„Dignity for all“ – Warum sich der EGMR zumindest den Fall Ladele noch einmal vornehmen sollte

von CHRISTOPH GOOS

OLYMPUS DIGITAL CAMERADie Entscheidung war nicht nur im Vereinigten Königreich mit Spannung erwartet worden: Vier gläubige Christinnen und Christen hatten wegen des Tragens von Kreuzen oder ihrer Weigerung, gleichgeschlechtliche Paare zu verpartnern bzw. zu beraten, ihren Arbeitsplatz verloren. Nur die Check-in-Mitarbeiterin Nadia Eweida hatte schon nach wenigen Monaten auf ihren alten Arbeitsplatz zurückkehren können, nachdem sich sogar der damalige Premierminister Tony Blair für sie eingesetzt hatte. Und ausgerechnet ihr bescheinigte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte nun, das Vereinigte Königreich habe ihre Religionsfreiheit unzureichend geschützt: 2.000 € Entschädigung, 30.000 € Verfahrenskosten. Die anderen drei gingen leer aus.

Grundrechtsdogmatik light

Zwei der Beschwerdeführer waren bei privaten, zwei bei öffentlichen Arbeitgebern beschäftigt gewesen. Das machte, wie der Gerichtshof vorab anmerkt, rechtlich keinen nennenswerten Unterschied: Entscheidend bei der Prüfung „positiver“ wie „negativer“ Verpflichtungen aus der EMRK ist letzten Endes immer, ob auf mitgliedsstaatlicher Ebene ein gerechter Ausgleich der widerstreitenden Interessen gefunden wurde oder nicht. Und bei der Findung dieses Ausgleichs ist den Mitgliedsstaaten ein gewisser Beurteilungsspielraum zuzubilligen. So einfach kann man es machen.

Kreuze stören doch nicht beim Einchecken

Warum der Gerichtshof aber nur und ausgerechnet im Fall Eweida zum Ergebnis kam, dass dieser Beurteilungsspielraum überschritten sei, ist nicht nachvollziehbar. Die koptische Christin hatte den Dresscode der Fluggesellschaft British Airways lange Zeit respektiert. Dann aber begann sie von einem Tag auf den anderen, ihre Halskette mit Kreuzanhänger im Dienst offen zu tragen, um ihren christlichen Glauben zu bezeugen. Abmahnungen fruchteten nichts, den Ausgang eines firmeninternen Klärungsverfahrens abzuwarten hielt Frau Eweida nicht für nötig, eine ihr angebotene gleich bezahlte Verwaltungstätigkeit schlug sie aus. Frau Eweida wurde daraufhin unbezahlt vom Dienst freigestellt, konnte aber kein halbes Jahr später wieder – mit Kreuz – an ihren alten Arbeitsplatz zurückkehren, was sie nicht davon abhielt, die Fluggesellschaft erfolglos wegen Diskrimierung zu verklagen.

Dass die Einschätzung des EGMR, die britischen Gerichte hätten dem Interesse der Fluggesellschaft an einem bestimmten Firmenimage zu viel Gewicht beigemessen, den Umständen des Einzelfalles nicht gerecht wird, rügen die Richter Nicolas Bratza und Davíd Thór Björgvinsson in ihrem Sondervotum mit Recht. Mehr als die von BA geübte Rücksichtnahme auf zwingende religiöse Bedürfnisse der Angestellten müssen die Mitgliedsstaaten von privaten Arbeitgebern nicht verlangen – ob sie mehr verlangen können, ist eine andere Frage. Und auch von gläubigen Angestellten wie Frau Eweida darf ein Mindestmaß an Rücksicht verlangt werden.

Nicht ohne meine Kette

Auch die NHS-Krankenschwester Shirley Chaplin zeigte sich wenig kompromissbereit. Irritierend ist vor allem, dass sie sogar das Angebot ausschlug, ihr Kreuz am Band ihres Namensschildes oder – permanent sichtbar – als Anstecker an der Dienstkleidung zu tragen. Ihr ging es offenbar darum, nicht irgendein Kreuz irgendwie, sondern genau die Kette mit Kreuzanhänger, die sie seit ihrer Konfirmation im Jahr 1971 um den Hals trug, zu tragen – und zwar sichtbar. Zu riskant wegen der Verletzungs- und Infektionsgefahr, blieben die zuständigen Stellen hart, und die offenbar sehr tüchtige Krankenschwester wurde auf eine befristete Stelle außerhalb des pflegerischen Bereichs versetzt, die dann irgendwann auslief.

Die britischen Arbeitsgerichte konnten darin weder eine direkte noch eine indirekte Diskriminierung erkennen. Dagegen lässt sich kaum etwas einwenden, und dagegen hatte auch der EGMR nichts einzuwenden: Die Minimierung von Gesundheits- und Sicherheitsrisiken ist ein gewichtiges Ziel, und bei der Bewertung solcher Risiken ist den mitgliedsstaatlichen Stellen ein großzügiger Beurteilungsspielraum einzuräumen: Wie riskant eine bestimmte Halskette mit Kreuz im täglichen Umgang mit Demenzkranken ist, wissen die Verantwortlichen einer Klinik allemal besser als Gerichte und ganz gewiss besser als internationale Gerichte, die nicht unmittelbar Beweis erheben.

Eine Standesbeamtin für alle Fälle

Viel heikler ist der Fall Lillian Ladele, vor dem Gerichtshof auch in der öffentlichen Anhörung am 4. September 2012 durch „star at the bar“ Dinah Rose QC und den renommierten Antidiskriminierungsspezialisten Chris McCrudden FBA bestens vertreten. Frau Ladele teilt die Ansicht vieler Christen, dass Ehe nur die lebenslange Gemeinschaft von Mann und Frau ist und dass gleichgeschlechtliche Lebensgemeinschaften gegen Gottes Wort und Gebot verstoßen. Deshalb setzte sie sich zur Wehr, als ihr nach Inkrafttreten des Civil Partnership Act 2004 wie allen Standesbeamtinnen des London Borough of Islington auch die Zuständigkeit für Verpartnerungen übertragen wurde. Zunächst wurde ihr informell gestattet, mit Kolleginnen zu tauschen, um solche Zeremonien nicht durchführen zu müssen, dann aber beschwerten sich zwei homosexuelle Kollegen über das „diskriminierende“ Verhalten von Frau Ladele. Die Behördenleitung ließ sie daraufhin wissen, dass ihr Verhalten in der Tat gegen den behördlichen Verhaltens- und Gleichstellungskodex „Dignity for All“ verstoße – und leitete ein Disziplinarverfahren ein.

Frau Ladeles Eingabe beim zuständigen Arbeitsgericht war zunächst erfolgreich, letztendlich verlor aber auch sie erst den Prozess und dann den Arbeitsplatz. Der EGMR billigte diese Entscheidungen: Der Behörde sei es um den Schutz der ebenfalls durch die EMRK garantierten Rechte anderer gegangen. Bei der Herstellung einer Balance zwischen widerstreitenden Konventionsrechten sei den Mitgliedsstaaten ein weiter Beurteilungsspielraum einzuräumen. Und dieser sei hier nicht überschritten.

Let’s talk about sex

Ohne Erfolg blieb auch die Beschwerde des Paartherapeuten Gary McFarlane. Zutiefst von der Sündhaftigkeit homosexueller Praxis überzeugt, stieg der ehemalige Älteste einer großen multikulturellen Gemeinde 2003 bei Relate, dem größten privaten britischen Anbieter für Paar- und Sexualtherapie, als Berater ein. Anfängliche Vorbehalte gegen die Arbeit mit gleichgeschlechtlichen Paaren konnten im Gespräch mit seiner Mentorin ausgeräumt werden, und anschließend beriet er – offenbar komplikationslos – auch zwei lesbische Paare. Im Herbst 2007 wurde aber deutlich, dass McFarlane offenbar nicht bereit war, mit gleichgeschlechtlichen Paaren spezifisch sexuelle Fragen zu bearbeiten. Auf Nachfrage bestätigte McFarlane dem Relate-Geschäftsführer, dass er in der Tat Schwierigkeiten damit habe, diese Art von Beratung mit seiner Pflicht, nach dem Wort Gottes zu leben, zu vereinbaren.

Nach einigem Hin- und Her versicherte er zwar, dass er gleichgeschlechtliche Paare auf Nachfrage auch sexualtherapeutisch betreuen werde, die Geschäftsführung kam aber nach Rücksprache mit seiner Mentorin zu der Überzeugung, dass McFarlane dazu in Wahrheit nach wie vor nicht bereit war. Deshalb wurde er wegen „groben Fehlverhaltens“ entlassen, und die Gerichte sahen dies als gerechtfertigt an: Da die Organisation auf ein diskriminierungsfreies Beratungsangebot größten Wert lege, habe sie sich im Falle von Herrn McFarlane sicher sein müssen, dass er allen Klienten die gesamte Bandbreite des Relate-Beratungsangebots zuteilwerden lassen würde. Das war auch für den EGMR der entscheidende Punkt: Der Verlust des Arbeitsplatzes sei zwar eine harte Sanktion mit schwerwiegenden Konsequenzen für McFarlane, Relate sei es aber um den Schutz der Rechte anderer gegangen. Der Beurteilungsspielraum der nationalen Gerichte sei daher auch hier weit gewesen – und nicht überschritten.

„Blinkered, obsessive political correctness“

Die Richter Nebojša Vučinić und Vincent A. De Gaetano vergreifen sich in ihrem Sondervotum zwar im Ton, wenn sie dem Borough of Islington vorwerfen, „gay rights“ (in Anführungszeichen) wichtiger als „fundamental human rights“ (ohne Anführungszeichen) genommen zu haben. In der Sache jedoch haben sie Recht: Frau Ladeles Fall ist nicht nur ein Fall der Religions-, sondern in erster Linie ein Fall der Gewissensfreiheit, die von der EMRK – anders als die Ausübung der Religions- und Weltanschauungsfreiheit – vorbehaltlos gewährleistet wird. Im Unterschied zu Frau Eweida und Frau Chaplin konnte Frau Ladele aus religiöser Überzeugung gar nicht anders – sie musste ihre Mitwirkung an Verpartnerungen verweigern. Anders als Herr McFarlane hatte sie auch weder 1992 bei Aufnahme ihrer Tätigkeit für die Behörde noch 2002, als sie zur Standesbeamtin bestellt wurde, damit rechnen können, dass Verpartnerungen einmal zu ihrem Aufgabenkreis gehören würden.

Jedenfalls dann, wenn echte, gravierende Gewissensbedenken vorliegen und der oder die Betroffene den Gewissenskonflikt nicht – wie Herr McFarlane – durch eigenes Zutun mit heraufbeschworen hat, endet der Beurteilungsspielraum der Mitgliedsstaten. Wäre es dem Borough of Islington mit seiner „Dignity for All“-Politik ernst gewesen, hätte er nicht nur – wie andere lokale Behörden – davon absehen können, er hätte davon absehen müssen, Frau Ladele die Zuständigkeit für Verpartnerungen zu übertragen. Drei Monate bleiben den Parteien nun, um die Verweisung der Rechtssache an die Große Kammer zu beantragen. Es wäre nicht das erste Mal, dass diese in Sachen Religionsfreiheit korrigierend eingreift.

Christoph Goos, Diskriminierung, EGMR, EMRK, Gewissensfreiheit, Homosexualität, Menschenrechte, Menschenwürde, Religionsfreiheit, Völkerrecht
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