Sanktionen, Sanktionen, Sanktionen? Verfassungsrechtliche Bedenken zur Bürgergeldreform

von ANNALENA MAYR

Der „Herbst der Reformen“ kommt und er wird menschlich kalt. Die Koalition aus CDU/CSU und SPD einigte sich am 9. Oktober 2025 auf eine umfassende Reform des Bürgergeldes. Im Zentrum dessen steht nicht etwa die Stärkung sozialer Teilhabe, sondern vielmehr eine „neue Grundsicherung“ und vor allem die Verschärfung von Leistungsminderungen. Dies ist vor allem deshalb problematisch, weil die Wirksamkeit (hoher) Sanktionen noch immer nicht ausreichend belegt ist – obwohl das BVerfG bereits im Jahr 2019 empirische Daten hierzu gefordert hatte.

Was die Regierung konkret plant

Vor allem Sanktionen: Nimmt eine leistungsberechtigte Person einen Termin beim Jobcenter nicht wahr, wird sie unverzüglich zu einem weiteren Termin geladen. Wird dieser Termin ebenfalls versäumt, werden die existenzsichernden Leistungen um 30 Prozent gemindert. Bleibt auch ein dritter Termin ungenutzt, werden die Geldleistungen vollständig eingestellt. Erscheint die leistungsberechtigte Person zum darauffolgenden Monat nicht im Jobcenter, werden alle Leistungen, auch die Bedarfe für die Unterkunft, nicht mehr gezahlt. Nach dem Ergebnispapier des Koalitionsausschusses sollen hierbei zwar Härtefälle berücksichtigt werden, insbesondere mögliche gesundheitliche oder andere schwerwiegende Gründe für das Nichterscheinen. Genauere Regelungen stehen bisher allerdings nicht fest.

Vorgaben aus Karlsruhe

Die aktuellen Regierungspläne verwundern, hatte sich das BVerfG im Jahr 2019 doch kritisch mit der Minderung existenzsichernder Leistungen befasst. Doch zunächst zu den Grundlagen: Nach der Rechtsprechung des BVerfG ergibt sich das Recht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum aus Art. 1 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG. Mit seiner soziokulturellen Komponente umfasst es die Pflege zwischenmenschlicher Beziehungen und zu einem Mindestmaß die Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben. Das physische Existenzminimum soll grundlegende Bedarfe wie Ernährung, Kleidung, Körperpflege, Hausrat, Unterkunft oder Heizung der Menschen sichern (BVerfG, Rn. 119).

Gleichzeitig erkennt das BVerfG den sogenannten Nachranggrundsatz an. Demnach müssen Menschen ihre Existenz vorrangig selbst sichern, bevor sie auf staatliche Sozialleistungen zurückgreifen (BVerfG, Rn. 123). Ist es Menschen nicht möglich, ihre eigene Existenz zu sichern, so sollen sie an der Überwindung ihrer Hilfebedürftigkeit mitwirken (BVerfG, Rn. 126), beispielsweise indem sie an Maßnahmen zur Eingliederung in Arbeit teilnehmen. Verstoßen sie gegen diese Mitwirkungspflichten, kann der Staat sanktionieren. Nach der Rechtsprechung des BVerfG sind Sanktionen also nicht per se verfassungswidrig. Ihre konkrete Ausgestaltung ist entscheidend.

Wichtig ist unter anderem, dass durch die Sanktionen nicht repressiv ein vermeintliches Fehlverhalten geahndet werden darf, sondern sie darauf gerichtet sein müssen, Mitwirkungspflichten zu erfüllen (BVerfG, Rn. 131). Ebenfalls zu berücksichtigen ist, dass an die Verhältnismäßigkeit der Sanktionen strenge Voraussetzungen zu stellen sind (BVerfG, Rn. 132). Denn durch sie wird dem Menschen das vorenthalten, was er eigentlich für seine Existenzsicherung zwingend benötigt. Eingriffe in das Existenzminimum sind deshalb nur dann zulässig, wenn sie einem legitimen Zweck dienen, geeignet, erforderlich und angemessen sind.

Erst 30, dann 100 Prozent weniger

Die Staffelung der Kürzungen – erst 30 und später 100 Prozent weniger – ist dem Existenzsicherungsrecht keineswegs fremd. Im früheren Hartz-IV-System galten ähnliche Regelungen bis zum Urteil des BVerfG im November 2019: Bei einer ersten Pflichtverletzung wurde um 30 Prozent gekürzt, danach um 60 Prozent oder sogar mehr (§ 31a i.V.m. §§ 31, 31b SGB II a.F.).

In seinem Urteil prüfte das BVerfG im Jahr 2019 die einzelnen Sanktionsstufen getrennt. Eine Leistungsminderung um 30 Prozent hielt das Gericht noch grundsätzlich für zulässig, da sie sich im Einschätzungs- und Prognosespielraum der Legislative bewegte (BVerfG, Rn. 165 ff.). Eine Minderung um 60 Prozent und gar ein vollständiger Leistungsausschluss befand das BVerfG hingegen für verfassungswidrig (BVerfG, Rn. 189 ff., 201 ff.). Das BVerfG kritisierte insbesondere die mangelhafte empirische Begründung der Sanktionen. Es gebe keine belastbaren Belege dafür, dass derart eingreifende Sanktionen tatsächlich geeignet seien, die Mitwirkung der Betroffenen zu fördern (BVerfG, Rn. 189 ff., 201 ff.).

Doch auch jetzt Gerade weil durch hohe Sanktionen, wie 60 Prozent oder mehr, die existenzsichernden Leistungen in großem Umfang eingeschränkt werden, muss die Legislative zudem umfassend darlegen, dass es sich bei den geplanten Minderungen um das mildeste, gleich wirksame Mittel handelt, die Leistungsberechtigten zur Erfüllung ihrer Mitwirkungspflichten anzuhalten. Treten neben den vollständigen Leistungsausschluss noch der Wegfall von Leistungen zur Wohnung und droht daher Obdachlosigkeit, stellt sich überdies die Frage nach der Angemessenheit der Sanktionen – steht dieser starke Eingriff in das Recht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum noch im Verhältnis dazu, fehlende Mitwirkung zu erreichen?

Wer wird von den Sanktionen betroffen sein?

Nach der Einschätzung von Helena Steinhaus, Geschäftsführerin des Vereins Sanktionsfrei, treffen die geplanten Regelungen vor allem Menschen, die ohnehin bereits unter erheblichen Belastungen stehen. Denn Termine werden häufig nicht aus Böswilligkeit, sondern, so Steinhaus, aus Überforderung oder Belastung versäumt. Nach Hoffnungen der Politik sollen vor allem die viel beschworenen „Totalverweigerer*innen“ sanktioniert werden. Diese machen nach Schätzungen allerdings weniger als ein Prozent der Bürgergeldbeziehenden aus. Und auch hinsichtlich dieser Betroffenen wird das „Leitbild des autonom handelnden Totalverweigerers“ (Andrea Kießling) kritisiert. So handelt es sich bei den „Totalverweigerer*innen“ wohl überwiegend ebenfalls um „Menschen mit grundlegenden und mehrfachen Beschäftigungshindernissen“, wie psychischen Belastungen. Eine wirksame und verfassungskonforme Reform müsste daher funktionierende Härtefallregelungen vorsehen. Sanktionierte Leistungsberechtigte müssen zudem die Möglichkeit erhalten, durch nachgeholte Mitwirkungen zu den vollen Leistungen zurückzukehren.

Fazit

Das Recht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum steht allen Menschen zu, auch denjenigen, die sich vermeintlich „unwürdig“ verhalten, weil sie Jobcenter-Termine nicht wahrnehmen. Dem Staat steht es frei, Anforderungen an die Mitwirkung von Leistungsbeziehenden zu stellen und zu sanktionieren, wenn diese Verpflichtungen nicht erfüllt werden. Das BVerfG billigt dies, setzt den Sanktionen allerdings auch Grenzen: es braucht empirische Grundlagen zur Wirksamkeit der Leistungsminderungen und diese müssen verhältnismäßig sein, insbesondere dann, wenn die Leistungen vollständig entzogen werden. Es bleibt abzuwarten, ob und wie die Legislative dies umsetzen wird.

Zitiervorschlag: Mayr, Annalena, Sanktionen, Sanktionen, Sanktionen? Verfassungsrechtliche Bedenken zur Bürgergeldreform, JuWissBlog Nr. 98/2025 v. 23.10.2025, https://www.juwiss.de/98-2025/

Dieses Werk ist unter der Lizenz CC BY-SA 4.0 lizenziert.

Bürgergeld, Leistungsminderungen, Menschenwürdiges Existenzminimum, Sanktionen, Sozialrecht
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