von SINA NIENHAUS
Mit 84 Prozent ist die positive Einstellung zum Thema Organ- und Gewebespende in Deutschland im Jahr 2018 so hoch wie nie zuvor. Dennoch besitzen nur 36% einen Organspendeausweis. Insgesamt warten über 10.000 Menschen auf eine Transplantation. Demgegenüber stehen 797 durchgeführte Transplantationen, was einen historischen Tiefstand darstellt. Diesen Missstand möchte der Gesundheitsminister durch Einführung der sogenannten „doppelten Widerspruchslösung“ beheben. Im Folgenden soll die Verfassungsmäßigkeit dieser Maßnahme untersucht und Position bezogen werden.
Aktuelle Rechtslage und Reformvorschlag
Nach der bisherigen Rechtslage müssen Spender ausdrücklich erklären, dass sie Organe spenden möchten. Sollte zu Lebzeiten keine Erklärung erfolgen, wird der mutmaßliche Wille durch Befragung der Angehörigen ermittelt („Zustimmungs-/Entscheidungslösung“). Die vom Gesundheitsminister anvisierte sogenannte doppelte Widerspruchslösung dreht diese Regelung um. Danach ist jede Person automatisch Organspender, es sei denn er oder sie hat zu Lebzeiten Widerspruch erhoben oder aber die Hinterbliebenen widersprechen nach dem Tod (daher „doppelt“).
Europäischer Vergleich
Eine weitere Regelungsmöglichkeit ist die erweiterte Zustimmungslösung. Die Angehörigen haben danach das Recht, stellvertretend für die verstorbene Person über die Organentnahme zu entscheiden, falls die betroffene Person zu Lebzeiten keine Entscheidung getroffen und dokumentiert hat. Diese Regelung gilt u.a. in Dänemark, Griechenland, Großbritannien, Litauen, Rumänien und der Schweiz.
Die Widerspruchslösung hingegen ist das in Europa verbreitetste Modell. Die „einfache“ Widerspruchslösung, wonach nur der potentielle Spender Widerspruch einlegen kann und diesen zu Lebzeiten erhoben haben muss, gilt in Bulgarien, Frankreich, Irland, Italien, Lettland, Liechtenstein, Luxemburg, den Niederlanden, Österreich, Polen, Portugal, der Slowakei, Slowenien, Spanien, Tschechien, der Türkei, Ungarn und Zypern. Die Widerspruchsregelung mit Einspruchsrecht der Angehörigen gilt in Belgien, Estland, Finnland, Litauen und Norwegen.
Verfassungsmäßigkeit der doppelten Widerspruchslösung
Unabhängig von der europäischen Verbreitung stellt sich die Frage, ob die Einführung der Widerspruchslösung in Deutschland mit dem Grundgesetz vereinbar ist.
Postmortales Selbstbestimmungsrecht des potentiellen Spenders
Die in Art. 1 I GG geschützte Menschenwürde verbietet es, Individuen zum Objekt staatlichen Handelns zu machen. Der Staat hat die im Grundgesetz – insbesondere in den Grundrechten – verankerte Eigenverantwortung und Selbstständigkeit des Menschen zu achten und zu wahren (BVerfGE 133, 168 Rz. 54). Gleichzeitig garantiert die Menschenwürde in Verbindung mit der Allgemeinen Handlungsfreiheit aus Art. 2 I GG das Recht des Einzelnen, über seine Lebensgestaltung frei zu entscheiden (Herdegen, in: Maunz/Dürig, 82. EL 2018, Art. 1 I GG Rn. 84). Dazu gehört auch zu Lebzeiten über den Verbleib und den Umgang mit dem eigenen Körper nach dem Tod entscheiden zu können (Mathias Bader, Organmangel und Organverteilung, 2010, S.48).
Die doppelte Widerspruchslösung belässt dem Einzelnen die Freiheit, sich für oder gegen eine Organspende zu entscheiden. Der Mensch wird dadurch nicht zu einem „wandelnden Ersatzteillager“ degradiert, sondern lediglich angehalten, sich mit der Frage der Organspende auseinanderzusetzen und ggf. einen Widerspruch einzulegen. Das postmortale Selbstbestimmungsrecht ist somit nicht berührt.
Negatives Selbstbestimmungsrecht des potentiellen Spenders
Die Einführung der doppelten Widerspruchslösung könnte jedoch das negative Selbstbestimmungsrecht des Einzelnen verletzen. Das allgemeine Persönlichkeitsrecht aus Art. 2 I i.V.m. Art. 1 I GG umfasst das Recht, sich nicht mit bestimmten Themen befassen und dazu eine Willenserklärung abgeben zu müssen (Di Fabio, in: Maunz/Dürig. 82. EL 2018 Art. 2 I GG Rn. 206). Im Gegensatz zur „einfachen“ Widerspruchslösung, bei der ein Widerspruch nur zu Lebzeiten von dem potentiellen Organspender erhoben werden kann, müssen bei der „doppelten“ Widerspruchslösung vor einer Organentnahme die Angehörigen befragt werden, um den mutmaßlichen Willen des potentiellen Spenders zu ermitteln. Daher ist auch der Schutzbereich des negativen Selbstbestimmungsrechts durch die doppelte Widerspruchslösung nicht berührt, da der Einzelne nicht einmal mittelbar gezwungen wird, sich zu Lebzeiten mit der Organspende auseinander zu setzen, sondern diese Entscheidung im Zweifel den Angehörigen überlassen kann.
Die doppelte Widerspruchslösung verletzt somit kein Grundrecht der potentiellen Spender.
Negatives Selbstbestimmungsrecht der Angehörigen
Gegner der Widerspruchslösung verweisen auf das negative Selbstbestimmungsrecht der Angehörigen in Fällen, in denen kein Widerspruch zu Lebzeiten durch den potentiellen Spender erhoben wurde. Diese sind dann gezwungen sich mit der Frage der Organspende auseinander zu setzen, so dass es insoweit auf die Verhältnismäßigkeit der Maßnahme ankommt.
Die Widerspruchslösung verfolgt mit der Erhöhung der Zahl verfügbarer Spenderorgane und dem damit bezweckten Rettung der Leben von Patienten auf der Warteliste ein legitimes Ziel. Es dürfte kein milderes Mittel geben, das den gleichen Erfolg mit derselben Sicherheit herbeiführt. Für die Rechtfertigung der Widerspruchslösung wird häufig auf Spanien verwiesen, dass eine der höchsten Zahlen an Organspenden in Europa aufweist. Hierbei ist jedoch zu berücksichtigen, dass diese Zahlen vermutlich nicht nur auf die dort herrschende „strenge“ Widerspruchslösung zurück zu führen sind, sondern auch an weiteren Maßnahmen, wie u.a. anderen Klinikstrukturen und anders qualifizierten Transplantationsbeauftragten liegen ). Fraglich ist also, ob die herrschende Zustimmungslösung nicht ein milderes Mittel darstellen könnte. Dem Gesetzgeber steht jedoch bei der Beurteilung der Erforderlichkeit ein weiter Einschätzungsspielraum zu, sodass die Einschätzung der doppelten Widerspruchslösung als die erfolgreichere Maßnahme zur Erhöhung der Zahlen von Organspenden rechtmäßig ist.
Schließlich muss die Maßnahme verhältnismäßig sein. Es ist zu berücksichtigen, dass dem Selbstbestimmungsrecht als Ausfluss der Menschenwürde eine hohe Wertigkeit zukommt. Dem gegenüber stehen die überragend wichtigen Rechtsgüter des Lebens und der körperlichen Unversehrtheit aus Art. 2 II 1 GG der auf der Warteliste stehenden Patienten. Im Rahmen der praktischen Konkordanz ist dem kollidierenden Recht aus Art. 2 II 1 GG als Kernbestandteil der Menschenwürde der Vorrang einzuräumen. In Abwägung dass die Einführung der doppelten Widerspruchslösung zu einer Rettung von Menschenleben führen könnte, muss der Wunsch der Angehörigen sich nicht mit einer etwaigen Organspende durch den Verstorbenen auseinander setzen zu wollen, zurückstehen.
Totensorgerecht der Angehörigen
Das gewohnheitsrechtlich anerkannte Recht der Totenfürsorge der Angehörigen, der in Art. 2 I i.V.m. Art. 1 I GG und Art. 6 I GG verankert ist, ist bei der doppelten Widerspruchslösung nicht betroffen. Das Totensorgerecht ist subsidiär zum Selbstbestimmungsrecht, sodass die Entscheidungen zu Lebzeiten des nun Verstorbenen stets Vorrang haben. Hat der oder die potentielle Spender/in also zu Lebzeiten Widerspruch erhoben, haben die Angehörigen diesbezüglich keine Bestimmungsrechte mehr. Sollte der oder die Verstorbene von seinem Widerspruchsrecht keinen Gebrauch gemacht haben, werden die Angehörigen automatisch befragt, sodass das Totensorgerecht gewahrt wird.
Eigene Stellungnahme
Neben den rein verfassungsrechtlichen Aspekten ist bei der Einführung der doppelten Widerspruchslösung der Gesichtspunkt zu berücksichtigen, dass der Staat sich damit die Schwäche des Menschen zunutze macht, eher einen bestehenden Zustand weiter hinzunehmen, als diesen durch eigenes aktiv werden abzuändern auch wenn dieser eigentlich nicht gewünscht wird („status quo bias“). Diese Form des „nudging“ ist im Hinblick auf das Gewicht der gefährdeten Rechtsgüter jedoch hinzunehmen.
Fazit
Zusammenfassend stellt die doppelte Widerspruchslösung einen gangbaren Weg für den Gesetzgeber da, um die Zahl der Organspenden zu erhöhen. Zur bestmöglichen Wahrung der Rechte der Betroffenen sollte der Gesetzgeber jedoch ein unabhängiges, leicht zugängliches sowie datenschutzrechtlich sicheres Widerspruchsregister o.ä. schaffen, welches zudem von Krankenhäusern schnell abgerufen werden kann. Darüber hinaus sollte der Gesetzgeber erwägen ähnlich wie in Spanien Strukturveränderungen in den Krankenhäusern vorzunehmen.
Zitiervorschlag: Nienhaus, Doppelte Widerspruchslösung – Verfassungsgemäß?, JuWissBlog Nr. 81/2018 v. 26.9.2018, https://www.juwiss.de/81-2018/
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