von EMANUEL MATTI
Im Jahr 2014 wurden 72% aller Anträge auf internationalen Schutz in fünf Mitgliedstaaten der Europäischen Union gestellt. Daher will die Europäische Kommission das „Dublin-System“ evaluieren, um eine „fairere Verteilung“ zu erzielen. Hinsichtlich der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaates, der zur Prüfung eines Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist, kann de lege lata am Kriterienkatalog der Dublin III VO festgehalten oder de lege ferenda eine Quotenregelung geschaffen werden. Ungeachtet dessen stellt sich, mit Blick auf defizitäre Aufnahmebedingungen in einem Teil der Mitgliedstaaten, die Frage, ob hier die Steuerungskraft des Rechts an ihre Grenzen stößt.
Die Verteilungsquote in der (rechts-)politischen Diskussion
Eine Verteilungsquote forderte zuletzt die deutsche Bundeskanzlerin, der österreichische Bundeskanzler und auch die Europäische Kommission. Die aktuelle politische Diskussion zeigt die Brisanz migrationsrechtlicher Fragestellungen. Unter dem Titel Migration und Mobilität setze sich auch die Abteilung Öffentliches Recht des 19. Österreichischen Juristentages mit diesem Thema auseinander. Die Grundlage hierfür bot ein umfassendes Gutachten von Univ.-Prof. Dr. Magdalena Pöschl. Die Gutachterin skizziert darin mit großer Akribie die österreichische Geschichte des Migrationsrechts, zeichnet die vielfach komplexe und zuweilen verwirrende Rechtslage auf dem Gebiet des Fremden- und Asylrechts nach und stellt Instrumente und Perspektiven der Migrationssteuerung dar. Hinsichtlich des „Dublin-Systems“ stellt die Gutachterin fest, dass Binnenmigration von Schutzsuchenden innerhalb der Union dadurch verstärkt werde, dass Standards für Asylgewährung und Versorgung in den Mitgliedstaaten unterschiedlich seien. In den Zuständigkeitskriterien könne gar eine „Lotterie“ gesehen werden. Als vermeintlich zweckmäßigeres System schlägt auch die Gutachterin vor, Asylsuchende auf die Mitgliedstaaten nach ihrer Bevölkerungszahl, gegebenenfalls auch nach ihrem Steueraufkommen zu verteilen, weil dies der Solidarität besser entspräche als das gegenwärtige System.
Von defizitären Aufnahmebedingungen und fehlender unionaler Freizügigkeit
Eine Änderung des Dublin-Systems klingt in der Tat verlockend, um Schutzsuchende besser auf die Mitgliedstaaten – unter Berücksichtigung ihrer Leistungsfähigkeit – zu verteilen. Dies mag wünschenswert und sinnvoll sein, jedoch darf dabei nicht übersehen werden, dass sich Migrationsbewegungen von Schutzsuchenden innerhalb der Union kaum an Quoten halten werden. Die Union verfolgt in Art. 78 AEUV zwar eine gemeinsame Asylpolitik, in diesem Zusammenhang wurde ein gemeinsamer Status für Asyl- und subsidiär Schutzberechtigte geschaffen und es wurden Standards für Verfahren und Aufnahmebedingungen festgelegt. Das darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass innerhalb der Union die faktischen Aufnahmebedingungen für Asylsuchende während des Asylverfahrens unterschiedlich und in manchen Mitgliedstaaten äußerst prekär sind. Dabei sei beispielhaft auf mangelhafte Aufnahmebedingungen und Polizeiübergriffe in Bulgarien, unzureichende Aufnahme- und Haftbedingungen in Griechenland, ungenügende Unterbringung von vulnerablen Personen in Italien oder willkürliche Haft von Asylsuchenden bei unzureichendem Rechtsschutz in Ungarn verwiesen. Gleichermaßen bedingt ist die innerunionale Binnenmigration durch unterschiedliche faktische Chancen, die Personen, denen ein Schutzstatus zuerkannt wurde, in den einzelnen Mitgliedstaaten haben. Der Zugang von Anerkannten zu Beschäftigung, Bildung, Sozialhilfeleistungen, medizinischer Versorgung und Wohnraum (vgl Art. 26 ff. der Statusrichtlinie) bezieht sich lediglich auf die anerkennenden Mitgliedstaaten. Eine unionale Freizügigkeit wird jedoch verwehrt. Solange die Aufnahmebedingungen zwischen den Mitgliedstaaten und die faktischen Chancen von Anerkannten divergieren, werden Migrationsbewegungen innerhalb der Union trotz bzw. auch entgegen festgelegter Verteilungsquoten stattfinden. Daher braucht es mehr als eine Quotenregelung, um eine gerechte Verteilung unter den Mitgliedstaaten herbeizuführen und Binnenmigration von Schutzsuchenden innerhalb der Union zu minimieren bzw. dieser einen legalen Rahmen zu verschaffen. Ein gemeinsames europäisches Asylverfahren mit faktisch gleichwertigen Verfahrensgarantien und Aufnahmebedingungen und ein Schutzstatus mit der Gewährung unionaler Freizügigkeit sind aus diesem Grund Voraussetzungen für eine gerechte Zuständigkeitsregelung, zumal dadurch subjektive Rechte von Flüchtlingen besser umgesetzt und Binnenmigration während des Verfahrens minimiert werden würden. Von der politischen ist die rechtliche Komponente zu trennen. Letztere möchte ich näher beleuchten.
Konsequenzen aus Art. 78 AEUV und dem Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge
In Art. 78 AEUV wurden der Union Kompetenzen betreffend eine gemeinsame Politik im Bereich Asyl, subsidiärer Schutz und vorübergehender Schutz eingeräumt. Diese der Union übertragenen Kompetenzen unterliegen gem Art. 78 Abs. 1 AEUV einem dreifachen Völkerrechtsvorbehalt. Die Politik muss mit dem Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge von 1951 (189 UNTS 137), dem gleichnamigen Protokoll von 1967 (606 UNTS 267) und den „anderen einschlägigen Verträgen“ im Einklang stehen. Dies determiniert sämtliche Maßnahmen, zu denen die Union durch Art. 78 Abs. 2 AEUV ermächtigt ist. Daher sind die Bestimmung des Art. 78 AEUV als auch die aufgrund dieser Ermächtigung erlassenen Sekundärrechtsakte völkerrechtlich bestimmt und zwingend anhand des Völkervertragsrechts auszulegen. Völkerrechtswidriges Sekundärrecht erweist sich diesbezüglich auch als primärrechtswidrig.
Anzumerken ist, dass alle Mitgliedstaaten der Union bereits vor der Gründung der Gemeinschaften, bzw. vor ihrem Beitritt, Vertragsparteien des Abkommens über die Rechtstellung der Flüchtlinge waren. Dieses Abkommen ist sohin als Altvertrag iSd Art. 351 AEUV einzuordnen. Das ist deshalb von Bedeutung, weil die Mitgliedstaaten im übertragenen Kompetenzbereich nicht mehr zur Setzung innerstaatlicher und völkerrechtlicher Akte zuständig sind. Die Union selbst ist nicht Mitglied des Abkommens. Sie hat den Mitgliedstaaten aber dennoch die Erfüllung ihrer völkerrechtlichen Verpflichtungen zu ermöglichen, weshalb in Fällen, in denen die Einhaltung völkerrechtlicher Verpflichtungen der Mitgliedstaaten Maßnahmen im übertragenen Kompetenzbereich erfordert, nur ein gemeinsames Vorgehen von EU und Mitgliedstaaten übrig bleibt. Hinsichtlich jenes Kompetenzbereiches, in dem der Altvertrag geschlossen wurde, ist insofern Funktionsnachfolge eingetreten, als der Union durch Art 78 AEUV Kompetenzen übertragen wurden. Der übertragene Kompetenzbereich ist in Art. 78 Abs. 2 AEUV abgesteckt und umfasst, wie der EuGH in der Rs Mohammad Ferooz Qurbani gezeigt hat, nicht das gesamte Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge. Eine Abgrenzung der Kompetenzen zwischen Union und Mitgliedstaaten ergibt sich aus Art. 78 Abs. 2 AEUV, wobei diese Bestimmung, im Hinblick auf gegenständliche Fragen, auslegungsbedürftig ist:
- Die vom Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge in Art. 21 ff. geforderte Gleichbehandlung von anerkannten Flüchtlingen mit Staatsangehörigen auf dem Gebiet des Wohnungswesen, der öffentlichen Erziehung, der öffentlichen Fürsorge, dem Arbeitsrecht und der sozialen Sicherheit bezieht sich in Art 26 ff. der Statusrichtlinie lediglich auf die nationale Staatsbürgerschaft und nicht auf die – gem Art. 20 Abs. 1 AEUV hinzutretende – Unionsbürgerschaft. Art. 78 Abs. 2 lit. a AEUV hindert den Sekundärrechtsgeber jedoch nicht daran, die an den Asylstatus anknüpfenden Rechte an Unionsbürgerrechte anzugleichen und die Arbeitnehmerfreizügigkeit, die Niederlassungsfreiheit und den freien Dienstleistungsverkehr für anerkannte Flüchtlinge zu öffnen. Dies scheint im Hinblick auf den Völkerrechtsvorbehalt des Art. 78 Abs. 1 AEUV iVm Art. 21 ff. des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge und die in Art 20 AEUV statuierte Unionsbürgerschaft auch geboten.
- Die Ermächtigung der Union zur Erlassung von Sekundärrechtsakten über die Aufnahmebedingungen von Schutzsuchenden ergibt sich aus Art 78 Abs 2 lit. f AEUV. Adäquate Aufnahmebedingungen von schutzsuchenden Antragstellern gebietet – wie der EuGH in der Rs GISTI festgestellt hat – schon die in Art. 1 GRCh statuierte Würde des Menschen. Das Gebot, die Menschenwürde zu achten und zu schützen, sollte angesichts der oben dargelegten mangelhaften Aufnahmebedingungen in mehreren Mitgliedstaaten die dringendste Agenda der Union und ihrer Mitgliedstaaten sein.
- Die Einführung einer Verteilungsquote findet unter der Ermächtigung zur Festlegung von Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaates, der für die Prüfung eines Antrages auf internationalen Schutz zuständig ist, nämlich des Art. 78 Abs. 2 lit. e AEUV, Deckung. Die Steuerungskraft von derartigen Kriterien und Verfahren scheint angesichts divergierender Aufnahmebedingungen und unterschiedlicher faktischer Chancen nach Zuerkennung eines Schutzstatus in den jeweiligen Mitgliedstaaten nur bedingt gegeben. Ohne Umsetzung der beiden erstgenannten Punkte wird Binnenmigration von Schutzsuchenden ungeachtet festgelegter Quoten stattfinden. Mitgliedstaaten mit höheren Aufnahmestandards werden wie bisher eine höhere Zahl an Asylverfahren zu führen haben.
Letztlich liegt es an der Union und ihren Mitgliedstaaten, den Herausforderungen zu begegnen, die mit Flüchtlingsströmen einhergehen. Eine Aufrechterhaltung des Status quo ist, im Hinblick auf die vielfach prekären Aufnahmebedingungen, weder für die Mitgliedstaaten, noch für die Union – die sich Menschenwürde und Menschenrecht als Grundwert zugeschrieben hat – und schon gar nicht für betroffene Schutzsuchende zu ertragen.