von SINA NIENHAUS
Wir leben im Zeitalter der Zivilisationskrankheiten. Dazu zählen Erkrankungen wie Diabetes Mellitus Typ 2, Herz-Kreislaufstörungen oder Bluthochdruck. (Mit)Verursacher dieser Krankheiten sind oftmals Übergewicht, eine ungesunde Ernährung und Bewegungsmangel. Allein die direkten Kosten der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) für Diabetes sind von 2000 bis 2009 um 24 % gestiegen. Daher ist das Thema „Eigenverantwortung“ insbesondere im Hinblick auf die Finanzstabilität des Versorgungssystems so bedeutsam wie nie im Gesundheitswesen.
„Die Zahl der Übergewichtigen steigt und steigt! Den Kassen droht der finanzielle Ruin!“ Solche oder ähnliche Titel prangten auf zahlreichen Nachrichtenmagazinen in den vergangenen Wochen. Nicht selten wird nach solchen Nachrichten der Ruf laut, diejenigen in der gesetzlichen Krankenversicherung stärker zu belasten, die sich gesundheitsschädlich verhalten. Dies folge aus der Eigenverantwortung des Einzelnen gegenüber sich und der Solidargemeinschaft. Gegenstand dieses Beitrags ist es, die Entwicklung der Eigenverantwortung in der noch jungen Geschichte des fünften Sozialgesetzbuchs (SGB V) nachzuzeichnen.
Begriff Eigenverantwortung – Historie
Was genau ist überhaupt unter Eigenverantwortung in der GKV zu verstehen? Es existiert weder eine Legaldefinition, noch wird der Begriff in den Gesetzesmaterialien näher bestimmt. Unter Zugrundelegung eines philosophisch-ethischen Verständnisses ist mit Eigenverantwortung die Zurechnung der Folgen eigenen Tuns, legitimiert durch die dem Menschen zugeschriebene Willensfreiheit, gemeint.
Die Eigenverantwortung zählt neben der Solidarität, Subsidiarität und der Selbstverwaltung seit Einführung des fünften Sozialgesetzbuchs 1988 zu den „vier Grundsäulen“ der Sozialversicherung. Eigenverantwortung und Solidarität sind dabei tragende und sich gegenseitig bedingende Prinzipien der GKV. „Ohne Solidarität wird Eigenverantwortung egoistisch, ohne Eigenverantwortung wird Solidarität anonym und missbrauchbar“, so der Gesetzgeber (BT-Drucks. 11/2237, S. 157). Gleichzeitig wurde das Prinzip der Eigenverantwortung schon immer als Kostendämpfungsinstrument eingesetzt. Nach Ansicht des Gesetzgebers kommt es im Gesundheitswesen darauf an, die Fähigkeit des Einzelnen zur eigenverantwortlichen Vorsorge für seine Gesundheit zu stärken, da kein Gesundheitswesen auf Dauer leistungsfähig bleiben könne, wenn sich nicht zunächst der Einzelne um seine Gesundheit bemühe (BT-Drucks. 11/2237, S. 146).
Normative Verankerung
Der Gesetzgeber stellte die Prinzipien der Solidarität und Eigenverantwortung dementsprechend auch als Einweisungsnorm an den Anfang des Gesetzes. Als eine der wenigen Normen in der “wechselhaften“ Geschichte des SGB V, das über 80 Mal seit Inkrafttreten 1989 geändert worden ist, blieb § 1 SGB V bis zum Jahr 2015 unverändert. Erst durch das Präventionsgesetz aus dem Jahr 2015 wurde § 1 durch Satz 2 ergänzt. Der Norm kommt jedoch lediglich eine Klarstellungs- und „Appellfunktion“ zu, sie entfaltet keine Rechte oder Pflichten. Es bedarf daher weiterer konkretisierender Regelungen, wie auch aus § 2 I 1 SGB V hervorgeht.
Der Gesetzgeber versuchte durch zahlreiche Reformen die Eigenverantwortung zu „stärken“. Aufgrund der ausdrücklichen gesetzgeberischen Motivation seien insbesondere zwei Reformvorhaben erwähnt:
2003 wurden zahlreiche Leistungen aus dem Katalog der GKV unter dem Aspekt der Eigenverantwortung gestrichen (BT-Drucks. 15/1525, S. 77). So waren bestimmte Leistungen (u.a. Sterbe-/Entbindungsgeld) künftig von den Versicherten selbst zu finanzieren, die Versorgung mit Sehhilfen wurde auf Kinder und Jugendliche bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres sowie schwer sehbeeinträchtigte Versicherte beschränkt (§ 33 SGB V) und nicht verschreibungspflichtige Arzneimittel waren nur noch in engen Grenzen durch die GKV erstattungsfähig (§ 34 SGB V). Im Zuge dieses Gesetzes wurde auch die kontrovers diskutierte Praxisgebühr eingeführt, die jedoch Ende 2012 wieder abgeschafft wurde.
Ein weiterer Schritt zu mehr Eigenverantwortung wurde 2007 getan (BT-Drucks. 16/3100, S. 87). Zum einen wurden die Sanktionsnormen §§ 52 II, 62 I 3 SGB V eingeführt. § 52 II SGB V sah erstmalig vor, dass die Krankenkassen im Falle von Folgeerkrankungen bei nicht medizinisch indizierten Eingriffen, verpflichtet sind, ihre Leistungen einzuschränken. Die Norm wurde 2008 dahingehend „konkretisiert“, dass der Versicherte ausschließlich bei einer Krankheit durch eine medizinisch nicht indizierte ästhetische Operation, einer Tätowierung oder einem Piercing an den Kosten zu beteiligen ist. Daneben hatten chronisch Kranke nach § 62 I 3 SGB V keinen Anspruch auf die verminderte Belastungsgrenze nach S. 2, wenn sie vor ihrer Erkrankung die für sie relevanten Vorsorgeuntersuchungen nicht in Anspruch genommen hatten. Zum anderen wurde es den Krankenkassen erlaubt, Wahltarife in Anlehnung an die PKV anzubieten, die neben mehr Transparenz und Wettbewerb unter den Krankenkassen auch einen Schritt weg vom Grundsatz der Solidarität hin zu mehr Eigenverantwortung bedeuteten, so der Gesetzgeber.
Wirklich ein Mehr an Eigenverantwortung?
Doch handelt es sich hierbei wirklich um Maßnahmen zur Förderung von Eigenverantwortung oder benutzt der Gesetzgeber dieses Schlagwort vielmehr als Deckmantel, um Kosteneinsparungen in der GKV vorzunehmen? Wie eingangs beschrieben setzt Eigenverantwortung die Freiheit voraus, zwischen verschiedenen Handlungsalternativen wählen zu können. Dies ist bei den Leistungskürzungen jedoch gerade nicht der Fall. Der Versicherte wird alternativlos vor vollendete Tatsachen gestellt, die dem Gesetzgeber letztlich ausschließlich zur Kostenkontrolle dienen.
Die Sanktionsnormen scheinen schon eher dem Eigenverantwortungsprinzip zu genügen; denn es liegt in der Entscheidungsfreiheit der Versicherten medizinisch nicht indizierte Eingriffe vornehmen zu lassen bzw. an Vorsorgeuntersuchungen teilzunehmen oder nicht. Eine gesundheitsrechtliche Sanktion, die an der Eigenverantwortung anknüpft, setzt jedoch voraus, dass zwischen dem eigenen Tun und der Krankheitsfolge ein „Kausalzusammenhang“ besteht. Ob die Inanspruchnahme der Vorsorgeuntersuchung nach § 62 I 3 SGB V tatsächlich die chronische Erkrankung vermieden hätte, ist angesichts der multikausalen Faktoren chronischer Krankheiten jedoch kaum nachweisbar. Auch in Fällen, in denen die Vorsorgeuntersuchung den späteren Krankheitsfall nicht vermieden hätte, würden dann also Versicherte sanktioniert.
Eigenverantwortung als Teil der Prävention
Aktuell setzt der Gesetzgeber auch im Bereich der Krankheitsprävention ganz auf die Förderung von Eigenverantwortung. Das am 25.7.2015 in Kraft getretene, lange verhandelte Präventionsgesetz sieht in § 20 SGB V nun unter anderem vor, dass die Kassen Leistungen zur Verhinderung und Verminderung von Krankheitsrisiken (primäre Prävention) sowie zur Förderung des selbstbestimmten gesundheitsorientierten Handelns der Versicherten (Gesundheitsförderung) vorsehen sollen. Ziel des neu gefassten § 20 SGB V ist die Aktivierung der gesundheitlichen Eigenkompetenz und Eigenverantwortung.
Dabei ist die Förderung von Prävention keine Innovation des Präventionsgesetzes, sondern war bereits in der Ur-Version des SGB V von 1988 enthalten. § 20 Abs. 3 aF erlaubte es den Kassen, Ermessensleistungen zur Erhaltung und Förderung der Gesundheit und zur Verhütung von Krankheiten vorzusehen. 1996 wurden die Leistungen zur Präventions- und Gesundheitsförderung jedoch wieder aus dem Leistungskatalog herausgenommen, da hierdurch – nach Ansicht des Gesetzgebers – eine Vielzahl von Marketingaktivitäten finanziert wurden, die primär der Werbung der jeweiligen Krankenkasse und weniger der gezielten Gesundheitsförderung und Prävention dienten (BT-Drucks 13/4615, S. 8). Es fehlte den Krankenkassen an einem fundierten Zielgruppenkonzept. Die Angebote wurden nach Wettbewerbsgesichtspunkten ausgerichtet und zielten vor allem auf die oberen Bevölkerungsgruppen ab (wie u.a. Bauchtanzkurse). Weiterhin wurde die Qualitätssicherung stark vernachlässigt und es fehlte an systematischen Kooperationen zwischen Krankenkassen und anderen Akteuren im Bereich der Prävention.
Diese Mängel versucht der Gesetzgeber nun zu beheben und die Kosten der GKV dadurch sogar zu dämpfen (BT-Drucks. 18/4282, S. 32f.). Die §§ 20d und 20e SGB V normieren dazu, dass eine Präventionsstrategie zu entwickeln ist, die ein koordiniertes und einheitliches Vorgehen der verschiedenen Leistungsträger und Akteure beinhaltet. Es wurden Instrumente und Verfahren zur Evaluation der Leistungen zur Primärprävention und betrieblichen Gesundheitsförderung entwickelt und getestet. Der Gesetzgeber versucht zudem, über die Prävention und Gesundheitsförderung in „Lebenswelten“ (vgl. §§ 20 IV Nr. 2; 20a SGB V) auch die besonders gefährdeten unteren sozialen Schichten zu erreichen. Dazu gehören beispielsweise Bewegungs- und Ernährungsprogramme an Schulen.
Fazit
Die Neuregelung scheint zunächst gelungen zu sein. Die Praxis bemängelt jedoch, dass es zwar viele Konzepte zur Prävention gibt, diese jedoch aufgrund hoher bürokratischer Hürden und fehlender Vereinbarkeit mit der Lebensrealität der Versicherten schwer in den Alltag integrierbar seien. Hier besteht noch Handlungsbedarf.
Fraglich ist auch, ob der neue Präventionsschwerpunkt tatsächlich der Förderung von Eigenverantwortung dient wie deklariert. Beispielsweise fördern Präventionsprogramme, die der Aufklärung und Information über eine gesündere Lebensweise dienen, die Eigenverantwortung des Einzelnen. Problematisch wird es aber dann, wenn der Staat den Versicherten seine Vorstellungen eines gesunden Lebens aufoktroyieren will. In diesem Fall wandelt sich die freiheitsgetragene Eigenverantwortung zur freiheitsbeschränkenden staatlichen Bevormundung.
Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass der Gesetzgeber die Stärkung der Eigenverantwortung oftmals als Vorwand nutzt, um Leistungskürzungen zu rechtfertigen. Hinsichtlich des wiederbelebten „Trends“ der Prävention bleibt abzuwarten, ob der Gesetzgeber sich auf Aufklärung und Information beschränken oder bevormundende Tendenzen aufweisen wird.