Zwei der beherrschenden Themen dieses Sommers waren einerseits die anhaltende Hitze und Trockenheit einschließlich großflächiger Waldbrände und andererseits die Kritik an einem unzureichenden Polizeiaufgebot anlässlich ausländerfeindlicher Ausschreitungen in Chemnitz. Die traurige Klammer zwischen diesen Themen bildet die Tatsache, dass in NRW Polizist*innen aus dem gesamten Bundesgebiet zusammengezogen werden um die anstehende Rodung eines alten Mischwalds zugunsten des Braunkohletagebaus durchzusetzen. Das Geschehen im Hambacher Forst beschäftigt auch die Verwaltungsgerichte. Nicht zuletzt geht es dabei darum, welcher Raum Protest gegeben wird. Juristisch ist dieses Thema gerahmt in Form der Frage nach dem Schutzbereich der in Art. 8 GG gewährleisteten Versammlungsfreiheit.
Am Freitag, den 14. September 2018, hat es das OVG Münster abgelehnt, die Räumung eines Baumhauses im Hambacher Forst vorläufig zu untersagen. Damit bestätigt es die Entscheidung des VG Köln. Bei der folgenorientierten Interessenabwägung hat sich der Senat nicht mehr primär auf die von der Polizei angeführten Brandschutzerwägungen konzentriert. Stattdessen stellt das OVG die Frage nach dem Schutzbereich des Art. 8 GG in das Zentrum seiner Überlegungen. Der Senat lehnt die Eröffnung des Schutzbereichs ab mit der Begründung, es handle sich jedenfalls nicht um eine friedliche Versammlung. Im Bereich des Hambacher Forsts sei es „zu einer Vielzahl auch schwerer Straftaten […] gekommen“. Dabei stützt sich das Gericht in seiner Entscheidungsbegründung auf Berichte von Spiegel Online, der Aachener Zeitung, der Aachener Nachrichten und der Westdeutschen Zeitung.
Mit seiner Ablehnung des Schutzbereichs des Art. 8 GG befindet sich das OVG Münster im Einklang mit einer zuvor bezüglich des aus Zelten bestehenden Protestcamps am Rande des Forsts ergangenen Entscheidung des VG Aachen, die wiederum durch das OVG Münster und das Bundesverwaltungsgericht bestätigt wurde. Dabei stützten sich die Gerichte auf zwei Gründe: Erstens sei die Infrastruktur des Protestcamps in Form von Zelten und Ähnlichem nicht von der Versammlungsfreiheit gedeckt, „weil sie für die beabsichtigte kollektive Meinungskundgabe nicht funktional oder symbolisch notwendig waren“. Zweitens sei die Friedlichkeit zu verneinen, da zahlreiche Gewalt- und Straftaten im Umfeld des Protestcamps zu verzeichnen seien.
Diese Entscheidungen sollen im Folgenden einer kritischen verfassungsrechtlichen Überprüfung unterzogen werden. In Anlehnung an die thematischen Schwerpunkte, die in den zitierten Entscheidungen gesetzt wurden, werden dabei Fragen zu den Eigentumsverhältnissen am Hambacher Forst ebenso ausgeklammert wie Fragen nach der Rechtmäßigkeit eines Eingriffs in den Schutzbereich von Art. 8 GG.
Protestcamp als Versammlung
Die Besetzung des Hambacher Forsts ist eine örtliche Zusammenkunft mehrerer Personen zur gemeinschaftlichen, auf Teilhabe an der öffentlichen Meinungsbildung gerichteten Erörterung oder Kundgebung und damit eine Versammlung im Sinne des Art. 8 GG. Zuletzt stellte sich im Vorfeld des G-20 Gipfels die Frage, ob auch Infrastruktur, die als „Ersatz-Obdach“ dienen kann, durch Art. 8 GG geschützt ist. Das OVG Hamburg sah das Protestcamp als nicht von der Versammlungsfreiheit gedeckt an. Dabei stützte es sich darauf, dass innerhalb des als „gemischte Veranstaltung“ anzusehenden Camps die nicht von der Versammlungsfreiheit gedeckten Bestandteile überwiegen. Das wurde insbesondere damit begründet, dass einem Großteil der Camp-Infrastruktur keine funktionale oder symbolische Bedeutung für das Versammlungsthema zukomme. Das Bundesverfassungsgericht betonte im Anschluss, dass die Einrichtung von Protestcamps „schwierige und in der verfassungsrechtlichen Rechtsprechung ungeklärte Fragen“ aufwerfe und dass zumindest vorläufig das Protestcamp als Versammlung im Sinne des Art. 8 GG zu behandeln sei.
Viel stärker noch als in Hamburg wird im Hambacher Forst der Bezug zu dem Inhalt des Protests direkt durch die Anwesenheit vor Ort und insbesondere in den Bäumen ausgedrückt. Wenn also schon bei dem Camp in Hamburg die Camp-Infrastruktur nicht von vornherein als von Art. 8 GG ausgeschlossen angesehen werden konnte, so muss das erst recht für die Baumhäuser im Hambacher Forst gelten.
Friedliche Versammlung
Die Erwägungen des OVG Münster, wonach der Schutzbereich des Art. 8 GG mangels Friedlichkeit nicht eröffnet ist, sind nach zwei Gesichtspunkten zu beurteilen. Zum einen stellt sich die Frage, welche Schwelle die Gewalt insgesamt überschreiten muss um eine Versammlung insgesamt als unfriedlich zu charakterisieren. Zum anderen ist zu bestimmen, welche Vorgaben sich aus Art. 8 GG für die Beurteilung des Tatsachenmaterials ergeben.
Das Bundesverfassungsgericht hat in der Brokdorf-Entscheidung die Weichen gestellt für die Auslegung des Art. 8 GG. Danach bleibt der friedliche Charakter einer Versammlung auch dann erhalten, wenn mit Ausschreitungen durch einzelne Versammlungsteilnehmer*innen oder eine Minderheit zu rechnen ist. Nur wenn man davon ausgehen kann, dass die Versammlung im Ganzen einen unfriedlichen Verlauf annehmen wird oder dass die Veranstalter*innen einen unfriedlichen Verlauf anstreben oder billigen, kann die Versammlung vorbeugend untersagt werden. An die entsprechend anzustellende Gefahrenprognose sind hohe Anforderungen zu stellen. Es genügt etwa nicht, dass mit der Teilnahme einer nicht unerheblichen Zahl gewaltbereiter Personen zu rechnen ist, sofern sie nicht den Gesamtcharakter der Versammlung prägen. Das illustriert unter anderem ein Urteil des OVG Rheinland-Pfalz im Hinblick auf gewaltbereite „Autonome Nationalisten“.
Selbst einzelne Gewalttaten rund um den Hambacher Forst machen den Protest insgesamt nicht unfriedlich
Auf die Brokdorf-Entscheidung stützt sich auch das OVG Münster. Es spricht jedoch einiges dafür, dass sich aus dieser Entscheidung andere Schlüsse ziehen lassen als es das OVG getan hat. Die rund um den Hambacher Forst begangenen Straftaten müssten entsprechend der Grundsätze aus der Brokdorf-Entscheidung zu einer „kollektiven Unfriedlichkeit“ führen. Sie müssten also entweder so gehäuft aufgetreten sein, dass sie den Protest insgesamt prägen oder dass damit zu rechnen ist, dass der weitere Protest insgesamt durch Gewalt geprägt sein wird. Eine solche kollektive Unfriedlichkeit hat das Bundesverfassungsgericht zum Beispiel bejaht in einem Fall, in dem der gesamte aus 60 bis 70 Personen bestehende Demonstrationszug auf die Polizist*innen zugestürmt ist. Dagegen betonte das Bundesverfassungsgericht in einer Entscheidung aus dem Jahr 2015, dass „die zu erwartende Teilnahme einer erheblichen Zahl von Angehörigen der linksautonomen Szene“ kein tragfähiger Gesichtspunkt sei, auf den die Prognose des gewalttätigen Verlaufs einer Versammlung gestützt werden könne.
Es ist schwer nachzuvollziehen, wie das OVG zu der Annahme einer kollektiven Unfriedlichkeit gelangt. Obwohl das OVG sich in seiner Entscheidung auf Zeitungsartikel beruft, kann nicht ausgeschlossen werden, dass dem Gericht mehr oder andere Informationen vorliegen als der breiteren Öffentlichkeit. Gestützt auf die Informationen, die bisher der Öffentlichkeit zugänglich sind, ist zumindest die Unfriedlichkeit der Versammlung nicht so eindeutig gegeben, dass bereits im Eilrechtsschutz die Eröffnung des Schutzbereichs abgelehnt werden kann. Andere Medien, wie etwa der Deutschlandfunk, berichten gestützt auf Aussagen der Polizei, dass der ganz überwiegende Teil der Aktivist*innen ihren Protest durch passiven Widerstand zeige. Passiver Widerstand etwa in Form von Sitzblockaden fällt in den Schutzbereich von Art. 8 GG. Die Aktionskonsense der Gruppen Ende Gelände und Aktion Unterholz sprechen sich ausdrücklich für passiven Widerstand als Form des friedlichen Protests aus. Obwohl die explizite Ablehnung von Gewalt im Fall der Aktion Unterholz etwas weniger entschieden ausfällt als bei Ende Gelände, kann dies noch nicht so gewertet werden, dass die Veranstalter*innen insgesamt einen gewalttätigen Verlauf anstreben oder auch nur billigen.
Darüber hinaus gebietet Art. 8 GG eine grundrechtsfreundliche Sachverhaltsauslegung. Zum Beispiel ist ein Transparent, auf dem „Welcome to Danger Zone“ zu lesen ist, als ironischer Protest gegen die Kriminalisierung der Aktivist*innen zu werten, die durch die Erklärung des Hambacher Forsts zum „gefährlichen Ort“ im Sinne des § 12 PolG NRW erfolgt ist.
Insgesamt sprechen die genannten Gesichtspunkte dafür, den Protest im Hambacher Forst entgegen der Entscheidung des OVG Münster nicht als kollektiv unfriedlich einzustufen. Eine solche Einschätzung, die den Aktivist*innen nicht kollektiv ihr Recht auf Versammlungsfreiheit von vornherein versagt, hat auch rechtspolitisch den Vorteil, dass man den friedlichen Versammlungsteilnehmer*innen raten kann, sich weiterhin friedlich zu verhalten.
Zitiervorschlag: González Hauck, Versammlungsfreiheit im Hambacher Forst, JuWissBlog Nr. 80/2018 v. 25.9.2018, https://www.juwiss.de/80-2018/
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1 Kommentar. Hinterlasse eine Antwort
Kommentar *wer die macht hat, kann sich auch unrecht so zurechtbiegen, und es als recht verkaufen! alleine der begriff recht, ist mittlerweile soeine Definitions sache geworden!
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