Ist die Gesundheitsversorgung migrationspolitisch relativierbar?

von FLORIAN WILKSCH

FlorianWilksch_formatiert2012 stellte das Bundesverfassungsgericht die Unvereinbarkeit der Geldleistungen im Asylbewerberleistungsgesetz mit dem Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums fest. Der jüngst durch das Kabinett beschlossene Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Asylbewerberleistungsgesetzes und des Sozialgerichtsgesetzes ist der Versuch, diese zukünftig transparent, realitäts- und bedarfsgerecht zu bemessen. Dabei versäumt der Gesetzgeber, sich zugleich einer dringend gebotenen Revision des Rechts auf Krankenbehandlung der AsylbewerberInnen und ihnen gleichgestellter Gruppen anzunehmen.

Grundsätzlich nur Akutversorgung geschuldet

Das Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) bildet ein Sondersozialrecht für AusländerInnen mit ungefestigtem Aufenthaltsstatus. Seinem persönlichen Anwendungsbereich unterliegen über den Titel hinaus nicht nur Asylsuchende, sondern auch Menschen mit humanitärer Aufenthaltserlaubnis, Geduldete sowie vollziehbar Ausreiseverpflichtete.

Während EmpfängerInnen von Fürsorgeleistungen nach SGB II und SGB XII regelmäßig an der Normalversorgung auf dem Niveau der gesetzlichen Krankenversicherung partizipieren, sind für die Leistungsberechtigten nach AsylbLG die Gesundheitsleistungen stark eingeschränkt. Es ist nach § 4 AsylbLG zunächst nur die Behandlung akuter Erkrankungen und Schmerzzustände geschuldet. Dabei braucht die Therapie nicht auf die Heilung der zugrundliegenden Krankheit gerichtet sein, sondern kann sich auf die Bekämpfung der Symptome beschränken. Zahnersatzleistungen werden nur erbracht, wenn sie aus medizinischen Gründen unaufschiebbar sind. Daneben tritt die Auffangnorm des § 6 AsylbLG. Auf ihrer Grundlage können Ermessensleistungen gewährt werden, wenn sie im Einzelfall unabweisbar sind. Dies setzt eine gewisse Atypik des Sachverhaltes voraus und bedingt eine restriktive Handhabung der Norm. Sie soll gerade nicht die durch die §§ 3 ff. AsylbLG getroffenen Grundsatzentscheidungen umkehren.

In der Praxis führte dies unter anderem zum Grundsatz der Zahnextraktion statt -erhaltung und in Einzelfällen sogar zur schmerzlindernden Behandlung einer Hüftgelenksnekrose trotz medizinisch indizierter Operation, zur Bevorzugung einer Dialyse auf Dauer zulasten einer Nierentransplantation und der Verweigerung einer medizinisch notwendigen Lebertransplantation.

Die „Modernisierung“ des Bleiberechts und ihre sozialrechtlichen Folgen

Mit dem Mitte letzter Woche im Bundeskabinett verabschiedeten Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Asylbewerberleistungsgesetzes und des Sozialgerichtsgesetzes versucht die Bundesregierung, die Anforderungen der BVerfG zu den Regelsätzen des SGB II („Hartz IV“) und zu den Geldleistungen des AsylbLG nachzuzeichnen. Das Gericht hatte den Geldleistungen des AsylbLG die Unvereinbarkeit mit dem Grundrecht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum attestiert, da diese nicht nur intransparent bemessen waren, sondern unzulässige, migrationspolitisch motivierte Kürzungen enthielten.

Bei dem Entwurf bleibt die Bundesregierung weit überwiegend in den engen Grenzen der Verfassungsrechtsprechung und geht kaum darüber hinaus. Im Gegenteil: Die Änderung des AsylbLG muss im Zusammenhang mit dem Referentenentwurf des BMI für ein Gesetz zur Neubestimmung des Bleiberechts und der Aufenthaltsbeendigung gelesen werden. Dessen migrationspolitische Perfidie wurden bereits an anderer Stelle diskutiert. Von besonderem fürsorgerechtlichen Interesse ist § 11 VII 4 AufenthG-E, der eine gesetzliche Vermutung dahingehend formuliert, dass eine Einreise regelmäßig dann dem Zwecke des Bezuges öffentlicher Leistungen dient, wenn ein Asylantrag unzulässig, unbeachtlich oder offensichtlich unbegründet ist oder ein Folge- oder Zweitantrag ohne Erfolg bleibt. Neben der Möglichkeit der Verhängung eines Einreise- und Beschäftigungsverbots dürfte dies auch ausländersozialrechtliche Konsequenzen haben. Denn die „um-zu-Einreise“ bewirkt zugleich eine dauerhafte Beschränkung der Leistungsansprüche nach AsylbLG auf das im Einzelfall nach den Umständen unabweisbare Gebotene für Geduldete und vollziehbar Ausreisepflichtige, § 1a Nr. 1 AsylbLG. Da die Bundesregierung bereits im Juli in einer Stellungnahme zum AsylbLG-E auf diesen Umstand hingewiesen wurde, dürfte es sich hierbei nicht bloß um einen handwerklichen Fehler, sondern um eine gewollte Folge handeln. Jene steht im Übrigen diametral der bisherigen Rechtsprechung und Literatur (BVerwGE 90, 212; LSG NRW SAR 2009, 34, GK-AsylbLG/Hohm, § 1a Rn. 57) entgegen, die diese Unterstellung nicht zulassen wollten. Es erfolgt so eine migrationspolitisch motivierte Relativierung des sozialrechtlichen Existenzminimums, die das Bundesverfassungsgericht gerade geächtet hat.

Gesundheitsspezifische Neuerungen?

Die Gesundheitsversorgung der AsylbLG-Leistungsberechtigten wird im AsylbLG-E nicht gesondert adressiert. Sie spielt jedoch an zwei Punkten eine Rolle. Einerseits werden die Bedarfspositionen der Gesundheitspflege aus der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe nicht in die neuen AsylbLG-Regelsätze übernommen, da diese nicht anfielen: Die Gesundheitsversorgung sei durch die Erbringung von Sachleistungen nach AsylbLG selbst sichergestellt, weshalb etwa Zuzahlungen zu und Erwerb von Arzneimitteln nicht zu erfolgen brauchten. Andererseits wird eine Nothelferklausel dem § 25 SGB XII nachgebildet und als § 6a AsylbLG-E aufgenommen. Dies ist Folge einer Entscheidung des BSG zur Analogieunfähigkeit von § 25 SGB XII und der damit einhergehenden Unmöglichkeit der Erstattung von Notfallbehandlungen in Krankenhäusern. Der daraus entstandenen Rechtsunsicherheit wurde eine Mehrzahl an Todesfällen und schweren körperlichen Beeinträchtigungen wegen Behandlungsverweigerung zugeschrieben. Die materiellen Begrenzungen des Rechts auf Krankenbehandlung werden dagegen aufrechterhalten. Auf eine Kleine Anfrage der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN antwortet die Bundesregierung, dass die §§ 4, 6 AsylbLG „bereits heute eine angemessene gesundheitliche Versorgung der Leistungsberechtigten“ erlaubten.

Ein sozio-kulturelles Existenzminimum als Menschenrecht

Mit dem Regelsatzurteil vom 09.02.2010 stellte das Bundesverfassungsgericht heraus, dass aus Art. 1 I GG i.V.m. dem Sozialstaatsprinzip folge, dass jedermann ein Recht auf ein sozio-kulturelles Existenzminimum habe. Dieses umfasse sowohl „die physische Existenz des Menschen […] als auch die Sicherung der Möglichkeit zur Pflege zwischenmenschlicher Beziehungen und ein Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben“. Im AsylbLG-Urteil heißt es dann, dass eine Abweichung von der allgemeinen Festsetzung des Existenzminimums für bestimmte Personengruppen nicht allein auf deren Aufenthaltsstatus fußen dürfe, sondern der Nachweis geführt werden müsse, dass sie tatsächlich andere Bedürfnisse zu decken haben.

Für das Recht auf Krankenbehandlung eröffnet dies die Frage, ob das medizinische Existenzminimum von AsylbLG-Berechtigten geringer zu bemessen ist als bei EmpfängerInnen von Leistungen nach SGB II und XII. Für die „nackte Existenz“ kann eine solche Unterscheidung am aufenthaltsrechtlichen Status evident nicht gelingen. Fraglich ist, ob das medizinische Existenzminimum darüber hinausgeht. Wäre dies nicht der Fall, könnte sich der Gesetzgeber darauf zurückziehen, dass die basale medizinische Versorgung die durch Art. 2 II 1 GG gestellten Anforderungen an ein physisches Existenzminimum wahrt, während Teilhabechancen durch die Geldleistungen gedeckt sind.

Das setzte aber voraus, dass zwischen physischem Minimum und sozio-kultureller Draufgabe überhaupt trennscharf unterschieden werden kann. Dagegen ist einzuwenden, dass Gesundheit kein bloßer Selbstzweck ist. Sie ist die Voraussetzung jeder Teilhabe und damit ein nicht relativierbarer Bestandteil der sozio-kulturellen Dimension. Ist sie beeinträchtigt, ist der Erkrankte schon grundsätzlich an seiner freien Persönlichkeitsentfaltung und Teilnahme am Leben in der Gemeinschaft gehindert. Die Folgen einer krankheitsbedingt eintretenden sozialen Deprivation hätten wiederum eigenen Krankheitswert. Gesundheit ist ohne Teilhabe ebenso wenig zu haben wie Teilhabe ohne Gesundheit. Deshalb mag eine Notversorgung das Überleben sichern, ein menschenwürdiges Leben ermöglicht sie jedoch nicht.

Ein existenzsicherndes Recht auf Krankenbehandlung muss daher umfassend und universell bemessen werden: Umfassend, weil nur so die Teilhabebefähigungen sichergestellt werden können. Universell, da sowohl Erkrankungsrisiko als auch Behandlungsbedarf von einer Vielzahl individueller Faktoren abhängen mögen, zu denen der Aufenthaltsstatus aber sicher nicht gehört. Diesem Ansatz folgt auch das Völkerrecht, wenn es für besonders vulnerable Patientengruppen – Kinder und behinderte Menschen – den Gewährleistungsauftrag formuliert, geeignete Maßnahmen für den Zugang zu Gesundheitsleistungen zu treffen, um das individuell erreichbare Höchstmaß an Gesundheit zu verwirklichen – unabhängig von Nationalität und Bleiberecht.

Dringender Handlungsbedarf

Wenn der Gesetzgeber mit § 4 AsylbLG nur die Akutversorgung von Krankheiten gewährt und alle „sonstigen“ Gesundheitsleistungen der Ermessensnorm des § 6 AsylbLG anvertraut, wird das individuelle gesundheitliche Existenzminimum nicht sichergestellt. Die Zentrale Ethikkommission bei der Bundesärztekammer hat unlängst beklagt, dass die Einschätzung von Behandlungsbedürftigkeit und -fähigkeit bei medizinisch nicht sachkundigem Personal liege und dies zu „erheblicher gesundheitlicher Gefährdung von Patienten“ führe. Einen Lösungsansatz hierfür könnte der Gesetzgeber im „Bremer Modell“ finden. Es beruht auf einer Vereinbarung nach § 264 I SGB V, die bewirkt, dass die Leistungsberechtigten eine Gesundheitskarte erhalten und mit ihr in Deutschland jedenfalls prozedural diskriminierungsfrei ärztliche Hilfe in Anspruch nehmen können. Gleichzeitig sollte es eine Klarstellung zum verlängerten Geheimnisschutz bei der Behandlung von Menschen ohne legalen Aufenthalt geben. Daran muss sich die materielle Gleichstellung des Rechts auf Krankenbehandlung für MigrantInnen anschließen. Einen legitimen Sachgrund für die Differenzierung nach Aufenthaltsstatus gibt es nicht.

Ausblick

Das BMAS hat angekündigt, in einem zweiten Reformschritt die Gesundheitsleistungen des AsylbLG zu überprüfen, um Konformität mit der bis 20. Juli 2015 umzusetzenden Aufnahmerichtlinie 2013/33/EU herzustellen. So sehr die geplante Revision der Normen in der Sache notwendig und zu begrüßen ist, steht doch das gesetzgeberische Motiv infrage. Wenn die Bundesregierung der Auffassung ist, dass die §§ 4, 6 AsylbLG für eine angemessene gesundheitliche Versorgung bürgten und ein Verfassungsbruch deshalb nicht zu befürchten sei, warum gilt das nicht auch für das Europarecht? Die pressewirksame Überschrift „Leistungen für Asylbewerber verbessert“ kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Bundesregierung nur widerwillig dem nachkommt, wozu sie anderweitig verpflichtet wird. Nicht die unveräußerlichen Menschenrechte der MigrantInnen stehen für sie im Vordergrund. Jene bleiben Spielball migrations- und sozialpolitischer Interessen. Eine hochwertige Willkommenskultur wird damit gewiss nicht gefördert.

AsylbLG, Existenzminimum, Florian Wilksch, Gesundheitsversorgung, Migrationsrecht, Sozialrecht
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