familien- und Hausarbeit und damit zum von der Rechtsordnung angestrebten Abbau der geschlechterstereotypen Rollenverteilung bei.
Dieser Kurzbeitrag basiert auf dem in www.sui-generis.ch erschienenen Aufsatz „Vaterschaftsurlaub, what else? – Zum Schweizerischen Reformbedarf im Lichte der Markin-Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte“. Dort erschienen am 31. August 2014.