von ANDREA KIEßLING
In Deutschland gibt es viele Ausländer, die seit Jahren hier leben oder hier geboren wurden, eine Familie gegründet haben, die deutsche Sprache sprechen und einem Beruf nachgehen. Bei ihnen handelt es sich um „faktische Inländer“. Erfüllen sie einen Ausweisungsgrund, stellt sich in besonderem Maße die Frage nach der Verhältnismäßigkeit der Ausweisung, denn bei ihnen handelt es sich um Quasi-Deutsche mit ausländischem Pass. Reformbedarf hat sich schon vor Jahren durch höchstrichterliche Rechtsprechung ergeben. Nun hat sich dessen endlich ein neuer Gesetzentwurf angenommen. Unter dem Deckmantel der Reform will der Gesetzgeber aber das Ausweisungsrecht verschärfen.
Das jetzige dreistufige Ausweisungssystem: zwingend – in der Regel – Ermessen
Derzeit kann ein Ausländer ausgewiesen werden, wenn sein Aufenthalt die öffentliche Sicherheit und Ordnung oder sonstige erhebliche Interessen der Bundesrepublik Deutschland beeinträchtigt. Dies regelt § 55 Abs. 1 AufenthG, die Zentralnorm des Ausweisungsrechts, in Anlehnung an die polizeirechtliche Generalklausel. Das Gesetz führt drei verschiedene Kataloge von Tatbeständen (§§ 53ff. AufenthG) auf, die – abhängig von ihrer Schwere – drei verschiedene Rechtsfolgen nach sich ziehen: Eine Verurteilung zu mehr als drei Jahren Freiheitsstrafe führt z.B. zwingend, die Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe (ohne Mindestlänge) und verschiedene terroristische Sachverhalte in der Regel und falsche Angaben in einem bestimmten Verwaltungsverfahren und der Aufruf zum Hass durch Hassprediger nach Ermessen der Behörde zu einer Ausweisung. Der Gesetzgeber hat also eine Typisierung vorgenommen; die Ausländerbehörden müssen nicht selbst prüfen, ob ein bestimmtes Verhalten z.B. die öffentliche Sicherheit beeinträchtigt. Ausweisungsgründe gibt es im Gesetz viele: Im Laufe der Zeit kamen immer wieder neue hinzu (wie z.B. nach dem 11. September solche zur Terrorismusabwehr), während einige Tatbestände schon in Preußen zur Ausweisung berechtigten, in der heutigen Zeit aber in der Praxis nicht mehr angewandt werden (wie die „Ausübung der Gewerbsunzucht“, die längerfristige Obdachlosigkeit und die Inanspruchnahme von Sozialhilfe [damals wurden Arme ausgewiesen], vgl. § 55 Abs. 2 Nr. 3, 5, 6 AufenthG).
Der Wortlaut des AufenthG sieht also ein klares System vor. Während bei der zwingenden Ausweisung die Rechtsfolge eindeutig ist und bei der Regelausweisung nur atypische Fälle zur Absehung von der Ausweisung berechtigen, hat die Behörde bei der Ermessensausweisung immer die Belange des Ausländers in den Blick zu nehmen.
Rechtspraxis contra legem: Der Einfall der Verhältnismäßigkeit
2007 entschied das BVerfG auf der Grundlage einer Auseinandersetzung mit der Rechtsprechung des EGMR zur Achtung des Privatlebens gem. Art. 8 Abs. 2 EMRK, dass im Falle faktischer Inländer eine schematische Anwendung der Rechtsfolgen ohne Einzelfallbetrachtung nicht mehr möglich ist. Es fordert für diese Personengruppe auch im Fall der Regelausweisung eine am Einzelfall orientierte Verhältnismäßigkeitsprüfung. Nach Ansicht des BVerwG ist nicht nur bei faktischen Inländern der schematische Blick auf die Ist- und Regelausweisung „wenig hilfreich“, um das „gesamte Spektrum betroffener Belange in den Blick nehmen zu können“.
Diese Rechtsprechung hat zu einer Ausweisungspraxis contra legem geführt: Entgegen dem Wortlaut des Gesetzes prüfen die Behörden bei faktischen Inländern nun stets, ob die Ausweisung auch als Ermessensentscheidung Bestand hätte. So notwendig und einleuchtend diese Praxis im Ergebnis auch ist: Eine solche Rechtsfortbildung durch die Gerichte birgt immer die Gefahr, dass die demokratisch legitimierten Wertungen des Gesetzgebers unterlaufen werden und dadurch die Gewaltenteilung in Frage gestellt wird. Eine Reform ist also mehr als überfällig.
Der aktuelle Entwurf: kein großer Wurf
Der Entwurf verspricht nun eine „Modernisierung“ des Ausweisungsrechts (S. 4, 27). Wer den „ganz großen Wurf“ erwartet hat, wird enttäuscht: Der Entwurf belässt es bei einer Umstellung des bisherigen Systems; viele Formulierungen sind bekannt und nur an anderer Stelle wiederzufinden. Um ein wirklich modernes Ausweisungsrecht, dass z.B. in der Bundesrepublik geborenen Ausländern einen absolut wirkenden Ausweisungsschutz gewährt, handelt es sich von vornherein nicht.
Zentralnorm soll in Zukunft § 53 Abs. 1 AufenthG-E sein: Demnach wird ein Ausländer, dessen Aufenthalt die öffentliche Sicherheit und Ordnung […] gefährdet, ausgewiesen, wenn die vom Grundsatz der Verhältnismäßigkeit geleitete Abwägung der öffentlichen Interessen an der Ausreise mit den privaten Interessen an einem weiteren Verbleib des Ausländers im Bundesgebiet ergibt, dass die öffentlichen Interessen überwiegen. Welche privaten Bleibeinteressen berücksichtigt werden müssen, nennt zunächst allgemein § 53 Abs. 2 AufenthG-E: Dies sind die Dauer des rechtmäßigen Aufenthalts, die schutzwürdigen persönlichen, wirtschaftlichen und sonstigen Bindungen im Bundesgebiet und die Folgen der Ausweisung für Familienangehörige des Ausländers. Diese Regelung ist von der jetzigen Ermessensausweisung in § 55 Abs. 3 AufenthG bereits bekannt.
Der Entwurf belässt es aber nicht bei diesen allgemeinen Leitlinien. Sowohl das „öffentliche Ausweisungsinteresse“ als auch das „private Bleibeinteresse“ werden weiter konkretisiert und dabei in zwei Kategorien eingeteilt: So soll es jeweils „schwere“ und „besonders schwere“ Interessen geben. Ein besonders schweres Ausweisungsinteresse soll dabei nur durch ein besonders schweres oder mehrere schwere Bleibeinteressen aufgewogen werden können.
Öffentliche Ausweisungsinteressen
Die bisherigen Ausweisungsgründe gehen im öffentlichen Ausweisungsinteresse (§ 54 AufenthG-E) auf. Zu begrüßen ist es, dass der Entwurf den jetzigen Katalog von den überholten Fällen bereinigt, die in der Praxis keine Rolle mehr spielen: „Gewerbsunzucht“, Obdachlosigkeit und Inanspruchnahme von Sozialhilfe sollen in Zukunft nicht mehr zur Ausweisung berechtigen.
„Besonders schwer“ sollen bereits die Fälle wiegen, die bislang zu einer Regelausweisung führten, z.B. die Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe ohne Bewährung ohne Mindestlänge. Die jetzigen zwingenden Ausweisungsgründe entfallen. In der Begründung des Entwurfs wird die hohe Bedeutung betont, die gravierende vorsätzliche Rechtsverstöße – unabhängig von der Länge der verhängten Freiheitsstrafe – ausweisungsrechtlich haben sollen (S. 28, 41). Der Entwurf ist außerdem sicherheitsrechtlich geprägt (S. 4, 28): So wurden zunächst die alten Regelausweisungsgründe zur Abwehr terroristischer und extremistischer Gefahren leicht überarbeitet. Darüber hinaus soll nun sogar ein bisheriger Ermessensausweisungsgrund ein „besonders schweres“ Ausweisungsinteresse begründen: Derart „aufgewertet“ wurde der Aufruf zum Hass durch Hassprediger. Schon bei der Frage, welche Sachverhalte welche Art von Ausweisungsinteresse begründen sollen, sieht der Entwurf also eine Verschärfung vor.
Private Bleibeinteressen
Als private Bleibeinteressen (§ 55 AufenthG-E) werden die bislang in § 56 AufenthG geregelten Fälle des relativ wirkenden Ausweisungsschutzes berücksichtigt. Das Interesse von Minderjährigen soll z.B. „schwer“, das von Inhabern einer Niederlassungserlaubnis „besonders schwer“ wiegen. Wiegt das Interesse besonders schwer, soll der Ausländer nur aus schwerwiegenden Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung ausgewiesen werden können. Diese Regelung gibt es bereits jetzt für vergleichbare Personengruppen: Solche Gründe liegen dann vor, wenn der Ausländer einen zwingenden Ausweisungsgrund (§ 54) oder einen Regelausweisungsgrund mit terroristischem bzw. extremistischem Hintergrund (§ 54 Nr. 5, 5a, 5b und 7) erfüllt. In Zukunft sollen sie bereits vorliegen, wenn ein besonders schwerwiegendes Ausweisungsinteresse besteht oder wenn der Ausländer mehrfach oder wiederholt schwere öffentliche Ausweisungsinteressen begründet hat (§ 55 Abs. 1 S. 2, 3 AufenthG-E).
Im Vergleich zu jetzt wird dies Folgendes bedeuten: Fast alle jetzigen Regelausweisungsgründe – in der Praxis insbesondere Verurteilungen zu einer Freiheitsstrafe – stellen in Zukunft bereits schwerwiegende Gründe der öffentlichen Sicherheit und Ordnung dar, die besonders schützenswerte private Belange in der Regel „übertrumpfen“. Bislang sind dies nur die Regelausweisungsgründe mit terroristischem bzw. extremistischem Bezug. Auf diese Weise wird eine (widerlegliche) gesetzliche Vermutung für das Überwiegen des Ausweisungsinteresses im Falle fast aller jetzigen Regelausweisungsgründe aufgestellt. Dadurch wird doch wieder eine Art Regelausweisung – die ja eigentlich abgeschafft werden soll – etabliert.
Die Berücksichtigung der privaten Interessen wird noch auf andere Weise abgeschwächt: Die privaten Interessen sollen gem. § 55 Abs. 3 AufenthG-E weniger schwer wiegen, wenn enge persönliche, wirtschaftliche oder sonstige Beziehungen des Ausländers an seinen Heimatstaat bestehen sowie die Möglichkeiten der Eingliederung in die dortigen Lebensverhältnisse gegeben sind. Für die Entwurfsverfasser geht Migration im Idealfall offenbar mit der Trennung aller Verbindungen zum Heimatland einher. Die Integration einer Person in Deutschland kann aber nicht daran gemessen werden, wie desintegriert sie in dem Land ist, dessen Pass sie besitzt. Auch ein faktischer Inländer spricht möglicherweise die Sprache seines „Heimat“landes und unterhält Geschäftsbeziehungen dorthin.
Durch diese zwei Mechanismen gibt der Entwurf vor, dass sich die Gewichte bei der Verhältnismäßigkeitsprüfung in vielen Fällen zulasten des Ausländers verschieben – noch bevor die Ausländerbehörde in die eigentliche Abwägung eingestiegen ist.
Menschenrechtliche Irritation
Das geplante Ausweisungssystem verspricht eine Verhältnismäßigkeitsprüfung, bei genauerer Betrachtung wird deren Ergebnis jedoch durch das Gesetz in vielen Fällen bereits vorgezeichnet. Auch ist an vielen Stellen eine Verschärfung gegenüber dem jetzigen – praktizierten – Recht zu erkennen. Die Begründung des Entwurfs gibt als Ziel der Reform auch die Erleichterung von Ausweisungen an (S. 41) und geht davon aus, dass es zu einem Anstieg der Anzahl der Ausweisungen kommen könnte (S. 6) – was angesichts des menschenrechtlichen Hintergrunds des Erfordernisses der Reform leichte Irritationen zurücklässt.